Sonntag, 9. September 2018

Hypothetische Historie und Gegenwart


Was ich vor zehn Jahren noch für Sorgen hatte:

(….) Vom Sinn kontrafaktischer Geschichte lautet einer der Buchtitel zu einem vollkommen sinnlosen Thema.
Auch der Kieler Historiker Michael Salewski schrieb schon zu dem virtuellen Thema. Michael Salewski (Hg.): Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Stuttgart 1999.
Der englische Begriff dafür heißt: Might-have-been-history.
Von dem Berliner Althistoriker Alexander Demandt erschien 1984 das Traktat Ungeschehene Geschichte, das zeigen soll, dass Überlegungen zu Un­geschehenem statthaft, begründbar und überdies unverzichtbar sind.
Ein Grund, um immer noch jeden Tag in die Schreibtischplatte zu beißen, ist nach wie vor der höchst umstrittene Wahlsieg George Bushs im Jahr 2000.
Wie viel besser könnte die Welt aussehen, wie viele Menschen könnten noch leben, wenn am 11.September 2001 statt diesem größtmöglichen Hohlkopf und Kriegstreiber der Friedensnobelpreisträger Al Gore amerikanischer Präsident gewesen wäre! (….)

Nah dran waren wir immerhin; Gore hatten 500.000 Wählerstimmen mehr als GWB und bekam trotzdem nichts.

Ich erinnere mich noch an ein Telefonat so um 2002 mit einem Freund meiner Eltern, der als Rentner in New Jersey lebte; Jerry. Ein belesener Mann, der tatsächlich anfing zu weinen, als er über #43 sprach: What is this man doing to our country? Er beglückwünschte meinen Vater, den er schon aus der Uni kannte, dazu in Europa zu leben und bedauerte schon zu alt dafür zu sein ebenfalls auszuwandern. Meine Mutter fand, er solle sich das genau überlegen und versprach ihm alle Hilfe in Hamburg bei der Wohnungssuche und Eingewöhnung.

Zu ihrem Glück waren alle drei im November 2016 bereits endgültig abgereist, so daß ihnen erspart blieb, was wir Zurückgebliebenen täglich mit #45 erleben.

Gestern nahm sich #44 seinen Nachfolger vor; Pence schäumt vor Wut.



A posteriori wirkt Barack Obama in der Tat wie eine Lichtgestalt. Wie ein geradezu übermächtiger Wort-Titan, wie eine Ikone der Anständigkeit.
Es braucht keine parteipolitische Brille, um #44 verglichen mit #45 als hochgebildetes Genie anzusehen.

Hätte ich das 2009, 2010, 2011 geahnt. Damals hielt ich Obama für schwach und übervorsichtig. Es war mir völlig unverständlich wieso er die in beiden Parlamentskammern vorhandene demokratische Mehrheit der ersten beiden Amtsjahre nicht konsequent nutzte und immer wieder auf die Republikaner zuging, Kompromisse suchte.
Er baute auf die Vernunft der GOPer, band sie möglichst in seine Entscheidungen ein, als ob er ihnen im Sinne der Einheit aller Amerikaner vermitteln wollte „guckt mal, so schlimm bin ich gar nicht, obwohl ich schwarz aussehe und als links gelte!“
Daß Republikaner Kompromissbereitschaft und Gesprächsangebote als Schwäche auslegen und ihn nur umso härter bekämpfen würden, verstand Obama erst richtig, als er im November 2010 bei den Midterms eine Megaklatsche erhielt, weil er die einst enthusiastischen und nun enttäuschten Wähler seiner Basis verloren hatte und nun den Kongress gegen sich hatte.

Richtig mutig wurde Obama erst im letzten Amtsjahr, als er nichts mehr zu verlieren hatte und seine präsidentielle Macht voll ausschöpfte.

Kontrafaktisch historisch betrachtet, wünsche ich mir, daß Obama die demokratischen Vorwahlen 2008 knapp gegen Hillary Clinton verloren hätte und sie Präsidentin geworden wäre.
Das hätte viele Vorteile gehabt.
Die amerikanische Misogynie ist nicht so tiefsitzend wie der Rassismus. Hillary hätte nicht ganz so viel Teebeutelwiderstand ausgelöst.
Außerdem verfügte sie übergenügend eigene Erfahrungen mit den Republikanern aus ihrer Arbeit am Gesundheitssystem und der Obstruktion Newt Gingrichs.
Die Clinton vom Januar 2009 war gewiss härter und skrupelloser als der Obama.
Sie hätte besser als er erkannt wie günstig die Gelegenheit für erhebliche Reformen nach dem GWB-Frust ist und die demokratische Mehrheit in House und Senat gnadenlos ausgenutzt.
Außerdem hätte sie Barack Obama als kommenden Partei-Star in ihrer Administration einbauen und Erfahrungen sammeln lassen können.
Die demokratische Partei wäre womöglich deutlich progressiver angesichts der mutigen Taten.
Vielleicht wäre das Feld für ihn 2016 besser bereitet gewesen, um als erfahrener Minister oder VP Präsident #45 zu werden, statt wie jetzt auf dem Altenteil zu hocken.

