Mittwoch, 23. März 2016

Kommentarsucht



Sascha Lobo nennt es Kollektivkatastrophen was wir gerade mal wieder in Brüssel erleben.

Auf merkwürdige, aber irgendwie nachvollziehbare Weise tritt das Publikum selbst, seine Trauer, seine Wut, seine Hilflosigkeit dabei in den Vordergrund, die tatsächlichen Opfer geraten zum Anlass. Das Wichtigste scheint, sich in solchen Situationen nicht allein fühlen zu müssen. Wir sind doch alle Überlebende, irgendwie.
Immer ist irgendwo jemand, der mit dem Smartphone live sendet oder fast live vom Ort des Geschehens oder ein paar Kilometer entfernt, das ist auch Bewältigung, verpackt in eine Nachrichtennachahmung: Bitte, Welt, nimm zur Kenntnis, was wir durchmachen, aber wir haben Glück und bis jetzt überlebt.
Schweigen würde als herzlos interpretiert.

Unser elendes Twitter-Instagram-Facebook-Zeitalter führt dazu, daß ich nur noch mit Schwierigkeiten erfahre was eigentlich ganz genau gestern in Brüssel geschah, weil ich erst einmal von lauter eingefärbten Profilbildchen, Trauer-Emojis und Drama-Memes erschlagen werde.

 Es gibt jetzt sogar schon Gegen-Memes, mit denen sich immer mehr Entnervte gegen die allertumbsten Sprüche, wie zB „Pray for Brussels“, wehren.


Als Nachrichtenkonsument wird man auch eine sehr bizarre Nebenebene gezerrt, auf der man sich fast nur noch mit den Reaktionen auf solche Anschläge beschäftigt.
Die eigentlichen Fragen, also die nach den Ursachen und den möglichen Abhilfen, werden gar nicht mehr gestellt, wenn man die perfide Hetze sieht, mit der die Petrys, von Storchs und Pretzells sofort die Toten für ihre Zwecke nutzen.

Irgendjemand scheint Frau Steinbach ihr Klugtelefon abgenommen zu haben, denn offenbar setzte sie gestern gar keinen perfid-faschistoiden Tweet ab.

Aber dafür sprang die geistig mindestens ebenso verwerfliche CDU-Kollegin Lengsfeld ein und gab Merkel die Schuld an dem Brüsseler Terroranschlägen.

Merkel habe "alles dafür getan, dass der Terror in Europa Fuß fassen kann", erklärte die Ex-CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld auf Facebook.

Es kommt eines Tages noch so weit, daß mir Merkel Leid tut wegen dieser Horror-Partei, die sie an der Backe hat.

Wenn man die oberste Schicht des Betroffenheits-Brummen und der Polit-Doofheiten der Rechten durchdrungen hat, folgt unweigerlich die Diskussion darüber, ob das alles „gar nichts mit dem Islam zu tun“ habe, ob kollektiv alle 1,irgendwas Milliarden Muslime irgendwie mitverantwortlich wären, wer jetzt gefordert sei sich zu distanzieren und natürlich kommen auch die Forderungen nach strengeren Gesetzen.

Die Westeuropäer drehen durch und auch wenn nach wie vor die allermeisten Terrorismusopfer Muslime in muslimischen Ländern sind, kann ich mich als weißer, atheistischer Mann in einem NATO-Staat nicht dem Gruselfaktor entziehen.

Der linke Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre hatte auch schon ganz Deutschland verrückt gemacht, dabei war die RAF „nur“ gegen oberste Staats-, Wirtschafts- und Militärrepräsentanten gerichtet.

Der später folgende und bis heute anhaltende Rechtsterrorismus in Deutschland forderte bisher ungefähr 10 mal so viele Todesopfer wie der RAF-Terrorismus, grub sich aber vergleichsweise wenig in das Bewußtsein der Deutschen ein, weil die Opfer alle arm waren oder Minderheiten angehörten. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe konnten bekanntlich fast ein Dutzend Menschen bei Anschlägen töten, ohne daß irgendeinem bei Polizei, Staatsschutz oder Medien überhaupt eingefallen wäre das als „Terrorismus“ zu bezeichnen. Die Opfer waren ja „bloß Ausländer“ und wer weiß bei diesen Türken/Arabern/Kanaken schon genau, ob die sich nicht gegenseitig erschießen? Offenbar waren ja gelegentlich sogar BND-Agenten bei diesen Morden zugegen und hielten es nicht für nötig einzugreifen.

Der IS-Terrorismus ist ganz anders, weil er nicht opferspezifisch ist.
Es ist gewissermaßen spezifisch für den Schrecken der Radikal-Islamisten, daß sie nicht spezifisch sind und es ihnen „nur“ darum geht möglichst viele Menschen zu töten und möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Es ist relativ unvorstellbar, daß ein RAF-Kommando versucht hätte ein Atomkraftwerk hochzujagen, weil sie doch noch Skrupel angesichts der gewaltigen Kollateral-Opferzahlen gehabt hätten.
Fanatisierte Möchtegern-Märtyrer von IS oder Al Kaida würden hingegen sicher gern ein belgisches AKW sprengen und große Teile Westeuropa unbewohnbar machen.
Zumindest weiß man, daß Osama bin Laden und seine Kollegen gebannt den Einsturz der WTC-Türme verfolgen. Mit großen Jubel wurde jeweils der Moment des Zusammenfalls quittiert; die Vervielfachung der Opferzahlen löste also offensichtlich große Freude aus.

