Sonntag, 21. Dezember 2025

Falsche Familie

Der sehnsüchtig herbeigesehnte Familienzusammenhalt, das Nachtrauern der angeblich früher so intakten Großfamilien, als die Generationen noch zusammenstanden, ist allumfassend. Kaum ein Begriff wird so positiv konnotiert, wie „Familie“ und dementsprechend politisch so ausgeschlachtet.

Die US-Republikaner verstehen sich als Partei der „family values“ und ebenso wird in Deutschland alles, das in den Augen Konservativer negativ ist, als „familienfeindlich“ gebrandmarkt: Scheidung, Feminismus, Queere, Singles, Kinderlose.

AfD und CDUCSU propagieren wieder die Hausfrau, wollen Herdprämien zahlen; Tradwife-Accounts boomen in den sozialen Medien.

Ich behaupte, die so verklärte heile Großfamilie „von früher“ war ein Produkt finanzieller Zwänge und Unfreiheit. Die Zeit, die Merz sich zurücksehnt, ist noch nicht so lange her. Es ist die Zeit, als meine Mutter Kinder bekam.

Einen Job annehmen oder ein Bankkonto eröffnen, durfte eine Frau nach unserem deutschen Grundgesetz damals nur, wenn ihr Mann zugestimmt hatte.

Es war die Zeit, als es bei Scheidungen noch das Schuldprinzip gab und der Ehemann nicht nur das Recht auf Beischlaf hatte, sondern es höchstrichterlich Frauen angekreidet wurde, wenn sie die Merz so gefallenden straffreien Vergewaltigungen in der Ehe, nur geschehen ließen. Nein, der Ehemann hatte sogar das Recht darauf, daß sein Weib ihm dabei Vergnügen vorspielt.

(….) Der Bundesgerichtshof hatte am 02.11.1966 mit unserem Grundgesetz eine Bumspflicht für die Frau festgelegt. Dabei genügte es nicht, wenn die Frau wie ein Brett dalag und sich nicht gegen den Geschlechtsverkehr wehrte, sondern sie hatte nach Ansicht der höchsten Richter auch die Pflicht zu einem „engagierten ehelichen Beischlaf“, anderenfalls könnte sie bei einer Scheidung nach dem damaligen Schuldprinzip schuldig gesprochen werden und damit alle weitere Rechte – Erziehungsberechtigung, Unterhalt – verlieren. Kinder weg und Geld weg, wenn Frau beim Bumsen keine Begeisterung zeigte.

  [….]  „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen (...) versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen. Denn erfahrungsgemäß vermag sich der Partner, der im ehelichen Verkehr seine natürliche und legitime Befriedigung sucht, auf die Dauer kaum jemals mit der bloßen Triebstillung zu begnügen, ohne davon berührt zu werden, was der andere dabei empfindet. (...) Deshalb muss der Partner, dem es nicht gelingt, Befriedigung im Verkehr zu finden, aber auch nicht, die Gewährung des Beischlafs als ein Opfer zu bejahen, das er den legitimen Wünschen des anderen um der Erhaltung der seelischen Gemeinschaft willen bringt, jedenfalls darauf verzichten, seine persönlichen Gefühle in verletzender Form auszusprechen.“  [….] 

(BGH, 02.11.1966 - IV ZR 239/65)   (….)

(Tot durch Kleiderbügel, 14.05.2022)

Die Familie mit einem Vater, der seine Gattin vergewaltigte und die Kinder verprügelte, blieb schon deswegen so schön intakt, weil die Hausfrau finanziell vollständig von ihm abhängig war und in enorme Not geriet, wenn sie ihn mit den Kindern verließ. Zudem wurden Frauen, die sich scheiden ließen, gesellschaftlich mehr geächtet als gewalttätige Ehemänner. Hunderttausende Kinder wurden aus toxischen Ehehöllen fliehenden Frauen weggenommen und in christliche Heime gesteckt, in denen sie systematisch geschlagen, gequält und vergewaltigt wurden.

