In der CDU streiten die beiden alten Herren Merz und
Schäuble erbittert gegen ein demokratisches Wahlergebnis, mutmaßen
Verschwörungen, sowie technische Gemeinheiten als Ursache für die Wahl Kramp-Karrenbauers
zur Vorsitzenden.
AKK hatte am 07.12.2018 in Hamburg 517 von 999 Stimmen
bekommen. Wie auch immer ihre parteiinternen Gegner das drehen und wenden
wollen; die anderen Kandidaten hatten die gleiche Chance und unterlagen. Die
neue Chefin errang nicht nur eine relative, sondern auch die absolute Mehrheit.
Der Parteitag hatte gesprochen und nach der allgemeinen
Begeisterung über den Ausbruch der Demokratie in der CDU waren nun die
Verhältnisse geklärt.
Könnte man denken.
In Wahrheit konnten es die stockkonservativen Männer
natürlich nicht ertragen erneut einer Frau unterlegen zu sein und begannen
sofort Kramp-Karrenbauers Autorität zu untergraben.
Serienwahlverliere Merz hielt sich anschließend öffentlich
für so großartig, daß er ins Kabinett eintreten müsse
und sein Parteipate Schäuble brachte den Heuschrecken-Multimillionär als Kanzlerkandidat ins Gespräch – an AKK
vorbei.
Dabei war die Machtfrage eben erst entschieden worden.
Aber ein demokratisches Votum bedeutet in der heutigen „jeder
hat eine Meinung und muss sie sofort herausposaunen“-Welt nicht mehr viel.
Angebliche Demokraten erweisen sich immer mehr als schlechte
Verlierer. Abstimmungsergebnisse werden scheinbar nur noch akzeptiert, wenn man
sie gewonnen hat. Das ist aber keine Demokratie mehr, sondern Trumpismus.
Die Sozis können ein Lied davon singen.
100% der Delegiertenstimmen bekam der Seeheimer Martin
Schulz in Berlin am 19.03.2018 mit 605 von 605 Stimmen. Euphorie brach aus, man
wähnte die SPD schon mit einem Fuß im Kanzleramt. So unumstritten hatte in 150
Jahren noch kein SPD-Chef geherrscht.
Wie lange es anhielt wissen wir ja. Ein halbes Jahr später
schlug „der Martin“ mit blamablen 20,5% auf und war bald weg vom Fenster.
Die SPD musste wieder eine Entscheidung treffen;
diesmal eine so weitreichende, daß weder die Bundestagsabgeordneten, noch die
Parteitagsdelegierten genügend Rückgrat dafür hatten.
Statt also die Qualifizierten und dafür Bezahlten mit der
Groko-Entscheidung zu betrauen, wählte man den Weg der Diktatur der
Inkompetenz: Sollten doch die Mitglieder entscheiden, dann könnte anschließend
auch niemand den Schwarzen Peter haben, wenn es schief ginge.
[…..] Rund 463.000 Mitglieder waren zur Stimmabgabe aufgerufen, beteiligt
haben sich an dem Votum rund 378.000 Mitglieder. Das entspricht einer
Beteiligung von rund 78 Prozent. Für eine Neuauflage der Großen Koalition
stimmten 66,02 Prozent der Mitglieder. [….]
In diesem Fall gehörte ich ausnahmsweise zur
Zweidrittel-Mehrheit der Ja-Sager.
Ich mag die Groko und die Tatsache, daß damit Merkel und
Seehofer und Spahn in ihre Ämter kamen auch nicht.
Aber sie ist eindeutig das kleinste Übel nachdem Jamaika platzte. Anderenfalls gäbe es jetzt eine wie auch immer geartete schwarz-braune Zusammenarbeit ohne Sozi-Minister und ganz ohne all die Verbesserungen, die die SPD für ärmere Menschen erreichen konnte.
Aber sie ist eindeutig das kleinste Übel nachdem Jamaika platzte. Anderenfalls gäbe es jetzt eine wie auch immer geartete schwarz-braune Zusammenarbeit ohne Sozi-Minister und ganz ohne all die Verbesserungen, die die SPD für ärmere Menschen erreichen konnte.
66 Prozent sind eine klare Mehrheitsentscheidung, die
basisdemokratisch getroffen wurde.
Die Partei befriedet wurde aber keineswegs; im Gegenteil. In
der Social-Media-Welt drehen die Unterlegenen nur noch mehr auf. Statt den
demokratischen Prozess zu akzeptieren, arbeiteten sich SPD-Linke, Jusos und
sonstige Groko-Gegner nun erst Recht an ihrer Partei ab, überschütten die
Bundestagsfraktion bei jedem kleinen Fehler mit Häme, fallen der eigenen Koalition
in den Rücken und zeigen das Gegenteil von Solidarität.
Ende April 2018 gab es das nächste Partei-Votum. Diesmal musste
eine neue Parteivorsitzende der SPD bestimmt werden. Nahles dabakulierte, wie
immer. Ihre Gegenkandidatin Simone Lange blieb aber ebenfalls erschreckend unter
den Erwartungen und so landete die katholische Pfälzerin bei 414 von 631
Delegierten-Stimmen.
Wieder so ein eindeutiges Zweidrittel-Ergebnis, das für
jeden Demokraten bindend sein muss.
Da dieselbe Prozentzahl wie beim Mitgliedervotum über die
Groko auftauchte, verbreiteten Journalisten und Parteipolitiker sogleich den
Schluß, die Groko-Unterstützer hätten mit zusammengebissenen Zähnen für Nahles
gestimmt, die auch diesen Kurs vehement vertrat. Kühnerts No-Groko-Freunde
hätten sich hinter Frau Lange gesammelt, die aus der Groko ausscheiden wollte.
