Freitag, 22. Mai 2020

Shame on you, political correctness


Alle vier Jahre, wenn der oppositionelle US-Präsidentschaftskandidat ausgeknobelt wurde, beginnt ein wüstes Spekulieren über dessen „running mate“.
Wer könnte Vizepräsident werden?
In der Hoffnung mit einer komplementären Person möglichst alle Quoten abzudecken.

[……] Es gibt, wenn es um die Auswahl eines geeigneten Vizekandidaten geht, eine traditionelle Denkschule. Danach ist der oder die Vize dazu da, einen politischen Makel des Hauptkandidaten auszubalancieren. Das kann die geografische Herkunft sein, weswegen sich zum Beispiel Neuengland-Aristokraten wie John F. Kennedy und John Kerry in ihren Wahlkämpfen Südstaatler aus Texas respektive North Carolina als Vizes ausgesucht haben.
Aber es gibt noch etliche andere Merkmale, die mittels des Vizekandidaten austariert werden sollen - Alter, Geschlecht, ideologische Ausrichtung, politische Erfahrung. Der texanische Provinzler George W. Bush machte den Washingtoner Insider Dick Cheney zum Vize. Der alte Washingtoner Insider John McCain wiederum suchte sich die junge Gouverneurin von Alaska aus, Sarah Palin, deren hinterwäldlerische Unerfahrenheit "erfrischend" sein sollte. Die umstrittene Frau Hillary Clinton zog mit dem betonsoliden Mann Tim Kaine ins Rennen. Donald Trump, im Politischen wie im Privaten ein Hallodri, suchte sich den biederen, frömmelnden Mike Pence aus. Und der junge schwarze Senator Barack Obama machte den altgedienten weißen Senator Joe Biden zu seinem Vize. [……]

Es macht politisch Interessierten (wie mir) natürlich Spaß über solchen Personalien zu orakeln, so wie auch fast alle Vaticanisti Theorien über den nächsten Papst parat haben und Kardinäle in die „papabili“-Schublade stecken.

Sinnvoll sind diese Spekulationen nicht.
„Wer als zukünftiger Papst ins Konklave geht, verlässt es als Kardinal“ lautet die goldene Regel und die Hoffnung des US-Präsidentschaftskandidaten auf die Zugkraft des Vizekandidaten stellt sich meistens als substanzlos heraus.

Palin half 2008 genauso wenig Obama zu besiegen wie Edwards 2004 den Umschwung gegen GWB einleiten konnte. Man muss schon scharf nachdenken, um sich überhaupt zu erinnern, daß Rechtsaußen Paul Ryan 2012 an der Seite Romneys antrat.

Der Vize ist in Wahrheit nämlich eine traurige Gestalt, der lediglich in der Sondersituation eines 50:50-Patts im Senat eine entscheidende Stimme abgeben darf.
Sein einziger Sinn ist es vier Jahre brav abzuwarten.
Er ist gegenüber dem Präsidenten völlig machtlos.

Spektakuläre Ausnahmen sind Johnson und Gerald Ford, der bei gar keiner Wahl angetreten war, sondern nach dem Rücktritt Spiro Agnews von Nixon ernannt wurde und ihm sogar am  9. August 1974 ins Präsidentenamt folgte.
Ein US-Präsident, der sich nie einer Wahl gestellt hatte.
Kennedys VP Lyndon B. Johnson wurde am 22. November 1963, dem Tag der Ermordung JFKs US-Präsident.
Langzeit-Präsident Franklin D. Roosevelt starb am 12.04.1945 nach über 12 Jahren im Amt; VP Harry S. Truman rückte auf.
Für den vierten Fall, in dem ein Vizepräsident der mächtigste Mann der Erde wurde, muss schon ein Jahrhundert zurück gehen zu Warren G. Harding, der am 02.August 1923 nach zweieinhalb Jahren im Amt starb; für ihn rückte VP Calvin Coolidge nach.