Die später von Augenzeugen berichteten Geschehnisse zeigen wieso es so schwer ist mit religiösem Terror umzugehen. Wer seinen Gott so interpretiert, daß dieser sich umso mehr freue, je mehr „Feinde“ getötet würden und dazu auch noch sein eigenes Leben ohnehin wegwirft, weil er zum Märtyrer werden möchte, ist mit westlicher Gerichtsbarkeit nicht zu sozialisieren.

Also bleibt uns offenbar nur übrig diesen Terror auszuhalten.
Aber das ist leicht gesagt. Es gilt dabei nicht den Extremisten auf den Leim zu gehen, indem man sich von den Werten verabschiedet, die Höcke und Abu Bakr al-Baghdadi gleichermaßen verachten.
Dem Superpopanz Sicherheit, vom ehemaligen Verfassungsminister Friedrich flugs als über den Grundrechten stehend aufgeblasen, ist man bereit viele europäische Freiheiten zu opfern.
Wir sollten das nicht tun.

Wenn man nach so einem Anschlag wie gestern weiter bohrt, durch die Lobo-Schicht und die „wie böse ist der Islam-Schicht“ gedrungen ist, stößt man auch auf sinnvolle Artikel.

Erhellendes erschien dazu heute von Edelfeder Kurt Kister, dem SZ-Chefredakteur und zweifellos einem der klügsten Journalisten des deutschsprachigen Raumes.

Aber auch wenn Kister sicher kein Religiot ist, rutschen ihm rudimentäre christliche Überheblichkeiten in seinen Text, die ich nicht akzeptieren kann.

Kein Gott braucht Mörder. Menschen, die sich auf Gott berufen, um andere Menschen zu verletzen und zu töten, sind die größten Gotteslästerer. Sie schaffen sich einen Gott nach ihrem Bilde und versuchen so, ihrem Hass, ihrer Paranoia und ihrer Rachsucht höhere Weihen zu geben. Gläubige wie Ungläubige dürfen gerade auf dieses zutiefst unmoralische Konstrukt nicht hereinfallen. Es ist nicht "der" Islam, der tötet, sondern in Brüssel und Paris war es eine kleine, verblendete Minderheit junger, aggressiver Männer, die sich auf etwas berufen haben, was sie nie verstanden.

Alle gläubigen Menschen erschaffen sich Gott nach ihrem Bild. Es gibt keinen Gott und demzufolge auch keinen „echten Gott“ der gegen Morden ist und dazu einen „falschen Gott“, den sich jemand nur ausgedacht hat.
Wenn man diese Unterscheidung anfängt, landet man unweigerlich in einem unlösbaren religiösen Antagonismus. Das ist ja der Kern der Tausenden von Religionen ausgelösten Kriege – jeder meint, daß nur sein Gott der richtige wäre.
Wenn Kister nun bestätigt, daß tatsächlich der eine Gott der Richtige und der andere falsch ist, spielt er genau das gefährliche Spiel mit, das wir überwinden sollten.

Übrigens: Auch George W. Bush hat sich vor 13 Jahren im Irak-Krieg auf Gott berufen. Jesus hatte mit diesem Feldzug so wenig zu tun wie Allah mit Molenbeek. Und gerade Christen, die am kommenden Freitag des Todes Jesu am Kreuz gedenken, sind sich sicher, dass er gestorben ist, um Menschen zu erlösen und nicht lebte, um töten zu lassen.

Die Aussage kann man angesichts der gewaltigen Kriminalgeschichte des Christentums, die mit Sicherheit in den letzten 2000 Jahren viel mehr Opfer forderte als die Opfer aller anderen Religionen zusammengenommen, nicht stehen lassen.
Wieder versucht Kister den einen Gott, in diesem Fall Jesus, als etwas absolut Gutes darzustellen.

Gewiss, Sicherheit und Freiheit stehen immer in einem Spannungsverhältnis. Und dennoch darf der Westen diese Freiheit nicht Schritt für Schritt aufgeben, um die abzuwehren, die ihn wegen der Freiheit angreifen. Die auf den Rechten des Individuums und der Menschenwürde ruhende Gesellschaft Europas hat nicht versagt, weil sie nun von Fanatikern attackiert wird. Sie würde versagen, wenn sie bei der nötigen Abwehr ihre Grundwerte in Frage stellte.

Dem Zusammenhang stimme ich natürlich zu, aber leider halte ich Kisters „würde-Konjunktiv“ für verspätet.
Online-Überwachung, Bundestrojaner, Vorratsdatenspeicherung, Grenzkontrollen und allgemeines Misstrauen – all das gibt es leider schon.