Samstag, 29. Juni 2024

Wagenburgmentalität

Heute in meiner social Media Blase umher zu surfen, war kein Spaß.

Das dramatische Biden-Debakel von gestern schlug weltweit ein, wie eine Bombe. Schmerz und Panik machen sich im liberalen Lager breit; eine erneute Trump-Präsidentschaft und damit das mutmaßliche Ende der US-amerikanischen Demokratie ist wahrscheinlich.

Biden ist der falsche Kandidat, um den multikriminellen orangen Alptraum aufzuhalten. Soweit herrscht ziemliche Einigkeit bei den Demokraten.

Die Frage ist jetzt, ob man sich mehr schadet, Biden so kurz vor der Wahl, Hals über Kopf gegen einen vergleichsweise Unbekannten ohne Amtsbonus auszutauschen, oder ob es noch schädlicher wäre, aus Loyalität weiter zu Biden zu stehen, da sich an der Ausgangslage – er ist der 1000 mal bessere Präsident als Trump – nichts geändert hat.

Ich plädiere für Austausch.

Aber heute gewinne ich den Eindruck, damit in einer Minderheitenposition zu sein. Zumal Joe Biden nur einen halben Tag später bei einem Auftritt in North Carolina wie ausgewechselt wirkte – viel energetischer und stabiler.

[….] Joe Biden legte nach allgemeinem Urteil einen energischen Auftritt hin. Er war witzig. Er war selbstironisch. Er wirkte kämpferisch und zupackend. Seine Sätze hätten nicht besser formuliert sein können. Er sagte klipp und klar, worauf es ankommt bei dieser Wahl zwischen ihm und Donald Trump. So wie am Freitagnachmittag bei einer Wahlkampfveranstaltung in North Carolina hätte Biden beim TV-Duell von CNN auftreten sollen.

Es ist für seine weitere politische Karriere sicherlich nicht von Nachteil, dass der US-Präsident in North Carolina einen deutlich besseren Eindruck hinterließ als am Abend zuvor. „Ich weiß, ich bin kein junger Mann, um das Offensichtliche zu betonen“, sagte er. „Ich spreche nicht mehr so flüssig wie früher. Ich debattiere nicht mehr so gut wie früher. Aber ich weiß, was ich kann. Ich kann die Wahrheit erzählen.“ Applaus. „Ich kenne den Unterschied zwischen richtig und falsch.“ Großer Applaus. Auch wenn diese Passage vom Teleprompter abgelesen war, sie führte vor Augen, wie es auch hätte laufen können am Vorabend in Atlanta.  […..]

(Fabian Fellmann, 29.06.2024)

Der Freitags-Biden (vor einigen jubelnden eingefleischten Fans) ist so viel besser als der Donnerstags-Biden (vor einem weltweiten Publikum). Können wir die Debatte nicht einfach vergessen?

David Pakman gibt zu bedenken:

“So listen, now, as we are in the next day,  there is a bunch of this sort of like, okay, we may have overreacted last night. It wasn't that  bad. If you read a transcript of the debate with Biden's pauses and stumbles removed, Trump lied  the whole way through. Did not put out a vision that is positive or good for the average American,  whereas Biden on most of the facts was right and he has policy to defend. That is absolutely true. And also, Trump lied with confidence and Biden seemed confused. But obviously on  policy, it's Biden all the way. But right now, that's not the conversation that's being had.  If you look at the New York Times op ed page, there's a bunch of people who are saying it's time  for him to go take a look at this. [……] A single disastrous debate. And it was disastrous doesn't change that. Biden  has been a massively successful president. It doesn't change that Trump is a convicted felon, rapist, liar.”

Richtig. In einer perfekten Welt würden unvoreingenommene Wähler sich nur auf die politischen Inhalte konzentrieren und ob der suboptimalen Tagesform Bidens, in Ruhe das Transkript der Debatte nachlesen, die Aussagen beider Kandidaten nach Wahrheitsgehalt überprüfen und auf dieser Basis analysieren, wer den besseren Plan hat, Amerika in die Zukunft zu führen. Deshalb würde Joe Biden die Wahl mit einem Erdrutschsieg gewinnen, in beiden Kongresskammern eine zwei Drittel Mehrheit holen. Daß er selbst etwas klapperig und langsam ist, wäre irrelevant, weil er eine äußerst fähige 4.000-köpfige Führungsmannschaft um sich herum versammelt, die mit den entsprechenden Mehrheiten Washington aus dem Gridlock befreite.

Unglücklicherweise leben wir aber in einer höchst unperfekten Welt; es existieren fast gar keine Wahlberechtigten, die wie eben beschrieben handeln.

Stattdessen werden Wahlentscheidungen von Ignoranz, Stimmungen, Lügen, Apathie, Borniertheit, Narrativen, Gefühlen, dem Spin, Sympathien, Antipathien und sehr viel Einfluss der Superreichen und Lobbyisten bestimmt.

