Samstag, 3. Oktober 2020

Brief zur deutschen Einheit

 Vermutlich ist es ein Erbe meiner Mutter: Ich bin ein Nachrichtenjunkie, war immer ein Nachrichtenjunkie und werde es wohl bleiben.

Bei wichtigen Ereignissen wie Wahltagen kann ich 24h an den Newssender kleben und kontinuierlich Informationen einsaugen.

Es gibt kaum etwas Politisches, das mich nicht interessiert.

Für besondere Ereignisse lege ich sogar Ordner an, welche die wichtigsten  Reaktionen und Analysen dokumentieren.

Es gibt Aktenordner zum „Historikerstreit“ um Ernst Nolte, zu den US- und Bundestagswahlen, zur Walser-Debatte 1998, zur antisemitischen FDP-Kurs unter Möllemann/Westerwelle, zum Bundesrats-Eklat am 22.03.2002 über das Zuwanderungsrechtsrecht, den Golfkriegen, „Bush at war“ und natürlich 9/11.

Eines der Weltgroßereignisse wie Mondlandung, Queen Elisabeth II-Krönung, Kennedy-Mord oder 9/11 war auch der 09.11.1989, als die Mauer sich öffnete.

Auch das ist einer der Tage, den niemand vergisst und sich erinnert wo und wie er davon erfuhr.

Außer mir.
Ich verstehe das a posteriori gar nicht richtig, aber der 09.11.89 ist an mir vorbei gerutscht. Meine erste intensive Erinnerung ist der 11.11.89, ein Samstag, an dem ich noch mal ins Labor in die Uni musste, annahm dort würde wenig los sein und sofort als ich aus der Haustür ging denn aus Ost-Berlin bekannte Zweitakter-Geruch in die Nase bekam. Ganz Hamburg war auf einmal voller Trabbis, die pausenlos hupten und auch hupend begrüßt wurde.

„Alles voll mit denen“, raunten wir uns desinteressiert im Labor zu.

Ich war damals regelmäßig durch die DDR gefahren, weil ich häufig in Berlin war. Die Teilung Deutschlands und der andere Staat war mir bewußt.

Aber das war eine Realität, die man nicht hinterfragte.

1987 hatte ich eine ausgedehnte Reise entlang der Donau unternommen; war in Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, kurz im Schwarzen Meer und flog schließlich über Istanbul zurück.

Ich bin heute sehr froh Budapest und Bukarest gesehen zu haben, als sie noch hinter dem „Eisernen Vorhang“ lagen und vor den großen Zerstörungen des Jugoslawienkrieges in den 1990ern in Belgrad umhergestreift zu sein.

Ich hielt das aber für eine Art morbides Privatvergnügen. Kein anderer in meinem Alter ohne familiäre Verbindungen reiste dahin. Niemand interessierte sich für diese Länder der stehengebliebenen Zeit.

Ich speicherte viele Erinnerungen ab. Die Schönheit Ungarns, den lockeren Gulasch-Kommunismus. Das Laissez-faire im abendlichen entspannten Belgrad, die bittere Armut und depressive Stimmung in Bukarest, der regelrechte Hass auf die UdSSR, die Wodka-schwangere Feierlaune der Russen an der Schwarzmeerküste. Alles erschien mir in Relation zu den westeuropäischen damaligen EG-Staaten so exotisch und geheimnisvoll; zumal mir nicht verborgen blieb aufgrund meines amerikanischen Passes offensichtlich beobachtet zu werden. Sicher hätte ich mich nicht öffentlich lautstark abfällig über die Regime geäußert.

Mit meinem US-Pass fühlte ich diese unangenehme latente Furcht aber viel stärker an den deutsch-deutschen Grenzübergängen. Alles war dort bedrückender; vermutlich weil die Exotik der Sprache entfiel.

Prägende Erinnerungen aus den wenigen Aufenthalten in der DDR habe ich nur wenige: Der Geruch; insbesondere im Winter, weil alle noch mit Kohle heizten.

Die speziellen DDR-Reinigungsmittel, die plumpen Propaganda-Plakate und das grau in grau.

Ich sollte es nicht laut sagen, aber ehrlich gesagt, wollte ich immer nur schnell durchfahren und zeigte lediglich Interesse an billigem Wodka und Zigaretten aus den Intershops. Westware, aber steuerfrei. Ja, die DDR hatte für viele in meiner Generation hauptsächlich eine Bedeutung als Butterfahrt.

Meine Informationen beschränkten sich auf das politische System, die SED-Staatsregierung, ostdeutsche Schriftsteller und Katharina Witt. Was die immerhin 17 Millionen Menschen dort den ganzen Tag machten, lag unerklärlicherweise außerhalb meines Interesses.