Was für ein elendes Drama hingegen die Realität abgibt. Nun sind nicht nur Clinton und Obama beide weg, sondern sie bekam auch noch einen besonders perfiden Arschtritt der Geschichte, indem sie wie Kollege Al Gore deutlich die meisten Stimmen holte. Sie gewann mit fast drei Millionen Stimmen Vorsprung vor Donald Trump. Drei Millionen Stimmen, die im amerikanischen Wahlsystem so viel wert sind wie ein trockener Furz in der hohlen Hand. Clinton ist Rentnerin, die Demokraten demoralisiert und überall regieren die GOPer mit absoluter Mehrheit.

Hypothetische Geschichte ist sinnlos. Kontrafaktische Gegenwart hingegen erfreut sich großer Beliebtheit in der Trump-Administration.

[…..] Kellyanne Conway about why the White House on Saturday had sent Spicer to the briefing podium for the first time to claim that "this was the largest audience to ever witness an inauguration, period."
"You're saying it's a falsehood. And they're giving -- Sean Spicer, our press secretary -- gave alternative facts," she said.
Todd responded: "Alternative facts aren't facts, they are falsehoods." [….]


Im September 2018, 20 Monate später, ist Trump immer noch geradezu besessen von seiner “crowd-size” und erzählt auch ausländischen Staatsgästen tagein, tagaus wie gewaltig sein Sieg war.
Als „Beweis“ hat er im Weißen Haus Crowd-Size-Bilder aufgehängt.
Die Realität, die nicht zu seinen Behauptungen passt, wurde passend gemacht.

[….] "Stick with us. Don't believe the crap you see from these people, the fake news. ... What you're seeing and what you're reading is not what's happening." [….]

Trump beklagte sich über „a lot of empty areas“ und ließ sie Inauguration-Bilder fälschen. Der frisch gebackene Präsident selbst rief am zweiten Amtstag den Direktor des National Park Service an, um die Bilder manipulieren zu lassen



[….] Ein vom Weißen Haus beauftragter Fotograf hat zugegeben, die offiziellen Bilder von der Zuschauermenge bei der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump bearbeitet zu haben. [….]

Was nicht passt, wird passend gemacht.
Trump muss immer den Größten haben und will stets umjubelt werden. Lügen und Wahnsinn pur – damit beschäftigt sich also der mächtigste Mann der Welt.

Bei seiner letzten Rally in Montana, als Trump wieder einmal im Jubel der Massen auftankte, gab es einen „Zwischenfall“ wie im Januar 2017. Genau hinter ihm, wo sonst stets begeisterte Männer mit Erektionen und Frauen beim Eisprung vor Glück applaudieren, stand ein junger Mann im Karo-Hemd, der weder einen MAGA-Hut trug, noch angemessen enthusiastisch seinen religiösen Führer feierte. Der sogar, wie entsetzte konservative Medien feststellten einen Democratic Socialists of America sticker trug! Warum ist so einer noch nicht im Arbeitslager?
Der „#Plaid shirt guy“ wunderte sich eher über Trump, schnitt erstaunte Grimassen.
Normale Amerikaner in der Nähe des #45, die nicht vor Glück jauchzen und jubilieren?
Das darf nicht sein in Trumps Welt und so wurde der Mann schnell aus der Sichtachse entfernt. Zwei neben ihm stehende Freunde, die immerhin MAGA-Kappen trugen, aber nicht begeistert genug applaudierten, wurden von Trumps Team ebenfalls während der Rede schnell rausgeschafft und durch freudig erregt klatschende junge Trump-Fangirls ersetzt.


[….] He’s a 17-year-old high school senior at Billings West High School. Though he identifies as a social democrat, he said he didn’t want to miss the chance to see a speech by the president of the United States. So he and some friends signed up to attend Mr. Trump’s rally on Thursday.
That morning, Mr. Linfesty said, he got an email saying that he had been selected for V.I.P. status, which meant that he would get to meet the president and have access to premier seating. He said that he did not apply for the status and that he believed he was chosen by chance.
[….] Mr. Linfesty said organizers instructed the crowd to clap and cheer, but he said he could not bring himself to applaud for things that he did not agree with. He said he did not know he was so visible until friends texted him in the middle of the speech.
“That was not me trying to protest,” Mr. Linfesty said. “That was just my honest reactions to the things that he was saying.”
[….] Finally, a woman slid into the aisle and whispered something to him. He walked off and she replaced him in the crowd: a new face, now smiling pleasantly in the background.
[….] Backstage, Mr. Linfesty said he was pulled aside while police officers and Secret Service officials checked his identification. After about 10 minutes, he said, “they respectfully told me to just leave and not come back.” [….]