Dienstag, 16. Januar 2018

Beeinflussung



Erstaunlich viele Menschen sind sich ihres Geschmacks extrem unsicher.
Sie wissen eigentlich gar nicht genau was ihnen gefällt und sind zudem nicht selbstbewußt genug unabhängig von anderen ihren Vorlieben zu frönen.

Ich denke manchmal an eine Mitschülerin von mir, die in der 5. oder 6. Klasse nicht gerade beliebt war, weil sie eine Streberin war und sich bei den Lehrern einschleimte.
Zu allem Übel trug sie gern eigenartige bäuerliche Kleider und kam gelegentlich mit ihren holländischen Holzschuhen in den Unterricht.
Ein gefundenes Fressen für alle anderen, die sie dafür auslachten.
Kinder mögen keine Außenseiter und wenn diejenige sich dann auch noch so offensichtlich bekloppt anzieht, wird gemobbt, auch wenn zu meiner Zeit der Begriff „Mobbing“ noch nicht erfunden war und es nicht physisch gewalttätig zuging.
Ich mochte das Mädchen auch nicht besonders gern, aber immerhin beeindruckte es mich, daß es ihr offensichtlich egal war, daß die halbe Schule sie wegen ihrer holländischen Holzpantinen auslachte. Sie fand sie toll und trug sie trotzdem.
Das war rückblickend betrachtet eine reife Leistung, die viel Rückgrat von einer 11-Jährigen erforderte.
Vielleicht konnte ich es besser als andere erkennen, weil ich – rein zufällig – von meiner leicht verrückten Mutter beeinflusst ebenfalls ermutigt wurde gegen den Strom zu schwimmen.
Es war das Alter, in dem man kontinuierlich wächst, so daß man jeden Winter neue Stiefel und Winterjacken brauchte.
Ich erinnere mich noch an die gewaltige Auswahl von Moonboots, die es damals in den Kinderabteilungen des großen Schuhgeschäfts gab. Welche nehmen?
Die Silberblauen waren vielleicht ziemlich teuer, wurden aber auch vom Klassensprecher und dem sportlichen Jungen getragen. Argumente, die ein Kind überzeugen können.
Aber immer wieder machte die Verkäuferin bei den dicken wattierten Space-Jacken und Klumpschuhen den einen Kardinalfehler, wenn sie uns zur Entscheidung drängen wollte, indem sie sagte „die werden dieses Jahr besonders gern gekauft.“
Sofort rollte meine Mutter die Augen und erklärte „also kommen die für uns nicht in Frage.“ Sie wollte nicht, daß ihre Kinder haargenau wie alle anderen Kinder angezogen sind.
Ein bißchen Ermutigung gehört dazu, wenn ein Kind selbstständig werden und seine eigene Meinung entwickeln soll.
Zum Glück; und das betrachte ich a posteriori jeden Tag als größeres Glück; konnte ich meinen Kindermodengeschmack nur auf dem Schulhof abgleichen.
Da gab es zwar die coolen Jungs mit den schicken Markenklamotten, aber durchaus auch welche, die irgendwas Selbstgemachtes anzogen, oder gar abgelegte Jacken älterer Geschwister auftrugen.
Auf Fotos von damals sehe ich durchaus optische Individualität.
Als wir Teenager waren, spalteten wir uns modemäßig in eine breite Vielfalt auf. Popper, Goths, Mods, Teds, Gruftis, Unauffällige, Anzugträger, Punks, Edelpunks und alle möglichen Zwischentöne.*

Man konnte schließlich seiner eigenen Phantasie freien Lauf lassen. Die 80er waren angebrochen; im Chemie-Kurs arbeiteten die Popperin mit ihrem Lacoste-Shirt und Baracuda-Stiefeln einträchtig mit dem Mega-Irokesentyp in zerfetzten roten Karojeans und den Sicherheitsnadeln im Gesicht zusammen.

Nach den auf FB veröffentlichten aktuellen Abi-Bildern meiner ehemaligen Schule zu urteilen, ist die Zeit der Individualität endgültig vorbei. Die Klugtelefone, die jeder Schüler der heutigen Abi-Generation sein ganzen Leben bei sich trug, haben ganz offensichtlich zu einer völligen optischen Nivellierung geführt.
An der Schule gibt es jedes Jahr um die 120 Abiturienten und alle Mädchen tragen ausnahmslos die gleiche Frisur: Jennifer Aniston. Und alle Jungs bis auf zwei tragen Anzug und Krawatte. Und selbstverständlich tragen sie alle einen drei- bis sieben-Tage Bart. Kein einziger traut sich irgendeine andere (Bart)-Haartracht zu.
Klar, wenn man seine Kindheit mit Mode-Tutorials von sogenannten Influencern verbringt und sich buchstäblich mit allen Teenagern auf der Welt abgleicht, erhält man den perfekten Einheitsschüler.

