Es gibt viele Dinge, über die man sich im täglichen
Smalltalk stundenlang beklagen kann. Das Wetter, die Politiker, den HSV, nervige
Radfahrer, rücksichtslose Hundehalter, anstrengende Vermieter, viel zu laute
Motorradfahrer, Falschparker, Paketboten, Smombies.
Aber es gibt auch Tabus; dazu gehören insbesondere
Kleinkinder. Niemand schimpft öffentlich über die penetrante Lautstärke der
kleinen Racker.
Und falls es doch einmal jemand wagt, sich gegen den
Höllenlärm aus einer KITA auszusprechen, folgt sofort der öffentliche
Bannstrahl. Lokaljournalisten rücken an, um einen an den Pranger zu stellen und
auf der Social-Media-Ebene schwillt er Recht ein Shitstorm an.
„Du warst wohl nie ein Kind!“
-
Äh, doch, selbst ich war mal ein Kind. Aber ein
Ruhiges. Damals habe ich nicht den lieben langen Tag in der Öffentlichkeit
geschrien wie am Spieß, weil meine Mutter ohnehin nur am Handy klebte und mich
ignorierte.
Auf politischer Ebene lautet das entsprechende Mantra „Familie“.
Wenn der Begriff politisch oder gar religiös verwendet wird,
schrillen bei mir alle Alarmglocken, weil es dann garantiert ideologisch und
irrational wird.
Meist sollen damit Teile der Gesellschaft ausgegrenzt
werden. „Family Values“ ist der Schlachtruf der konservativen US-Amerikaner,
wenn sie gegen LGBTIQ zu Felde ziehen. Als ob Schwule und Lesben keine Familien
hätten!
Die haben genauso Geschwister, Eltern, Cousinen, Tanten und Onkel wie jeder andere auch.
Die haben genauso Geschwister, Eltern, Cousinen, Tanten und Onkel wie jeder andere auch.
Der deutsche Staat kennt hunderte familienpolitische
Leistungen, die zusammengerechnet zwar den EU-weit größten Prozentsatz an „Familienförderung“
ergeben, aber dennoch verrottete Grundschulen, baufällige Kitas und Millionen
Kinder unter der Armutsgrenze hinterlassen.
Die Gründe kann ich schon seit Jahrzehnten singen: Das
meiste Geld kommt bei steinreichen Familien oder gar Kinderlosen an, die gar
keine Unterstützung bräuchten. Das ist das Wunder des Ehegattensplittings, das
steinreichen Menschen ohne Leibesfrüchte die dicksten familienpolitischen
Leistungen zuschanzt.
Hinzu kommen die Gießkannen-Leistungen wie Kindergeld, die
ebenfalls an alle Millionärinnen in den Vorortvillen verteilt werden.
Seit Jahrzehnten ist aber keine wie auch immer gefärbte
Regierung in der Lage diesen unfassbaren Unsinn abzuschaffen, weil die
Superreichen, die am meisten profitieren die stärkste Lobby haben.
Tatsache ist aber, daß die familienpolitischen Leistungen
des Staates dringend gekürzt werden müssen. Selbst wenn der Kuchen insgesamt
deutlich keiner ist, wäre noch genug übrig, um das Geld zu den Familien zu
leiten, die es auch wirklich benötigen.
Aber auch das klappt offenbar nicht.
Also spricht man seit mindestens zwei Jahrzehnten mit Tränen
in den Augen von den „Alleinerziehenden“, die es finanziell so schwer haben.
Das ist eine Binse. Kinder sind ein sehr teurer Luxus und
wenn man statt zwei potentiellen Verdienern nur noch einen hat, fehlt die
Hälfte des Geldes.
Im Bundestagswahlkampf 1990 musste sich SPD-Kanzlerkandidat
Oskar Lafontaine bei einer RTL-Zuschauerdiskussion ernsthaft den Vorwürfen
einer alleinerziehenden Mutter von elf Kindern stellen, die den Kontakt zu
einem halben Dutzend Vätern abgebrochen hatte. Sie wollte wissen wie sie unter
SPD-Regierung bessergestellt wäre und ob sie dann endlich ihre gewünschte 12-Zimmerwohnung
bekäme; sie wünsche sich für jedes Kind ein eigenes Zimmer.
Lafontaine blieb cool, rechnete die im SPD-Programm
versprochenen Leistungen zusammen und niemand stellte die offensichtliche Frage
laut:
„Mädel, ist dir nach neun, oder zehn Kindern ohne Vater nicht mal eingefallen zu verhüten?“
„Mädel, ist dir nach neun, oder zehn Kindern ohne Vater nicht mal eingefallen zu verhüten?“
Man kann die Frage auch nicht stellen, weil man dumme Mütter
oder dumme Väter mit viel zu vielen Kindern, die sie sich nicht leisten können,
nicht sanktionieren darf. Dies träfe schließlich die Kinder und die können
erstens nichts dafür und werden zweitens als Erwachsene erst Recht ein
Kostenfaktor für den Staat, wenn sie arm und bildungsfern aufwuchsen.
