Donnerstag, 24. November 2016

Effektives Erziehen.



In einer Beziehung war ich immer ein Trendsetter; war meiner Zeit voraus.
Seit zehn Jahren beschimpfe ich die Wähler, wende mich gegen zusätzliche plebiszitäre Elemente und halte die Demokratie aufgrund des inkompetenten Souveräns für eine mangelhafte Staatsform. Ich bin nur Demokrat, weil mir nichts Besseres bekannt ist. Andere Staatsformen halte ich für noch schlechter.

Eine Demarchie würde die Demokratie quasi vor ihren verblödeten Wählern retten. Mich überzeugt das Konzept, aber die Chancen zu einer Umsetzung schätze ich sogar noch schlechter ein, als die für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Für’s Erste wird es also bei Wahlen bleiben. Wahlen, bei denen die Trumps, Le Pens, Höckes, Petrys, Gaulands, Wilders, Farages, Hofers und Erdogans triumphieren.
Das ist das Problem der Demokratie.

Man wählt Rajoy statt Zapatero, George W. Bush statt Gore, immer wieder Berlusconi und 16 Jahre Kohl.
Amerikanische Volksabstimmungen über Waffenrecht, Drogenkonsum und Homoehe waren in der Vergangenheit fast immer von Vorurteilen und nicht von Fakten beeinflusst.
Der Westen propagiert Demokratie, aber nur vor der Kamera.
Eigentlich hat man lieber eine schöne Diktatur mit einem verlässlichen Diktator/König/Papst/Führer, der alles im Griff hat.
So wie es vor der Arabellion war.
Oder Palästina. Jeder lobt Israel, als die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“.
Als die Palästinenser auch wählten, fand man das dann nicht mehr so toll.
Insbesondere nicht mehr, nachdem 2006 die Hamas die Wahl gewann; also die sunnitische Befreiungsorganisation Palästinas, die sich quasi als Tochter der Muslimbruderschaft gegründet hatte.
Ähnlich sah es in Ägypten aus, nachdem die Hamas-Mutter „Muslimbrüderschaft“ die Präsidentenwahl gewonnen hatte und ihr Mann Mursi das tat, was er versprochen hatte.
Das gefiel Merkel und Obama überhaupt nicht und sie begrüßten den höchst antidemokratischen Regierungsumsturz, der nichts anderes als ein Militärputsch war und nun zu einer Gewaltorgie geführt hat.

Deswegen ist der Westen übrigens so unbeliebt in Nordafrika und im Nahen Osten: Die Glaubwürdigkeit der Nato-Staaten, die von Demokratie und Frieden reden, aber dann die Diktatoren bevorzugen und die Gegend mit Waffenexporten überziehen, ist nicht mehr messbar.

Ja, ich war wirklich ein Trendsetter; nach dem Brexit und der Wahl Trumps outen sich immer mehr Menschen als Wählerverachter.

Die Wähler kollektiv als „dumm“ zu bezeichnen, ist so virulent geworden, daß insbesondere auf der linken Seite wütenden Gegenbewegungen entstehen.
So ginge das nicht; das vergrößere nur den Frust des kleinen Mannes gegenüber den Eliten und des Establishments.
So grabe man der Demokratie endgültig das Wasser ab. Man müsse die Sorgen und Ängste des Trump- und Brexit-Wählers ernstnehmen, den kleinen Mann abholen.

Dem derzeit größtvorstellbaren Schuss vor den Eliten-Bug - der Wahl von Außenseiterdarsteller Trump zum mächtigsten Mann der Welt - begegnen Mitglieder der Eliten weltweit auf interessante Weise. "Große Teile des Volkes sind dumm", ist die leider sinnverkürzende Überschrift eines Interviews mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Diese Feststellung scheint zugleich Teil der Problemanalyse und Teil des Problems zu sein. Und interessanterweise würden ebenso "große Teile des Volkes" dem gleichzeitig zustimmen und sich beleidigt fühlen. [……]

Ein Dilemma.
Tatsächlich dürfte es „die Abgehängten“, die Verschwörungstheorie-Affinen und AfD-Fans eher noch mehr von den halbwegs liberalen Parteien wegtreiben, wenn sie immer wieder als „dumm“ bezeichnet werden.
 Wer hört das schon gern?
Andererseits ist es natürlich dumm, wenn die Niedriglöhner und Arbeitslosen des US-Rustbelts eine elitäre Milliardärs-Familie, die in einem goldenen Turm wohnt, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichert und keine Steuern zahlt ins Weiße Haus schicken, statt die Kandidatin zu nehmen, die sich für einen höheren Mindestlohn und soziale Sicherung einsetzt.
Wenn man aber Dumme nicht als dumm, sondern als klug bezeichnet, belügt man sie.

„Die Wähler“ gibt es nicht, sondern viele individuelle Wähler, die vermutlich alle einen etwas anderen Zugang zur Politik haben.

Der eine schätzt es vielleicht, wenn zur Wahl stehende Kandidaten sich anbiedern und das erzählen, was man gern hört.
Der nächste möchte lieber schonungslose Analysen von einem, der offenbar viel weiser als man selbst ist.
Wieder ein anderer Wähler möchte einen Typ wie sich selbst ins Parlament schicken, einen „Mann aus dem Volk“ mit denselben Unzulänglichkeiten.
Der Vierte wünscht sich vielleicht Glamour à la Guttenberg, ohne sich für Inhalte zu interessieren.

Was also tun? Wie sollen sich Politiker verhalten, die tatsächlich Mehrheiten holen können?
In Berlin wird man derzeit mit 20% stärkste Partei. Da überzeugt also sogar der beste Kandidat 80% der Wähler nicht.

