Mittwoch, 11. September 2013

Bellizismus



Durch den reinen Zufall wurde ich in ein politisches Elternhaus hinein geboren. Es wurde sehr viel über Außenpolitik diskutiert, es gab immer diverse Zeitungen, natürlich den SPIEGEL und bis heute würde ich nie zwischen 20.00 und 20.15 Uhr einen Anruf tätigen, weil „man dann Nachrichten guckt“.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich auf einer Klassenreise, in so einer riesigen Siedlung von Jugend-Häusern in Haren an der Ems von dem Rücktritt Helmut Schmidts erfuhr und furchtbar geknickt war, obwohl ich seit einem Jahr aktiv gegen die Nachrüstung demonstrierte und natürlich bei den größten Demonstrationen der bundesdeutschen Geschichte 1981/1982 dabei war. Aber Kohl war für uns damals das absolute Grauen. Ein peinlicher Provinzler, für den man sich die nächsten 16 Jahre schämen sollte.
Ein Thema wie „Pershing II in Deutschland“ war natürlich ein ideales Mobilisierungsthema.
Es berührte die Ultima Ratio aller politischen Themen: ATOMKRIEG.
Brauchen wir in einer Welt, die über genug Atomsprengköpfe verfügt, um den Planeten 100 mal zu sprengen, noch mehr Pershings und SS20?
Die Schulklassen pilgerten in Kinos, um sich „Wargames“ und „The day after“ anzusehen.
Man diskutierte ganz selbstverständlich auf dem Schulhof Johan Galtungs Pläne für passiven Widerstand im Falle eines Überranntwerdens von der Roten Armee und malte sich abends beim Zusammenhocken mit seinen Freunden aus, was man tun werde, wenn die Sirenen den Atomkriegsbeginn verkündeten.
Leidenschaftlich spekulierten wir, ob man in der Stunde vor dem Einschlag rational genug sein würde, um schnell in den Hafen zu fahren (wo man das Zentrum der Explosion vermutete, so daß man wenigstens gleich tot wäre), oder ob einen doch noch ein Überlebenstrieb dazu zwänge sich im Keller zu verkriechen, so daß man am Rande Hamburgs möglicherweise überleben könnte (und damit dann widerlicherweise erst Wochen später an dem radioaktiven Fallout elendig krepieren würde).
Das war gegenwärtiges Denken.
Zu der Zeit, Anfang der 80er gab es auch noch regelmäßig Probealarme, so daß jeder wußte wie sich die ABC-Warnungen anhörten.
Ich liebte damals den Willy-Brandt-Satz „Friede ist nicht alles  - aber ohne Frieden ist alles nichts!“ und stritt in der Schule leidenschaftlich mit den ganzen JU-Typen für die „lieber rot als tot“-Variante, während die Jung-CDU’ler den Tod unbedingt dem Kommunismus vorzogen.
Kein Wunder, daß damals die Grünen entstanden und daß Helmut Schmidts Kanzlerschaft enden mußte. Atomraketen in Deutschland aufstellen zu wollen war so gnadenlos unpopulär, daß ihm die Linken von der Fahne springen mußten.
Der Effekt war freilich das was auch heute die aus einer Wahlentscheidung für die LINKE folgt: Eine CDU-Regierung, mit der dann noch mehr aufgerüstet wird. Schmidt zu stürzen, um dann 16 Jahre lang Kohl zu wählen, war sicher der Tiefpunkt des urnenpöbeligen Handelns.
Damals war ich 101% gegen den NATO-Doppelbeschluß und vertrat diese Meinung so offensiv und nachdrücklich, daß ich es kaum glauben kann, wenn ich heute gelegentlich denke, Helmut Schmidt hatte doch Recht.
Tatsächlich erfuhren wir nach 1990, daß es sehr wohl detailliert ausgearbeitete Angriffspläne der Roten Armee auf Westdeutschland gab. Und tatsächlich kam es nach der Pershing-Nachrüstung zu diversen Abrüstungsabkommen zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO – genau wie Helmut Schmidt prophezeit hatte.
Allerdings kann man auch argumentieren, die Chance  für die Abrüstung atomarer Mittelstreckenwaffen entstand nur weil ausgerechnet die Sowjetunion mit Gorbatschow einen Mann hervorbrachte, der ein völlig neues Denken wagte. Die westlichen Mächte haben sich damals nicht mit Ruhm bekleckert. Reagan nannte die UdSSR „empire of evil“ und Kohl hielt so wenig von Gorbatschow, daß er sein Handeln mit Goebbels verglich.
Ich behaupte aber, daß diejenigen, die damals politisch sozialisiert wurden die Friedensbewegung für immer in ihren Genen tragen.

Kriegseinsätze sind bis heute extrem unpopulär; keine Umfrage ergibt eine Mehrheit für eine deutsche Beteiligung an militärischen Aktionen.
Grundsätzlich ist das Thema „Friedenspolitik“ aber abgeräumt. Zu den traditionellen Ostermärschen verirren sich in den 2010ner Jahren nur noch eine Handvoll Menschen.
Daß die amerikanischen Atomraketen, die ja immer noch in Deutschland stehen, sogar unter einem Außenminister Guido Westerwelle modernisiert wurden (er hatte im Wahlkampf massiv für ein atomwaffenfreies Europa geworben), lockt niemanden mehr hinterm Ofen her. Keine Friedensdemos, nirgends.
Die heutige Jugend beeindruckt friedensaktivistisch durch Phlegma.