Ab dem November 1989 machten sehr schnell despektierliche Witze über „die Ossis“ die Runde. Ich gebe zu, auch ich lachte herzlich darüber nachdem ich einige durchaus negative Erfahrungen gemacht hatte mit den ersten „Hoppla, jetzt komme ich“-Ossis, die plötzlich in Uni auftauchten und aggressiv auf eine Vorzugsbehandlung bestanden – die hätten schließlich 40 Jahre warten müssen.

Aber niemals hätte ich von einzelnen Menschen auf alle 17 Millionen geschlossen. Das war und ist absurd.

Abfällige humorvolle Bemerkungen über andere Landsmannschaften gab es immer. In meiner Jugend machte man vorwiegend Witze über Ostfriesen (dumm), Schotten (geizig), Schwaben (sparsam) und Bayern (dröge).

Politisch korrekt war das nie, aber erstens gab es den Begriff „political correctness“, zweitens nahm niemand die Witze so ernst, um tatsächlich jeden Ostfriesen für doof zu halten und drittens existieren in anderen Landesteilen genauso Witze über „Saupreißn“ und „Fischköppe“, zu denen ich mich zugehörig fühle und selbstverständlich genauso drüber lache.

Die deutsche Comedy-Szene wäre erledigt, wenn sie nicht mehr über die Saarländer (inzestuös) herziehen könnte.

Ab 1990 wurde die Landespolitik der neuen Bundesländer für mich genauso interessant wie die der alten BRD. Als Politjunkie ist ostdeutsche Parteipolitik genauso faszinierend wie bayerische oder NRW-Landespolitik.

Allerding ging mir schon sehr schnell, also Anfang der 1990er der Pathos auf die Nerven mit der die „Wiedervereinigung“ in der politischen Sphäre behandelt wurde.

Es war aber rechtliche lediglich ein Beitritt zum Geltungsbereich der alten BRD. Es war kulturell und historisch schon deswegen keine Wiedervereinigung, weil die parlamentarische Demokratie der BRD vor 1949 nicht gab und die Landesgrenzen anders waren.

Wer immer wieder mit Stolz und Pathos vom Glück der deutschen Einheit spricht, betont etwas, das also offensichtlich keine Selbstverständlichkeit ist.

Den Deutschen muss erklärt werden wie sie fühlen und wie glücklich sie sind. Von allein stellt sich der Patriotismus und Stolz auf die „friedliche Revolution“ eben nicht ein.

Das hat sich auch heute, am 30. Jahrestag der „Wiedervereinigung“ nicht geändert.

Natürlich sind alle meine Zeitungen voll mit seitenlangen Sonderberichten, endlose Essays der unter 30-Jährigen Ostdeutschen, schwülstige Aufsätze von Zeitzeugen und wie immer räumen die ausschließlich westdeutschen Großverlage großzügig ihre Zeitungsseiten frei, um ostdeutschen Politikern jeder Couleur das Wort zu geben.

Für mich, den Nachrichtenjunkie, der immer mehr zu lesen hat, als man schaffen kann, ist das ein seltener Glücksfall, weil das eins der wenigen Themen ist, die mich einfach nicht interessieren.

Das überblättere ich genauso schnell wie Bundesligaberichte oder Gebrauchtwagenanzeigen.

Etwas mehr als Desinteresse, nämlich echten Ärger, bringe ich für die Rufe nach den „einheitlichen Lebensverhältnissen“, respektive der Klage über „die Mauer in den Köpfen“, den Wunsch nach einem homogenen Deutschland auf.

Das ist ganz großer Blödsinn! Deutschland hat selbstverständlich keine überall gleichen Verhältnisse und ich behaupte, das wäre auch nicht wünschenswert.

Natürlich lebe ich in Hamburg anders als in Wuppertal oder gar in dem Vulkaneifel-Nest Weiler, das Andrea Nahles so liebt.

München ist nicht wie die Lüneburger Heide.

Die Immobilienpreise in Bremerhaven sind völlig anders als in Frankfurt.

Rheinische Frohnaturen und närrisches Treiben findet man nicht in Nordfriesland. Aber dennoch fahren ganze Karawanen Rheinländer Rentner im Sommer nach Cuxhaven in ihre Ferienwohnungen. Die Hamburger Großstadtpflanze begibt sich seit über hundert Jahren zum Strandurlaub nach St. Peter Ording, Hessen zieht es in ihre Ferienidylle auf dem Darß.

Umgekehrt profitieren die Großstädte vom stetigen Touristenstrom aus der Provinz.

Und Überraschung, wer in einem Dorf aufwächst und dort unglücklich ist, kann nach Köln in die Stadt ziehen, genau wie ein von Lärm und hohen Preisen geplagter Berliner sich auf einen Resthof in Niedersachsen zurückziehen mag.

