Dienstag, 26. April 2022

Herbeireden

Die SPD verlor viele Wahlen, weil ihr oft der tumbe, realitätsverkennende Optimismus abging.

Bei der Kür neuer Vorsitzender oder Kanzlerkandidaten (bis Schulz) kam jeweils Optimismus auf, alle versprachen euphorisch, nun aber gemeinsam zu stehen und zu kämpfen. Dann geht eine Kleinigkeit schief, die Partei verfällt in einen Hühnerhaufenmodus, die Basis attackiert die eigene Führung und schon breitet sich wieder ein resigniertes „das wird wieder nichts“-Gefühl bei allen Genossen aus. CDU-Kanzlerkandidaten hingegen kennen den Gedanken, daß sie möglicherweise auch verlieren könnten, gar nicht.

2020 wurde etwas anderes probiert. Kühnert, Klingbeil und das Vorsitzenden-Duo stellten die innerparteilichen Auseinandersetzungen hintan, Scholz wurde sehr früh zum Kanzlerkandidaten erkoren und  erklärte fortan in jedem Interview und jeder Stellungnahme so glaubwürdig, er werde Bundeskanzler, daß man ihm langsam glaubte, das wirklich zu glauben. Er sei aber der einzige, lachten Deutschlands Politikexperten.

Natürlich würde er verlieren, war der Konsens und insofern wirkte Scholz, als agiere er in einer Parallelwelt. Ein SPD-Kanzler, sehr witzig. So ein Spinner, der Scholz.  Vermutlich war die SPD am meisten selbst überrascht, als Scholz tatsächlich Bundeskanzler wurde.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, daß dieser unerschütterliche Scholz-Glaube an sich selbst, tatsächlich einen großen Einfluss auf das Wahlergebnis hatte.

Wer auf eine Bühne oder vor Kameras tritt, weil er ein Lied vorsingt, als Sportler bei einem Wettbewerb antritt oder eben als Wahlkämpfer für sich selbst wirbt, muss eine Borderline-artige Fähigkeit haben, sich selbst ganz fabelhaft zu finden. Das kann auf die Massen möglicherweise so stark ausstrahlen, daß sie einem Nackten die tollsten neuen Kleider andichten.

Hader und Selbstzweifel sind nach meinem Geschmack viel sympathischere Charaktereigenschaften. Da mir plumper Optimismus und Selbstbegeisterung abgehen, werde ich garantiert nie irgendwo zum Chef, geschweige denn Regierungschef gewählt.

Wäre ich aber durch einen irren kosmischen Zufall am 24.02.2022 ukrainischer Präsident gewesen, hätte ich vermutlich öffentlich erklärt:

„Liebe Landsleute, nun werden wir also tatsächlich vom Riesenreich Russland angegriffen. Verdammter Putin, ich dachte bis zum Schluß, er würde nicht so weit gehen. Aber nun haben wir den Salat. Die Situation ist extrem ernst; da können wir keine pathetischen, faktenfreien Reden gebrauchen, sondern müssen uns der bitteren Realität stellen, die da lautet: Russland ist astronomisch überlegen, unsere Armee kann dem nichts entgegen halten. Wir werden allein stehen. Die NATO-Staaten werden nicht militärisch an unserer Seite stehen; also wird es böse ausgehen. Je erbitterter wir das Unvermeidliche durch letztendlich vergebliche Gegenwehr hinauszögern, desto mehr von uns werden sterben, desto mehr werden unsere Städte in die Steinzeit zurück gebombt. Also lasst uns keinen heroischen Unsinn anfangen und uns gleich ergeben. Ich verschwinde vermutlich bis zu irgendeinem dubiosen Schauprozess in einem Gulag; werde möglicherweise auch einen Kopf kürzer gemacht, aber das ist eben der Job des Präsidenten in so einer Lage. Es ist jetzt zu spät, sich darüber zu beschweren. Und besser, ein paar Regierungsoligarchen verlieren ihre Rübe, als daß Zehntausende Zivilisten sterben müssen.“

Vermutlich wären meine Einträge in den Geschichtsbüchern nach dieser Rede nicht sehr freundlich. Aber wen kümmert das, angesichts der vielen geretteten Menschenleben?

Vielleicht hätten sich auch nicht alle meinem Kapitulationsratschlag angeschlossen, aber einzelnen Widerständlern wäre vermutlich bald die Unterstützung bei ihrer Guerilla-Taktik versagt worden. Welcher Nato-Staat würde schon in einem, von einer Atomsupermacht besetztem Land, den als „Terroristen“ bezeichneten Kämpfern, schwere Waffen liefern wollen?

Inzwischen hätte sich Putins Armee in der gesamten Ukraine festgesetzt. EU und NATO würden grollen und sich gleichzeitig enorm aufrüsten, damit ihnen nicht eines Tages das Gleiche passiert wie Kiew und seinem wenig beeindruckenden Präsidenten.

In der Realität ist Selenskyj zu einem weltweiten Helden geworden, bei dessen Anblick kalifornische Frauen ein feuchtes Höschen bekommen. Putin hat Abertausende Soldaten und ein Dutzend russischer Generäle verloren. Er ist frustriert, steckt fest, wird mit immer höherer Wahrscheinlichkeit seine Massenvernichtungswaffen einsetzen, immer schrillere Töne anschlagen.

„Russland darf nicht gewinnen“ lautet das allgemeine Mantra, das immer weniger absurd wirkt – gespeist auf ukrainischen Nationalismus und der überragenden Suggestionskraft des begnadeten Schauspielers Wolodymyr Selenskyj. Der Mann baut so effektiv Druck auf anderen Regierungen auf, daß die kleine Ukraine mittlerweile über mehr Panzer als Russland verfügt.