Umso mehr ärgert es mich, wenn heutige linke Jugendliche/Schüler/Studenten ungeniert meine Parteien als „Kriegstreiber“ abkanzeln.
Dazu eine Kostprobe eines 20-Jährigen Facebookers aus einer parteipolitischen Diskussion mit mir:

Ich werde sicherlich keine Kriegsparteien (SPD und Grüne) wählen. Dass dabei die Merkel, die ich nicht will an die Macht kommt möge mir egal sein.
[…] Insbesondere mein absoluter Lieblingsgrüner Joschka Kapitalist Fischer war ein richtig guter Politikwissenschaftler mit extrem fundierten und tiefem politischen Wissen in Theorie (Master of Arts - University of Yale) wie auch Praxis (scheiße Labern deluxe)
Fischer ist nichts weiter außer ein Pseudo-Querdenker, der Blut für alles fließen lassen würde und sich nicht mal anständig artikulieren kann.
(Facebook-Kommentator 10.09.2013)

Die Beschreibung „Kriegspartei“ ist erstens eine Frechheit, zweitens falsch und zeugt drittens von totaler Unkenntnis.
Fischer hat 30 Jahre aktiv in der Friedensbewegung gekämpft und war zudem die treibende Kraft hinter dem „Nein“ des UN-Sicherheitsrates zu George-Bush’schem Irakkrieg. Im Jahr 2013 herrscht Konsens darüber, daß dieser Krieg ein fürchterlicher Fehlschlag war und die Situation verglichen mit einem Saddam-Irak drastisch verschlechtert hat. Keiner kennt die genauen Opferzahlen, aber selbst die USA geben zu, daß weit über 100.000 irakische Zivilisten massakriert wurden. Mindestens 5 Millionen Iraker verloren ihre Häuser und/oder flüchteten aus ihrer Heimat.
Das Land ist instabiler denn je und droht neben einem möglicherweise implodierenden Syrien ebenfalls zu zerfallen.
In Vergessenheit geraten ist aber offensichtlich welch extrem scharfer publizistischer Wind Schröder und Fischer 2002/2003 ins Gesicht blies, nachdem sie sich den amerikanischen Kriegsplänen entgegen stellten.
Es herrschte das blanke Unverständnis.
Ich sehe noch vor mir, wie der damals allgegenwärtige Nahost-Experte Peter Scholl-Latour dem ZDF erklärte, am Ende werde die USA selbstverständlich auch ein deutsches „ja“ zum Krieg bekommen; es sei ausgeschlossen, daß Schröder in NY allein an der Seite des Sicherheitsrat-Mitglied-Landes Syrien gegen Washington stimmen könnte.
Das Fischersche "Nein“ zum Irakkrieg galt damals also so ungeheuerlicher Affront, daß die Oppositionsführerin Angela Merkel extra nach Washington flog, um dort schleimspurziehend auf Knien zu GWB zu rutschen und versicherte ein Deutschland unter ihrer Führung stünde bei den Militärschlägen gegen Saddam an Bushs Seite.

Ausgerechnet den Friedensaktivisten Fischer als „Kriegstreiber“ zu bezeichnen, hängt offenbar mit seinem Einsatz für ein militärisches Vorgehen im Kosovo zusammen.
Der Begriff ist natürlich zutiefst verletzend und ehrenrührig, weil Fischer Bombardements stets nur als ultima ratio betrachtete und nicht im geringsten in diesen Krieg „trieb“, sondern sich die Entscheidung extrem schwer machte.
Auf dem legendären Farbbeutel-Parteitag 1999 in Bielefeld, den ich damals so atemlos auf Phoenix verfolgte, daß mir beinahe die Blase platzte, weil ich es nicht wagte eine Minute vom TV wegzugehen, wurde Fischer sogar körperlich verletzt, zog sich einen Trommelfellriß zu, der genäht werden mußte.
Ich halte diesen Parteitag für eine demokratische Sternstunde.
Seit 1999 bin ich übrigens auch extremer Trittin-Fan, weil ich sehr davon beeindruckt war, wie er in einer Zehntelsekunde nach der Attacke auf Fischer den verletzten Außenminister mit seinem Körper schützte. Ein hohes Maß an Anstand und Zivilcourage!
Man konnte sehr viel darüber lernen, wie Politik funktioniert.


Fischer überzeugt mich mit diesem Satz bis heute:
„Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen“
Den 20-Jährigen, die heute so lapidar von Kriegstreiberei sprechen, möchte ich angesichts des ERFOLGES des Krieges gegen Milosevic; denn dort herrscht jetzt Frieden, die ehemaligen Jugoslawischen Republiken streben in die EU, wollen den Euro einführen; fragen was zum Teufel sie denn gemacht hätten??
Zugucken wie die muslimischen Bosnier abgeschlachtet werden?
Das Milosevic-Regime hatte 100.000 Menschen gekillt, war dabei Genozide durchzuführen, Massenvergewaltigungen anzuordnen und wollte den ganzen Balkan ausrotten.
Hätten wir da einfach weiter zusehen sollen und uns einen schlanken Fuß machen können?
Die Menschen in Massen sterben lassen, ohne uns zu kümmern?
Dieser Militäreinsatz, um einen ethnischen Krieg vor unserer Haustür zu beenden war verdammt noch mal richtig. Vermutlich die einzig mögliche Entscheidung unter lauter beschissenen Alternativen.
Fischer und Schröder haben einen hohen Preis gezahlt, es sich extrem schwer gemacht, aber sie haben es richtig gemacht.