Allerdings ist Joe Biden Baujahr 1942 und wäre zu Beginn seiner Amtszeit schon 78, also gerontische 86 Jahre zum Ende einer theoretischen zweiten Amtszeit.
In dem Fall sind die Chancen seiner Vizepräsidentin – es wird auf jeden Fall eine Frau – außergewöhnlich hoch durch Krankheit oder Tod der Nr. 1 aufzurücken.

Ich bin ein großer Fan der Vorstellung Kamala Harris als US-Präsidentin zu haben; sie ist schlau, erfahren und durchsetzungsfähig.
Gut möglich auch, daß Joe Biden vier Jahre bei recht guter Gesundheit durchhält, aber 2024 nicht erneut antritt; dann wäre Harris quasi als Präsidentschaftskandidatin gesetzt.

Gegen Harris spricht allerdings das kumpelhafte Gemüt Bidens, dem Freundschaften extrem wichtig sind. Die Ehepaare Jill und Joe Biden, sowie Michelle und Barack Obama sind tatsächlich persönlich sehr eng befreundet.
Trotz der de facto-Machtlosigkeit Bidens bezog ihn Obama immer ein und konnte sich umgekehrt felsenfest auf ihn verlassen.

Man darf annehmen, daß sich Joe Biden ein ebenso inniges Verhältnis mit seinem Vize-Ehepaar wünscht, falls er #46 werden sollte. Anders kann der Harmoniesüchtige gar nicht arbeiten.
Harris hatte ihn allerdings im Vorwahlkampf derartig hart angegriffen, daß Biden sichtlich verstört war.
Es ging dabei um Bidens Jahrzehnte zurückliegende Positionen gegenüber der Förderung schwarzer Amerikaner.
Ist Biden nicht einfach zu weiß und Mann und Hetero für die heutige diversifizierte Demokraten-Anhängerschaft?
In dem Fall wäre die Indisch-jamaikanische Herkunft Harris‘ ein Vorteil gegenüber anderen möglichen VPs wie Elisabeth Warren oder Gretchen Whitmer oder Amy Klobuchar.

  

Andererseits verfügt Biden gerade in der black community über besonders hohe Zustimmungswerte, die sicherlich darauf beruhen, daß er acht Jahre geradezu ein Amalgam mit dem ersten schwarzen Präsidenten Obama bildete und bedingungslos loyal zu ihm stand, als er von Rassisten im ganzen Land – an vorderster Front der widerliche Birther Donald Trump – mit Hetze und Hass überzogen wurde.

Biden ist aber Biden; er hat das Herz am rechten Fleck, ein guter Mensch und zu jeder Verschlagenheit völlig unfähig. Aber er ist bei weitem nicht so intelligent wie Obama, kein Visionär, kein genialer Denker, nicht so gebildet wie #44 und erst recht kein so brillanter Redner. Im Gegenteil, bei ihm ist stets damit zu rechnen, daß er sich verhaspelt, unkonzentriert ist oder ihm versehentlich irgendein Unsinn entfleucht.
So wie heute Morgen.

[…..]  Joe Biden steht als Präsidentschaftskandidat der Demokraten so gut wie fest - und damit als Herausforderer von Amtsinhaber Donald Trump. Seine guten Aussichten hat Biden unter anderem schwarzen Wählern zu verdanken, die ihm bei den Vorwahlen zu mehreren Erfolgen verhalfen. Doch eine Aussage in einem Radiointerview lässt nun vermuten, dass er sich ihrer Unterstützung etwas zu sicher ist.
Gegen Ende eines Gesprächs mit dem prominenten Moderator Charlamagne Tha God sagte Biden: "Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie für mich oder für Trump sind, dann sind Sie nicht schwarz." Im Video ist die Szene ab Minute 17 zu sehen, Biden lächelt nach dem Satz verschmitzt in die Kamera. […..]