Ein Phänomen, das ich inzwischen auch bei den Teilnehmern von Trash-Shows beobachtet habe, sofern in Tageszeitungen auf der „Buntes“-Seite abgebildet wird, wer bei „Love-Island“ oder „Bachelor“ mitmacht.
Alle Frauen blondiert, Extensions, aufgespritzte Lippen und mindestens zwei Pfund Silikon in jeder Brust.
Alle Männer braungebrannt, Muskeln, Tattoos, Uppercut, 7-Tage-Bart.

Ich kann nicht daran glauben, daß wirklich 100 von 100 Männern 7-Tage-Bart am Schönsten finden. Offensichtlich spielt Mode eine große Rolle. So wird es in den sozialen Medien suggeriert, so sehen alle Erfolgreichen jetzt aus.
Es traut sich einfach niemand mehr ein nacktes Kinn zu zeigen.

Die Menschen stehen nicht mehr zu ihren eigenen Vorlieben und/oder sie entwickeln sie gar nicht erst, weil ihnen sekündlich auf dem Klugtelefon präsentiert wird, wie man auszusehen hat.

Man folgt der Mode, weil viele der Mode folgen. Es wird Mode was die Masse möchte.
Geschmack wird durch die sozialen Medien zu einer Art Herdentrieb reduziert.

Einen in diese Richtung gehenden Effekt gibt es auch in der Parteipolitik durch die unablässig veröffentlichten Umfragen. Täglich bekommen wir eine Wasserstandsmeldung.
INSA sagt am 16.01.2018, die SPD läge nur noch bei 18,5% und schon greifen alle Journalisten (trotz der fragwürdigen Insa-Seriosität) den Spin auf, die SPD wäre nicht in Mode.

Der Spin, mit dem über Parteien berichtet wird, spielt eine große Rolle.
Hat sie FDP gute Zahlen, berichten auch die Journalisten mit positivem Unterton über Lindner.
So kommen die tatsächlich guten Wahlergebnisse in NRW und im Bund zustande.
Wähler wählen gerne die Partei, von der sie einen Sieg erwarten.
Die Partei, die in Mode ist und mutmaßlich zulegen wird.
Man will nicht zu der Loser-Truppe gehören.
Wahlforscher können messen wie sich unentschlossene Wähler noch im letzten Moment für die Partei entscheiden, die mit größter Wahrscheinlichkeit gewinnen wird.
Wahlkämpfer wissen dies und verbreiten daher nur zu gern für sie positive Umfragen, verschweigen die Schlechten.
Dabei könnte aus rational-taktischen Überlegungen auch gerade ein schlechter Umfragewert dazu führen diese Partei zu wählen.
Aber wer wählt schon rational? Bei der Bundestagswahl zählt Bauch und nicht Kopf.

Vor dem 24.09.2017  war eine Jamaika-Koalition extrem unpopulär, lag weit abgeschlagen hinter Groko und Schwarzgelb.
Als es wenige Tage später so aussah, als ob es nur zu Schwarzgelbgrün kommen könne und entsprechende Verhandlungen aufgenommen wurden, maßen Infratest-Dimap und Forschungsgruppe Wahlen einen enormen Boost. Plötzlich befürwortete auch eine Mehrheit der Bundesbürger Jamaika.
Klar, man nahm an, das werde kommen und wieder wollten alle zu den Gewinnern gehören.
Die GroKo war unten durch.
Es überraschte, als der eitle Lindner am 20.November 2017 Jamaika platzen ließ.
Der Urnenpöbel mußte neu eingegroovt werden. Im Dezember schien die Groko als einzig mögliche Alternative – und oh Wunder, am 15.12.2017 registrierte Infratest Dimap 61% Zustimmung aller Bundesbürger zur Groko und sogar 68% Zustimmung der SPD-Wähler zur Groko.


Es erfordert einige taktische Virtuosität, um auf den parteipolitischen Vorlieben der Bundesbürger zu surfen, weil diese so volatil sind.