Die von Springer, Spiegel und CDUCSUFDP getriebene Berliner Regierung schickt nun Gepardpanzer nach Kiew und ich frage mich, wie lange eigentlich die österreichische Alpenarmee noch ihre Pandure behalten kann.

Die selbst herbeigeschriebene deutsche Aufrüstung der Ukraine begeistert die Presse so sehr, daß sie mit grimmiger Genugtuung verkündet, die US-amerikanischen Top-Minister Blinken und Austin glaubten nach ihrem Besuch in der Ukraine und Deutschland an den Sieg Kiews.  Selenskyjs Selbstgewissheit redet hier also vielleicht wirklich das vor zwei Monaten für unmöglich Gehaltene herbei; einen ukrainischen Sieg über Russland.

Muss man also nur wollen?

Als ob Blinken und Austin irgendetwas anderes sagen könnten. Hätten sie nach ihrem spektakulären Besuch in Kiew etwas sagen sollen, „OK, wir liefern euch zwar für Milliarden Dollar schweres Kriegsgerät, aber das ist doch alles sinnlos, weil ihr ohnehin verliert!“ ?

Russland ist, egal wie unsympathisch Putin jetzt erscheint, aber dennoch eine globale Supermacht und fängt offenbar gerade erst an, richtig fies zu werden.

[…] Jetzt stoppt Russland seine Gas-Lieferungen nach Polen und Bulgarien. Der Energie-Stopp soll bereits ab Mittwoch (27. April 2022) gelten. Sowohl das polnische Erdgasunternehmen PGNiG als auch das bulgarische Unternehmen Bulgarga seien schriftlich über die „Aussetzung“ informiert worden, heißt es. Der russische Staatskonzern Gazprom bestätigte den Stopp bisher nicht. [….]

(FR, 26.04.2022)

Die Freunde der militärischen Involvierung und der Eskalation könnten schneller als erwartet merken, wie die Wirtschaft ohne Russlands Energie abstürzt.

Putins Außenminister Lawrow malt schon einmal vorsorglich den dritten Weltkrieg an die Wand.

[….] Russlands Außenminister Lawrow hat vor der "realen Gefahr" eines Weltkriegs gewarnt. Die NATO führe in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland - dies rechtfertige Angriffe auf Waffenlieferungen.  Russland betrachtet Waffenlieferungen der NATO an die Ukraine als berechtigte Angriffsziele für sein Land. "Natürlich werden diese Waffen ein legitimes Ziel für die russischen Streitkräfte sein", sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow in einem Interview im russischen Fernsehen, das das Außenministerium auf seinem Telegram-Kanal teilte. Lager, auch in der Westukraine, seien bereits mehr als einmal zu solchen Zielen geworden.  "Wie könnte es anders sein", sagte Lawrow weiter. "Wenn die NATO über einen Stellvertreter de facto in einen Krieg mit Russland tritt und diesen Stellvertreter bewaffnet, dann tut man im Krieg, was man im Krieg tun muss." [….]

(Tagesschau, 26.04.2022)

Aus Lawrows Sicht, wäre demnach also der Westen Schuld an unser aller Atomtod. Eine sehr dreiste Verdrehung der Tatsachen.

Aber ein Quäntchen Wahrheit bleibt natürlich – hätte die Ukraine sich ergeben und hätte die westliche Staatengemeinschaft nicht mit Sanktionen und Waffenlieferungen reagiert, würde auch die gegenwärtige Eskalation ausbleiben.

Selenskyj und Klitschko werden für ihre im Westen unmodern gewordenen Eigenschaften (Tapferkeit, Maskulinität, Härte, Entschlossenheit) über die Maßen bewundert.

Aber ob das letztendlich weiterhilft?
Die gegenwärtige Weltkriegsgefahr steigt. Es eskaliert.

Schon werden Großbritannien militärische Vergeltungsschläge angedroht.

[…] Die Regierung in Moskau hat Großbritannien davor gewarnt, die Ukraine zu Angriffen auf russischem Territorium zu ermutigen. Das russische Verteidigungsministerium bezog sich auf Äußerungen des Staatssekretärs im britischen Verteidigungsministerium James Heappey in der BBC. Der Politiker bezeichnete Angriffe der Ukraine auf Nachschublinien innerhalb Russlands als legitim. Kommt es zu solchen Eingriffen, werde dies umgehend zu »einer verhältnismäßigen Antwort« führen, erklärte das russische Verteidigungsministerium. […]

(SPON, 26.04.2022)

Es wird laut über den Angriff auf die nächste (international allerdings nicht anerkannte) Nation, Transnistrien, gesprochen. Anschließend wäre die Moldaurepublik dran.

[…] In Moldau wächst die Sorge davor, in den Ukraine-Krieg hineingezogen zu werden. Aus der abtrünnigen Region Transnistrien werden angebliche Anschläge gemeldet – ein Vorwand für russische Interventionen?  Nach mehreren Explosionen in der prorussischen Separatistenregion Transnistrien hat die moldauische Zentralregierung die Bevölkerung zur Ruhe aufgerufen. "Wir appellieren an die Bürger, Ruhe zu bewahren und sich sicher zu fühlen", sagte Präsidentin Maia Sandu am Dienstag nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats. Moldau liegt an der Grenze zur Ukraine. Die Explosionen verstärkten die Furcht vor einem Überschwappen des Ukraine-Kriegs auf das Land. [….]

(T-online.de, 26.04.2022)

Man muss Lawrow nicht glauben und ihn schon gar nicht mögen, aber ich denke, seine Warnung vor einem dritten Weltkrieg, ist viel weniger abwegig, als es einige im Moment noch denken, die so gern Waffen liefern.