In meiner Grundschulklasse gab es ein Mädchen mit ADHS (den Begriff kannten wir damals natürlich nicht), die daher als „ungezogen“ galt. Ich erinnere mich an einen Disput auf dem Pausenhof, als unsere Klassenlehrerin Corinnas Frechheiten auf ihre „Unehrlichkeit“ zurückführte. Ich trat für sie ein, beschwor, noch nie von Corinna belogen worden zu sein. Unsere Lehrerin klärte mich über ein Missverständnis auf, Corinna sei nicht „unehrlich“, sondern „unehelich“, was noch viel schlimmer sei.

Das war der Mindset in den 1970ern. Sogar im liberalen Hamburg. Von einem katholischen bayerischen Dorf ganz zu schweigen.

Auch wenn sich der Fritzekanzler und die CDUCSU stets gegen Liberalsierungen des Familienbildes aus den 1950ern, 1960ern und 1970ern wehrten, „zerbrach“ die aus ihrer Sicht so heile Familie: Männer dürfen sich nicht mehr ungestraft an ihren Kindern und Frauen vergreifen, Kinder sollen gewaltfrei aufwachsen, Frauen dürfen Berufe ausüben und man darf sich rechtzeitig scheiden lassen, bevor es zu Mord und Todschlag kommt.

Schon früh bekämpfte ich den Begriff „gescheiterte Ehe“, wenn es um die Scheidung meiner Eltern ging. Ja, sie hatten sich getrennt, bevor ich in die Grundschule kam, aber es war für beide die große Liebe ihres Lebens mit zehn sehr glücklichen Jahren zusammen. Sie waren beide schwer begeistert von ihren Kindern und ich habe einen Vater in Erinnerung, der nur für uns da war. Er kam jeden Sonntag zum gemeinsamen großen Frühstück. Meine Mutter guckte ab 12.00 Uhr den „Internationalen Frühschoppen“, während Kinder und Vater den Rest des Tages für sich hatten.

Es ist für mich geradezu der Inbegriff der „erfolgreichen Ehe“, beide blieben bis zu ihrem Tod eng miteinander befreundet, hatten allerdings jeweils andere Partner.

Als beide Elternteile schließlich zu kränklich waren, um sich allein zu versorgen, kaufte ich für drei Haushalte ein. Auf dem REWE-Parkplatz sortierte ich die Fressalien in drei verschiedene Körbe in meinem Gepäckraum und fuhr zunächst zu meinem Vater, weil es da am schnellsten ging, ihm alles abzuliefern. Anschließend sauste ich zu meiner Mutter, die üblicherweise dann am Telefon hing, weil mein Vater sie angerufen hatte, nachdem ich bei ihm wegfuhr, um zu berichten, was ich gekauft hatte und sich detaillierte Koch- und Zubereitungstipps zu holen.

Das konnte dauern, weil er langsam verstand. Einmal, als ich sie nicht vom Telefon loseisen konnte, hatte ich schon alles in ihren Kühlschrank eingeräumt und in der Vorratskammer verstaut, als sie schließlich mit rauchendem Ohr aus dem Schlafzimmer kam… „DEIN Vater!“, woraufhin ich entgegnete „ihr seid ja sowieso immer am Telefon miteinander, wenn ich komme. Da könntet ihr mir das Leben erheblich leichter machen, wenn er einfach wieder hier einzieht.“

Gute Idee, malte ich es mir weiter aus. Das spart enorm und ich könnte in seine Wohnung einziehen und mir die Miete für meine Wohnung schenken.
Aber mittlerweile hatte ihr Gesicht eine ungesund grüne Farbe angenommen; nein, sie werde ihn ja immer lieben, aber bevor sie wieder mit ihm eine Wohnung teile, hüpfe sie gleich hier aus dem Küchenfenster (6. Stock Altbau).