Daher ist es auch müßig die „Schuldfrage“ zu stellen:
Hat eine Alleinerziehende fünf Kinder, weil sie völlig
verantwortungslos ist und ohne nachzudenken mit jedem poppt?
Oder hatte sie sich vielleicht die perfekte Beziehung aufgebaut, alles geplant, mit einem liebevollen Partner/Partnerin Wunschkinder bekommen, aber der/die Partner/in starb tragisch/unvorhergesehen?
Oder hatte sie sich vielleicht die perfekte Beziehung aufgebaut, alles geplant, mit einem liebevollen Partner/Partnerin Wunschkinder bekommen, aber der/die Partner/in starb tragisch/unvorhergesehen?
Der Staat darf nicht moralisieren, weil die Kinder nun mal
da sind.
Ich sehe das ein. Der Staat kann und soll also nicht an
Sozialleistungen, die Kindern zu Gute kommen sparen.
Aber es ärgert mich, daß die vielen so viel vernünftigeren
Menschen, die sich vielleicht auch Kinder wünschen, sie aber nicht bekommen,
weil sie zu dem Schluss kommen nicht die finanzielle/emotionale/soziale
Stabilität bieten zu können, in der politischen Diskussion immer unter den
Tisch fallen.
Und was ist erst mit so vernünftigen Menschen wie mir, die
als Antinatalisten aus prinzipiellen moralischen Erwägungen
nicht noch mehr Ressourcen-verbrauchende Menschen in eine hoffnungslos
überbevölkerte Welt setzen?
Wir Kinderlosen bezahlen die vielen staatlichen Leistungen
von Kindergeld über Kitas, Lehrergehälter, Gymnasialausstattungen,
Universitäten, die wir alle selbst nie in Anspruch nehmen.
Vor ein paar Tagen bekam ich die gefühlt zehnte
Mitgliederbefragung von Lars Klingbeil zugeschickt.
Meine Partei, die SPD, ist schließlich unter Nawabo-Esken „eine
Mitmach-Partei“ geworden. Daher müssen/sollen/dürfen die einfachen Mitglieder
nun an der programmatischen Erneuerung mitwirken.
Seitenweise klickte ich mich durch ein Dickicht sozialer Wohltaten.
Kinder, Kinder, Alleinerziehende, Kinder, Familien, aber insbesondere die
Alleinerziehenden, Kinder, Familien.
Mir liegen rein zufällig darbende Senioren unter der Armutsgrenze,
die sich ihr karges Leben kaum leisten können, zu städtischen Tafeln gehen
müssen und als Ü80er noch Zeitungen austragen oder putzen gehen, weil die Rente
nicht reicht, mehr am Herzen als junge Mütter, die ja immerhin in Regel
physisch fit sind.
Am Pflegenotstand ändert sich aber auch nie etwas.
Man soll nicht Bedürftige gegeneinander ausspielen, aber
Kinder haben wenigstens noch Hoffnung, daß es besser wird, sie sind sichtbar
und haben Perspektiven.
Eine demente 91-Jährige im Pflegeheim, die von überarbeiteten Pflegern grob misshandelt, fixiert und
sediert wird, in ihren eigenen Exkrementen liegen muss, hat
hingegen keinerlei Perspektive. Ab da wird es nur noch schlimmer und sie lebt
außerdem weit außerhalb des öffentlichen Fokus.
Ich frage mich, ob diese Fixierung aus Familie, Kinder und
Alleinerziehende so schlau ist von der SPD.
In Städten wie Hamburg sind schon über 50% der Wohnungen
Singlehaushalte.
Nur in 18% der Hamburger Haushalte leben
überhaupt Kinder.
Dafür daß also in 82% der Hamburger Wohnungen gar keine
Kinder leben, ist der Kinder-Lobbyismus also extrem überproportional
entwickelt.
Ich habe es satt, daß Single-Haushalte in dem
Parteiprogrammteil über soziale Wohltaten gar nicht vorkommen.
Wir leben nachhaltiger, verbrauchen weniger klimaschädliche
Ressourcen und ich behaupte, daß wir auch sozialer engagiert sind.
Seit vier Dekaden
halte ich mich regelmäßig in Alten- und Pflegeheimen auf. Dort kümmern sich die
Angehörigen, die selbst keine Kinder haben. Wer Kinder hat, verfügt schließlich
immer über die Generalentschuldigung keine Zeit für Oma und Opa zu haben.
Singles sind in der Flüchtlingshilfe engagiert, arbeiten für
Umweltschutzprojekte, sammeln Plastikmüll am Strand, kaufen für kränkliche
Nachbarn ein.
Dafür wollen wir kein Geld haben, verlangen nicht etwa ein
monatliches Singlegeld – dabei tun wir überproportional viel für den Konsum,
weil unsere Lebensunterhaltskosten pro Kopf deutlich höher sind, als in Mehrpersonen-Haushalten.
Es wäre nur ganz schön, wenn in einem Parteiprogramm auch
mal erwähnt wird, daß wir, die Mehrheit der Haushalte, überhaupt existieren.
Über 50% der Haushalte können schließlich nicht alle FDP
wählen.