Es gibt meines Erachtens zwei Hauptgründe für diese Misere.

1.) Die durch Algorithmen generierte Lügenwelt, aus der sich immer mehr Menschen ihre eigene Realität herausdestillieren.
2.) Eine erstaunlich schlechte weltweite Spitzenkandidatenschar.

Die gegenwärtigen rechten Spitzenpolitiker sind ohnehin völlig indiskutabel. Donald Trump, Rodrigo Duterte, Recep Tayyip Erdoğan und viel besser sieht es in Europa auch nicht aus; Stichwort „Boris Johnson“.
Auf der sozialdemokratischen Seite gibt es aber auch keine Glanzlichter.
Ich blicke (noch) mit einer gewissen Hoffnung auf Christian Kern, aber mehr fällt mir schon nicht ein.
Gabriel? Hollande?

Wie sollen solche Typen große Wählermassen begeistern?

Beim Umgang mit „dem Wähler“ hilft aber eine Methode, die auch in der Kindererziehung die Effektivste ist: Vorleben.
Der kleine Kevin und die kleine Chantalle lernen nicht „bitte“ und „danke“ sagen, wenn die Mutter es von ihnen nur verlangt, aber selbst nicht tut.
Sie werden nicht höflich uns rücksichtsvoll, wenn die Eltern niemand ausreden lassen, dazwischen quatschen und fluchen.

Ich bin nur deswegen so ausgesprochen höflich und wohlerzogen, weil meine Mutter das auch war und ich es dementsprechend in meiner Kindheit vorgelebt bekam.

Übertragen auf den demokratischen Prozess bedeutet dies, daß Politiker persönlich integer sein sollten und darüber hinaus auch noch fähig sein müssen.
Es nützt nichts vom Volk Anstrengungen zu verlangen, wenn man anschließend dabei ertappt wird, bei Lobbyisten die Hand aufzuhalten.
Es nützt nichts sich der besten Konzepte zu brüsten, wenn man sie im politischen Alltag nicht umsetzen kann.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust hatte diese großen Pläne  - Jungfernstieg-Umgestaltung, Europapassage, Elbphilharmonie – und dachte, das werde irgendwie von allein was. Er müsse sich nur mit windigen Typen à la Ronald, der Pimmel, Schill umgeben und könne dann vier bis fünf Tage die Woche auf Sylt chillen.

Das bessere Rezept ist es nicht durch Glamour punkten zu wollen, auf alberne FILA-Inszenierungen in der Bunten (Beust Kurzzeit-Nachfolger Ahlhaus) zu verzichten, nicht alle zwei Stunden Tweets rauszuhauen, sondern gute Arbeit abzuliefern.
Olaf Scholz, der Mann, der nach zwei CDU-Bürgermeistern das Amt wieder für die SPD besetzte, tut genau das, was er versprach: Solide, zukunftsträchtige Arbeit.
Das ist in einer sich stark wandelnden Export-abhängigen 1,8-Millionenstadt, die im Jahr 50.000 Flüchtlinge unterbringen muß, keine Kleinigkeit.

„König Olaf“ ist unglamourös. Man sieht ihn nie in Talkshows, er kommt im Boulevard gar nicht vor, er provoziert nicht mit steilen Thesen, er hält sein Privatleben vollständig aus der Öffentlichkeit fern.
 Aber er kann seinen Job. Hamburg steht viel besser als andere Bundesländer da, konsequent bügelt er die Desaster aus, welche die Vorgängerregierungen angezettelt hatten. Es wird gebaut, investiert, verbessert.
Die demoskopischen Folgen sind für Deutschland im Jahr 2016 außerordentlich erstaunlich.

Würden die Hamburger am kommenden Sonntag zur Bürgerschaftswahl gerufen, so könnte die SPD ihren Stimmenanteil gegenüber der Wahl 2015 noch ausbauen. Auch der grüne Koalitionspartner würde zulegen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Universität Hamburg. Demnach käme die SPD auf 48 Prozent der Stimmen (Bürgerschaftswahl 2015: 45,6 Prozent) und würde nur knapp die absolute Mehrheit verfehlen. Die Grünen legen von 12,3 Prozent auf jetzt 16 Prozent zu. Einen Aufwärtstrend verzeichnet auch die oppositionelle CDU, die nun auf 18 Prozent käme (2015: 15,9 Prozent).
Verlierer sind laut der Umfrage dagegen die Linke, aber vor allem FDP und AfD. Die Linke würde mit jetzt 8 Prozent (2015: 8,5 Prozent) nur leicht absinken. Die FDP dagegen käme nur noch auf fünf Prozent (2015: 7,4 Prozent), und die AfD würde mit nur noch vier Prozent (2015: 6,1 Prozent) nicht mehr im Hamburger Landesparlament vertreten sein. [….]
(Hamburger Abendblatt, 24.11.16)

Absolute Mehrheit für die SPD, AfD auf unter 5% gedrückt; das ist wirklich außerordentlich bemerkenswert in einem Bundesland, welches zehn Jahre von der CDU und dem äußert populärem von Beust regiert wurde.

48% sind mehr als die CSU und Bayern hat.
48% sind mehr als doppelt so viel wie die SPD im Bund holen würde.

Das macht doch wieder ein bißchen Hoffnung für die Demokratie.
Mit guten Demokraten und fähigem Spitzenpersonal kann das auch im Zeitalter von Facebook und Pegida noch funktionieren.

Mit solchen Typen wie Stanislaw Tillich klappt das eher nicht.