Unterschiedliche Lebensverhältnisse, Idiome, Preise, Kulturen, Vorlieben sind Reichtum Deutschlands und sollen bestehen bleiben.

Der in linken Kreisen bestgehasste Klaus von Dohnanyi, 92, interpretiert die geringeren Löhne in ostdeutschen Landesteilen flugs zum Standortvorteil um und provoziert damit Zeter und Mordio bei Ostbeauftragten und Sozialpolitikern.
Aber natürlich hat er Recht.

Die Löhne können nicht überall gleich sein. Warum sollte dann überhaupt jemand in der Provinz produzieren?

In anderen Ländern versteht man die Unterschiedlichkeit der Regionen viel eher als Reichtum durch Heterogenität und käme nie auf die Idee die Dordogne den Pariser Verhältnissen anzupassen. Schottland ist anders als Wales und das Leben in einer Vorstadt in Alabama hat keine Gemeinsamkeiten mit dem von den Bewohnern Manhattans.

Mein Vater wurde vor dem zweiten Weltkrieg in einem nur wenige hundert Menschen zählenden Kaff in Pennsylvania geboren. Das war eine Art Paradies für coal miner, die es dort zu bescheidenem Wohlstand bringen konnten und nach vielen Generationen erstmal zu einem eigenen Haus brachten.

Saubere Luft, gesunde Lebensmittel, die Kinder spielten auf der Straße und niemand schloss die Haustür ab, weil jeder jeden kannte.

Aber meine Oma, die sehr jung Witwe wurde und daher dringend selbst einen Job brauchte um ihre Söhne durchzubringen, packte eines Tages ihre Gören ein und siedelte nach New York um.

Das war der größte Kulturschock, den man sich vorstellen kann. Aber er war bewußt gewählt. Dort gab es die besseren Jobs und die Kinder konnten ihren Neigungen entsprechend auf die besten Schulen gehen und studieren.

Dank der US-amerikanischen Heterogenität ist so etwas möglich. Die Binnenmigration ist legendär. Sind die Kinder einmal aus dem Haus, aber spätestens wenn die Rente ansteht, setzen sich viele Großstadt-Amis in 60+Siedlungen in den Sonnenstaaten ab.

Heterogenität gibt es auch in den Städten. Hamburg-Niendorf ist nicht wie Mümmelmannsberg.

München-Bogenhausen hat nichts mit Feldmoching-Hasenbergl zu tun.

Und ich liebe Parallelgesellschaften. Zum Glück gibt es sie. Mögen sie weiter blühen und gedeihen, so daß jeder seine Nische findet.

In einer Welt, die auch andere Lebensmodelle wirklich akzeptiert werden, sind Parallelgesellschaften kein Problem. Dort wird Multikulti zu einer echten Bereicherung.

(……) Der Hamburger Steindamm IST zwar eine Parallelgesellschaft, allerdings verstehe ich nicht, wieso Parallelgesellschaften jemand stören.

In den meisten anderen großen Städten in Westeuropa und Amerika ist es ganz normal. In New York gibt es das berühmte „Little Italy“ oder „Chinatown“ und sogar ein deutsches Viertel.

Also für mich geht das völlig OK.

Es gibt ja vielfach in Deutschland reine Schwulenviertel, hier ist es St. Georg, das Uni-Viertel (Rotherbaum, wo nur Studenten sind), das Alternativ-Viertel, wo die  Autonomen und Ökos abhängen (Schanze und Karolinenviertel), das Ibero-Viertel vor der Speicherstadt, wo es all die spanischen und portugiesischen Restaurants gibt, Villenviertel in Harvesterhude  und dann natürlich reine Rotlichtviertel (Reeperbahn!) etc.

Warum soll es kein Türken- oder Italiener-Viertel geben?

Das Eigenartige ist in Hamburg, daß St Gayorg – dazu gehört auch der Steindamm – ausgerechnet ein Kombi-Viertel für Schwule und Muslims ist.

Die haben alle Toleranz gelernt. Kurioserweise ist MITTEN in der schwulsten Gegend von St Georg überhaupt der katholische Mariendom, in dem unserer neuer Erzbischof Stefan Heße hockt.

Katholiken gibt es da so gut wie keine – nur Moslems und Homos.

Aber irgendwie haben die sich offensichtlich arrangiert. So gut sogar, daß die Gegend jetzt so gut funktioniert, daß die Mieten auch so explodieren, weil jeder dahin ziehen will. (…..)

(Privates Tagebuch, 11.02.2016)


Bayern möge nicht wie Hessen werden.

Unterfranken nicht wie München.

Möge Mecklenburg-Vorpommern all seine Unterschiede und Eigenheiten kultivieren und sich nie Hamburg anpassen. Mögen sich Kölner und Düsseldorfer weiterhin beharken.

Möge die „deutsche Einheit“ nie vollendet werden!