Flankiert von seiner geistig verblüffend schlichten Kacke-Bätschi-Fresse-Generalsekretärin, die mit ihrem „BÄTSCHI DAS WIRD GANZ SCHÖN TEUER- BÄTSCHI“-Gebrabbel ihrer Partei suggeriert hatte, man können bei der Union nun so ziemlich alles rausholen, was man wünsche, haben sie es geschafft das Blatt in nur 14 Tagen zu wenden.

Nun mag nur noch eine Minderheit die Groko. 52% der Befragten finden die Groko schlecht oder weniger gut.

Die Genossen haben wieder den Trend verpasst, verrennen sich in eine Sache, die gerade extrem unmodisch geworden ist.
Keine gute Idee im Jahr 2018, wenn so wenige Menschen selbst denken.




Zwei Wochen später, am 16.01.2018 ist Schulz‘ Trotteligkeit und Führungsunfähigkeit voll durchgeschlagen.
Martin und Andrea haben sich nicht nur bei den Sondierungen übertölpeln lassen, sondern waren auch noch völlig unfähig für sich selbst und ihre Ziele zu werben.
Sie haben nun die demoskopische Arschkarte.

[….] Laut einer repräsentativen Umfrage sehen die Bundesbürger die Unionsparteien mit Blick auf die Sondierungsergebnisse klar im Vorteil: Die Hälfte der Wahlberechtigten (55 Prozent) ist der Ansicht, dass sich CDU (38 Prozent) und CSU (17 Prozent) bei den Sondierungen am meisten durchgesetzt haben, 15 Prozent sehen alles in allem die SPD im Vorteil. Die SPD-Anhänger selbst machen den Verhandlungserfolg ebenfalls eher auf  Seiten von CDU und CSU (53 Prozent) aus. Nur jeder fünfte SPD-Anhänger (19 Prozent) vertritt die Meinung, die eigene Partei habe sich in den Sondierungsgesprächen am stärksten durchgesetzt.
 Von den drei Verhandlungsführern bei den Sondierungsgesprächen - Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz - hinterlässt die CDU-Vorsitzende mit Abstand das beste Bild bei den Wahlberechtigten: Merkel wird von den Bundesbürgern jeweils mehrheitlich sowohl Führungsstärke (77 Prozent) als auch Glaubwürdigkeit attestiert (59 Prozent). Zugleich bestehen bei zwei Dritteln der Bundesbürger (67 Prozent) kaum Zweifel, dass die CDU-Vorsitzende ihre eigene Partei momentan hinter sich hat.
Die parteiinterne Kritik in Teilen der SPD an den Sondierungsergebnissen schlägt in der Wahrnehmung des SPD-Bundesvorsitzenden dagegen deutlich negativ zu Buche: Schulz gilt derzeit nur bei drei von zehn Wahlberechtigten (28 Prozent) als führungsstark. Bei lediglich einem Drittel (34 Prozent) besteht zudem der Eindruck, der SPD-Bundesvorsitzende habe seine Partei hinter sich. Glaubwürdigkeit bescheinigen ihm 41 Prozent der Bundesbürger, 52 Prozent dagegen nicht. [….]

Gute Nacht, Martin Schulz.
Nun ist nach 12 Jahren im Amt die Kanzlerin wieder in Mode.
Schulz ist out. Und wer will schon eine Partei wählen, deren Chef so offensichtlich out of fashion ist?
Erstaunliches Missmanagement von Schulz, denn in der Umfrage bescheinigt eine Mehrheit der Deutschen der SPD aus staatspolitischer Verantwortung zu handeln.
Der größte Brocken, also den Wählern den Weg vom kategorischen Nein zur Groko zum kategorischen Ja zur Groko zu erklären, ist aus dem Weg geräumt.
Eine Groko könnte also auch demoskopisch für die SPD funktionieren.
Wenn die Führung nur nicht so dämlich wäre.



*Ich fand Gruftis am Tollsten, färbte meine Haare erst bunt und dann blauschwarz, kaufte jede Menge Haarspray. Schminke und Schmuck hingegen lehnte ich ab. Das war vermutlich zu extrem für mich. Bei der Linie blieb ich und fühle mich heute als Deutschlands letzter Mann, der ohne Tattoo, ohne Piercing, ohne Ohrring, ohne Armband rumläuft.