Das ist natürlich blanker Unsinn, wie schon die Tatsache
zeigt, daß Kevin Kühnert Andrea Nahles nach ihrer Wahl öffentlich und offensiv
unterstützte.
Bei mir zB war es in jeder Hinsicht entgegengesetzt. Ich
unterstütze die Groko, weil es um mehr als die Partei, nämlich alle Bürger
geht, weil ich einen Außenminister Maas statt Außenminister Spahn haben möchte
und einen seriösen Olaf Scholz lieber über die Finanzen wachen lasse statt
eines CSU-Windeis à la Seehofer.
Frau Nahles sieht das zufällig genauso, aber deswegen ist
die Position nicht falsch.
Innerparteilich geht es aber um eine Personalie und deswegen
lehne ich Nahles als Vorsitzende kategorisch ab; hätte sie niemals gewählt.
Die Frau ist meiner Ansicht nach eine katastrophale
Fehlbesetzung, die für einen erheblichen Teil des demoskopischen
Abstiegs verantwortlich ist. Würde sie nicht Fehlentscheidung an Fehlentscheidung
reihen und dabei diplomatisch wie ein Nashorn durch die Arena walzen, stünde
die SPD weit besser da.
Frech kann sich der bei der Basis unbeliebte Finanzminister
und Vizekanzler als Kanzlerkandidat ins Spiel bringen,
obwohl Nahles als Fraktions- UND Parteivorsitzende eigentlich das doppelte „erste
Zugriffsrecht“ hat.
Zugriffsrecht hätte.
Aber was kann sie schon dem ehemaligen Hamburger
Bürgermeister entgegensetzen, wenn sie abgesehen von allen Sympathiefragen so
offensichtlich unfähig, ungeeignet und intellektuell unterbelichtet ist? Daß
Scholz genügend Fleiß und Kompetenz mitbringt, um Kanzler zu sein, bezweifelt
niemand ernsthaft. Nahles‘ Ansehen in der Bevölkerung ist hingegen irgendwo
zwischen Fußpilz und Lothar Matthäus angesiedelt.
Ich stimme, erstaunlicherweise auch in dieser Hinsicht mit
der ganz großen Majorität des Urnenpöbels überein: Nahles kann es nicht.
Ich stelle aber nicht den demokratischen Prozess in Frage.
Nahles ist selbstverständlich die regulär gewählte
Vorsitzende. Ein große Mehrheit wollte es so und als Teil einer Partei kämpft
man vor der Wahl vehement für seine Position, verteidigt aber nach der Wahl die
Majoritätsentscheidung und schmollt nicht in der Ecke.
Man fällt nicht sofort den eigenen Leuten in den Rücken.
Wir lernen also wieder einmal, wie schwierig und fatal Mitgliedervoten
sind.
Göring-Kirchentag statt Habeck, Müller statt Saleh,
Scharping statt Schröder, Oettinger statt Schavan – die Kette der radikal falschen Mitgliederentscheidungen ist
lang.
Meistens ist die Basis verblödet und entscheidet
mehrheitlich für die Scheiß-Option. Siehe Recep
Tayyip Erdoğans Wahl mit 52% zum Präsidenten im
Juni 2018. Siehe Brexit. Nach dem Basisvotum der Engländer ist aber nicht nur
falsch entschieden, sondern das Land ist in dieser Frage nicht etwa geeint,
sondern mehr gegeneinander aufgehetzt denn je. Wie auch immer nun entscheiden wird,
eine Hälfte der Bevölkerung wird in Frust verfallen und sich zunehmend
destruktiv verhalten.
AfD, Linke, Grüne, SPD und FDP setzen alle auf mehr
plebiszitäre Elemente, weil das populär ist und man sich einen schlanken Fuß
macht. Nur CDU und CSU sind dagegen.
In diesem Fall – und es ist der einzige Fall an den ich mich
erinnern kann seit ich erwachsen bin – stimme ich der Union zu. Sie hat Recht,
alle anderen irren.
Die indirekte Demokratie – also mit hoher Wahlbeteiligung
Experten in einen Gremium zu wählen, die dort als VolksVERTRETER nach ihrem
eigenen Gewissen und unbeeinflusst entscheiden, ist zielführender.
Ebenso sollten Delegierte in Parteien entscheiden.
Nachdem aber die Büchse der Urwahl-Pandora offen ist, nutzt
nun jeder die Drohung mit Basis-Entscheidung, um demokratische Prozesse zu
unterminieren. Nichts anderes tun Merz und Schäuble, wenn sie AKK ausbooten
wollen, indem sie eine Urwahl des CDU-Kanzlerkandidaten vorschlagen.
[….] Die Basisabstimmung wird ins Feld geführt, um die Entscheidung
der Delegierten zu diskreditieren. Darin liegt die Hauptgefahr von
direkter Demokratie. Sie stärkt das politische System nicht, sie delegitimiert
es. Die »Zeit« fragte vor einigen Jahren in einem Plädoyer für Volksentscheide,
ob es sein könne, dass »unsere Parteiendemokratie eine Vorliebe für
die autoritäre Regelung wichtiger Fragen« habe. Entscheidungen eines
frei gewählten Parlaments werden auf diese Weise moralisch diskreditiert.
Dass die Bürger sich von der liberalen Demokratie abwenden, ist eine
reale Gefahr. Direkte Demokratie ist nicht die richtige Antwort. [….]
(Ralf Neukirch, Spiegel-Leitartikel, 05.01.2019)