Daher wird eben nicht über Inhalte, sondern über den fürchterlichen Loser-Eindruck des Uralt-Bidens von vorgestern gesprochen.

Ich wünschte, es wäre anders. Aber in der realen Welt entwickelte sich Biden vom 2020er Retter zur schwersten Hypothek: Zum Trump-Enabler.

Deswegen ruht meine ganze Hoffnung nun auf Jill Biden, die ihrem Mann verklickert, er möge es nun mal gut sein lassen.

Pakmans noch erfolgreicherer Kollege Brian Tyler Cohen erklärt, nachvollziehbar, er wähle nicht einen Kandidaten aufgrund der Performance bei einer TV-Debatte, sondern er wähle Biden, weil er „abortion-rights, contraception and IVF and same-sex marriage and LGBTQ-rights, our efforts to combat climate change and fair maps and the voting right act and democary“ beschütze. Daran habe die Debatte rein gar nichts geändert. Wir kennten doch alle die beiden Kandidaten und den Ozean der Unterschiede zwischen ihnen. Das sei verdammt noch mal wichtiger, als 90 Minuten Debatte. Auch das ist zweifellos richtig. Natürlich denke ich genauso. Nichts könnte mich dazu bringen, für Trump, statt für Biden zu stimmen.

Aber ich befürchte sehr, daß all die sympathischen demokratischen Influencer, die sich heute die größte Mühe geben, Biden zu helfen  - und zwar aus dem ehrenhaften Grund Trump zu verhindern – nicht genügend über ihren Tellerrand hinaus blicken.

Ganz abgesehen von der Debatte, ganz abgesehen von allem, das Biden in den letzten dreieinhalb Jahren erreichte: Kein auch nur ansatzweise zurechnungsfähiger Mensch kann nach der Trump-Präsidentschaft 2017-2021 noch einmal für ihn stimmen. 74 Millionen Wähler taten es aber dennoch und die Hälfte derjenigen, die 2024 wählen werden, wollen das erneut tun.

Das zeigt völlig klar, daß wir es eben gerade nicht mit rationalen Abstimmenden zu tun haben, sondern mit der wirklich übelsten Sorte von Urnenpöbel, die sich noch nicht einmal Georg Schramm vorstellen konnte, als er den Begriff erfand.

Die Mehrheit der US-Amerikaner ist nicht durch rationale Argumente, durch Politik, durch Vernunft zu erreichen. Sie bekommt man, wenn überhaupt, nur durch Stimmungen eingefangen. Die Stimmung für Biden kann man allerdings nur als extrem schlecht bezeichnen. Der Mann ist ein Witz.

So sympathisch ich Barack Obama und Bill Clinton finde, ich befürchte, auch sie irren sich gewaltig und können nicht von ihrem eigenen Wissen, ihrem Anstand abstrahieren, wie geistig verkommen so viele ihrer Landsleute sind. Obama verhält sich edel und anständig, indem er nun seinen strauchelnden ehemaligen Vize, seinen Freund und amtierenden Präsidenten stützt.

[….] Nach seinem schwachen Auftritt beim TV-Duell gegen Donald Trump haben sich die ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama demonstrativ hinter Amtsinhaber Joe Biden gestellt. "Schlechte Debattenabende kommen vor", schrieb Obama auf X. "Vertraut mir, ich weiß es", fügte er hinzu. In der diesjährigen Präsidentschaftswahl gehe es jedoch um die Wahl zwischen einem Menschen, "der sei ganzes Leben lang für die einfachen Leute gekämpft" habe, und "einem, der nur an sich denkt".

Auch sei es eine Wahl zwischen einem Kandidaten, der die Wahrheit sage, und einem Lügner, schrieb Obama. "Der gestrige Abend hat dies nicht geändert, und das ist der Grund, warum im November so viel auf dem Spiel steht." Biden war während Obamas Amtszeit von 2009 bis 2017 Vizepräsident der USA. [….] Auch Ex-US-Präsident Clinton verband seine Unterstützung für Biden in einer ersten Reaktion mit einer Warnung vor Trump. "Ich überlasse die Bewertung der Debatte den Experten, aber dies ist, was ich weiß: Es kommt auf Fakten und Geschichte an", schrieb Clinton, der die USA von 1993 bis 2001 regierte, auf X. "Joe Biden hat uns drei Jahre solider Führung gegeben, uns nach der Pandemie stabilisiert, eine Rekordzahl an neuen Jobs geschaffen, echten Fortschritt bei der Lösung der Klimakrise gemacht und sich erfolgreich um die Abschwächung der Inflation bemüht", führte Clinton aus. Zugleich habe er das Land "aus dem Sumpf gezogen, den Donald Trump uns hinterlassen hat. Das ist es, was im November wirklich auf dem Spiel steht."    […..]

(ZEIT, 29.06.2024)

Ich befürchte, diese netten Ex-Präsidenten helfen nicht.

Wir brauchen nun brutale meuchelmörderische Obamas und Clinton, die Biden in den Rücken fallen.

Zum Wohle der Nation.