Als Demokrat und US-Wähler musste ich mir in den letzten acht Jahren viel Gejammer über die Verhältnisse in Washington, die Kandidatenauswahl und das politische System anhören. Dabei trage ich daran weder Schuld, noch Verantwortung. Meinen US-Pass verdanke ich dem puren Zufall meiner Geburt in Deutschland, aber mit einem US-amerikanischen Vater. Wie bei jeder anderen Nationalität, gibt es keinen Anlass, auf etwas stolz zu sein, für das man genauso viel geleistet hat, wie für seine Blutgruppe: Nämlich gar nichts.
Der Zufall, als Kind eines US-amerikanischen Vaters geboren worden zu sein, reicht noch nicht einmal aus, um an den US-Präsidentschaftswahlen teilzunehmen.
Der Vater muss auch noch aus dem richtigen Bundesstaat stammen. Zu den vielen Irrsinnigkeiten des US-Wahlrechts gehört es nämlich, daß jeder Bundesstaat sein eigenes Süppchen kocht, wenn es darum geht, ob und wie im Ausland lebende Landleute, wie zum Beispiel Militärpersonal, wählen dürfen. 12 republikanische Redneckstaaten erlauben das gar nicht, weil Amis durch den Kontakt mit ausländischen Kulturen die notwendige Engstirnigkeit abhandenkommt und sie so Gefahr laufen, die Demokraten zu wählen.
[…..] If neither of your parents were U.S. citizens who had established residency and then moved from one of the 38 U.S. states, plus DC, that allow voting for their children born abroad, but rather, if they were resident in one of the 12 U.S. states or 4 U.S. territories that do not pass voting rights to children born abroad who never resided in the U.S., then unfortunately, you do not inherit voting rights. These states are: AL, AR, FL, ID, IN, LA, MD, MS, MO, PA, TX, and WY. The U.S. territories are AS, GU, PR and VI. […..]
Es ist ein interessantes Verfassungsverständnis. Da haben US-Bürger willkürlich mal das Wahlrecht, mal nicht. In meinem Fall gibt es familiäre Verbindungen nach Kalifornien, Ohio, Pennsylvania und New York. Ich lebte zuletzt als Kleinkind eine Zeit in New York; habe dort das Wahlrecht, weil der Staat letzter Wohnsitz meiner Eltern war. Dort zu wählen, hat allerdings keinerlei Relevanz. Wie auch Ca, ist NY ein sicherer blauer Staat. Es gehen also immer alle Wahlmännerstimmen an dieselbe Partei. So generierte Hillary Clinton im Jahr 2016 auch ihre 66 Millionen Stimmen – immerhin fast drei Millionen mehr Stimmen, als Trump.
Aber wertlose Stimmen. Präsident wurde der Gaga-Orang mit einer deutlichen Minderheit der absoluten Stimmen. Aber Trump hatte die wertvolleren Stimmen in den relevanteren Staaten.
Könnte ich es mir aussuchen, würde ich lieber meine Stimme über den Wohnsitz einer meiner Tanten oder Cousins in Ohio abgeben. Das sind Präsidentschaftswahl-entscheidende Stimmen. Der klassische Swingstate kann den Ausschlag geben. Aber Ohio lässt mich nicht zu, weil in dem Fall mein Verwandtschaftsgrad nicht ausreicht:
A U.S. citizen who has never resided in the U.S. and has a parent or legal guardian that was last domiciled in Ohio is eligible to vote in Ohio.
Zum Wählen wird man nicht etwa, wie in Deutschland, automatisch benachrichtigt, sondern muß sich alle zwei Jahre erneut registrieren lassen. Den Prozeß habe ich inzwischen zwei Dutzend mal durchlaufen und kann voller Stolz berichten, wie kurzweilig das ist, da permanent an den Wahlmodalitäten gefeilt wird.
Immer gibt es andere Regeln, andere Ansprechpartner, andere Formalitäten.
Je nachdem, wer gerade regiert, steht der Sinn mal danach, möglichst viele Amerikaner wählen zu lassen und mal danach, möglichst viele vom Wählen abzuhalten.
Seit den Präsidentschaftswahlen 2020 haben die GOP-regierten Bundesstaaten hunderte Gesetze erlassen, die Wähler ausschließen.
Die gute Nachricht für mich: In New York will mich niemand vom Wählen abhalten.
Die schlechte Nachricht für mich: Ob ich dort meine
Stimme abgebe, oder nicht, spielt keine Rolle für das Endergebnis.
Wenn ich nach der US-Wahl gefragt werde, hatte ich bisher die Möglichkeit, Anekdoten über das Wahlrecht zu erzählen, die sehr ordentliche politische Bilanz Bidens zu verteidigen oder das „Todschlagargument Trump“ zu bemühen. Ich würde auch einen Hamster wählen, wenn das die Wahrscheinlichkeit einer nächsten Trump-Präsidentschaft verringert.
Nun, nach dem Ende des viertägigen demokratischen Nominierungsparteitages in Chicago, benötige ich Trump kaum noch als Argument für meine Wahlentscheidung. Ich wähle nun nicht mehr ausschließlich gegen eigene Partei, sondern FÜR Harris. Für Walz. Für Buttigieg. Für Blinken. Ich möchte sie gerne im Oval Office sehen.
[….] Vier Tage haben sie gefeiert, getanzt, gesungen, haben Witze gerissen und Freudentränen vergossen. Erst ganz zum Schluss wird es ernst, als Kamala Harris darlegt, warum sie die nächste US-Präsidentin sein sollte. Es ist eine pragmatische, politische Rede, voller Kampflust und Pathos.
Danach trudeln 100.000 Luftballons von der Hallendecke, und die Delegierten des Parteitags werden zu grölenden Kindern. Harris strahlt, kichert, lacht. Sie ist die Kandidatin der Lebensfreude. Sie stürzt sich mit Lust und guter Laune in die Aufgabe, die Welt vor Donald Trump zu retten. Life is hard, life is beautiful, life is fun.
Etwas Unerwartetes ist passiert in Chicago. Die anfängliche Euphorie, die Harris mit ihrer Last-minute-Kandidatur ausgelöst hat, entpuppte sich als nachhaltig. Was die Demokraten spüren, ist mehr als ein flüchtiger Rausch, nach dem sie wieder in ihren typischen Trübsinn verfallen, in Selbstzerfleischung, Pessimismus und Resignation. Nein, diese hochprozentige Dopaminspritze von Illinois dürfte noch länger wirken, zumindest bis zur Wahlnacht am 5. November.
Die Partei ist aus der tiefen Depression erwacht, in der sie seit 2016 steckte, seit dem Schock der Niederlage gegen Donald Trump. Acht Jahre lang irrten die Demokraten durchs Labyrinth der Selbstzweifel, aus dem sie auch der Wahlsieg Joe Bidens 2020 nicht herausführen konnte. Es war wie bei einer kaputten Liebe, nach der man keinem Glück mehr trauen mag. [….]