Es ist außerordentlich ärgerlich nun weltweit kritische Biden-Artikel aufgrund dieses Vorfalls zu lesen.
Ich sehe es genau wie Bill Maher; die selbstgewählte politische Korrektheit des linksliberalen Amerikas ist der größte Trumpf der rassistischen Republikaner.
Die Demokraten fallen mit viel Lust über jede unglückliche Formulierung in den eigenen Reihen her, ergehen sich in friendly fire; da muss die GOP sich nur genüsslich zurücklehnen und abwarten.


Außerdem möchte ich ein ganz dickes „what about“ anfügen: Es geht um eine Alternative zu dem extrem bösartigen durch und durch rassistischen Nazi Donald Trump.
In Relation dazu ist Biden der sozialistischste schwärzeste Bürgerrechtler überhaupt – völlig abgesehen von der Hautfarbe seiner VP-Kandidatin.
Presse und political pundits übertreiben maßlos mit ihren Befindlichkeiten.
Das Tausendfache auf die Goldwaage-legen jeder Äußerung zurück bis in die Steinzeit nervt die Bürger dermaßen, daß ein rassistisches Arschloch wie Trump, der Behinderte nachäfft, Einwanderer genauso wie Schwarze hasst, Länder mit dunkelhäutiger Bevölkerung „shithole-countrys“ nennt und sich damit brüstet Frauen zu misshandeln und sexuell zu bedrängen US-Präsident werden konnte.

Ins Bild passt eine kleine Geschichte aus der Make-Up-Welt.


Jeffree Star, californisches genderfluides Multitalent mit eigener Kosmetik-Firma verdient viel Geld mit dem Verkauf seiner Lidschattenpaletten.
Jedes Jahr gibt es von ihm/ihr ein halbes Dutzend neuer Makeup-Produkte, die allerdings anders als bei den anderen Make-Up-Millionären (wie Kylie Jenner, die nur ihren Namen auf billige chinesische Massenware druckt) selbst entwickelt und in Californien produziert werden. Die Planung einer Lidschattenpalette dauert 12-18 Monate.
 Die Aktuelle nennt sich „Cremated“ (Eingeäschert) und spielt mit morbiden Farben.
Als er diese, ein Jahr vor Corona konzipierte Kampagne vorstellte, brach die Hölle los.
Dutzende TV-Stationen fielen über ihn her, weil der Name ihnen zu geschmacklos inmitten einer Pandemie erschien. Das wäre unsensibel und müsse boykottiert werden.
Die Tatsache, daß ich von dem Fall weiß, sagt schon alles: Es geht verdammt noch mal nur um den Namen von Schminke, die ein Künstler in L.A. selbst herstellen lässt.
Wen interessiert das? Was sagt das über die Erregbarkeit der Medienwelt aus?
Sollten sie die kostbare Sendezeit nicht nutzen, um über echte Probleme zu berichten?  Ist da nicht vielleicht zufällig irgendeine Wahl in den USA dieses Jahr?
Ein weiterer Beleg für den völlig der Realität entkoppelten political-correctness-Wahn ist die Reaktion der durchschnittlichen Konsumenten.
Man munkelte, Jeffree Star geriete in finanzielle Schwierigkeiten, da er möglicherweise eine Million Cremated-Paletten auf seine Kosten herstellen ließ, diese nun aber durch Corona nicht im stationären Handel vertreiben könne, sondern ausschließlich auf seinen Online-Shop setzen musste, der mit Schmähartikeln überzogen wurden.
Heute war der erste Cremated-Verkaufstag; in 20 Minuten war die gesamte Kollektion restlos ausverkauft, weil „die normalen Menschen“ ohnehin nicht auf den political-correctness-Zug aufspringen.


😭😭😭🖤🕊 What the fuck!!!!!!! We had a massive amount of stock and I’m truly shook right now!!!! THANK YOU!!!!
— Jeffree Star (@JeffreeStar) May 22, 2020

Also bitte Schluss damit Joe Biden irgendwelche Nebensätze von 1970 vorzuhalten, die nach heutigen Moralansprüchen möglicherweise fragwürdig sind.