Tatsächlich lebt man nämlich lieber nicht mit jemanden zusammen, wenn es nicht unbedingt finanziell notwendig ist. Es sind die unerschwinglichen Mieten und die Wohnungsnot, die viele Twens zwingen, bei ihren Eltern zu bleiben oder WGs zu bilden.

In Hamburg sind deswegen mehr als die Hälfte Wohnungen Single-Haushalte, weil wir eine reiche Stadt sind, in der wir es uns leisten können, allein zu wohnen.

Je reicher der Stadtteil, desto mehr Singlewohnungen, oder sehr große Häuser, in denen man sich aus dem Weg gehen kann. Je ärmer und prekärer die finanzielle Lage, desto mehr Menschen werden auf einen Quadratmeter gezwängt. 

Man teilt sich nicht mit drei erwachsenen Brüdern ein halbes Zimmerchen in einer 54qm-Zweieinhalbzimmerwohnung, weil man so gern zu sechst als Familie zusammenlebt, sondern weil es billiger ist, als jedem den individuell gewünschten Raum zu geben.

Heute lebt ein Mensch in Deutschland durchschnittlich auf 55 m2.

Es ist ein Zeichen von Wohlstand und individueller Freiheit.

1950 waren es 15 m2, 1960 schon 20 m2.

Mehr Einzelhäuser statt Wohnungen und immer mehr Flächenverbrauch je Einwohner, sind aber nicht nur Ausweis von Freiheit, sondern ein ganz erhebliches energetisches/klimatisches Problem.

Wir werden uns zukünftig wieder viel enger zusammenfügen müssen. Vereinzelt wagten es schon grüne Kommunalpolitiker, immer neue Baugenehmigungen und Flächenerschließungen für Einzelhäuser in Frage zu stellen. Das ist sachlich absolut richtig, führt aber unweigerlich zu Shitstorms und Abwahl.

Singles wollen eben nicht mehr zurück in den Familienverband gepresst werden, wenn sie einmal die Wonnen der völligen Freiheit genossen haben.

Zu Weihnachten werden die Klischees von Gemeinsamkeit und Großfamilienglück wieder unweigerlich durchgekaut. Da dürfen auch die krokodiltränigen Berichte über die bedauerlichen Leute, die am Heiligabend allein sind, nicht fehlen. Von der ganz hohen moralischen Warte aus, werden wir bedauert.

[….] Wie die stille Nacht nicht einsam wird [….] Weihnachten feierlich mit der Familie, Silvester ausgelassen mit Freunden feiern - soweit das Klischee. Die Realität sieht jedoch für Millionen Menschen anders aus. Sie sind allein. Doch noch ist Zeit, das zu ändern. [….] Wie schwierig Feiertage für einsame Menschen sein können, hat Christian Fein am eigenen Leib erlebt. Der Unternehmensberater hat die bundesweite Initiative "Keinerbleibtallein" gegründet. Diese bringt Menschen zusammen, die Weihnachten und Silvester nicht allein sein möchten. Geboren wurde die Idee aus der eigenen Not heraus: Christian Fein hatte sich 2016 kurz vor Weihnachten von seiner damaligen Frau getrennt und deshalb vor dem Alleinsein an den Feiertagen Respekt.  Um nicht in ein Loch zu fallen, suchte er via Twitter Gleichgesinnte, mit denen er Weihnachten virtuell in Kontakt treten konnte. Über die Aktion vernetzte Fein mehrere Tausend Menschen. Dadurch ermutigt, beschloss er, Menschen nicht nur virtuell, sondern auch real zusammenbringen zu wollen - über die Plattform "Keinerbleibtallein". Denn: wirkliche Wertschätzung gebe es nur im echten Leben, ist der 40-Jährige sicher. [….]

(Tagesschau, Sandra Biegger, 21.12.2025)

Fuck you, Biegger! Ich freue mich das ganze Jahr auf die Weihnachtstage, an denen ich ganz in Ruhe gelassen werde, niemand anruft und ich machen kann, was ich will. Da will ich ganz bestimmt keine Leute treffen!