Sonntag, 1. Januar 2023

Impudenz des Jahres 2022

Und schon wieder einmal zeigt der Kalender einen „1.1.“ - hohe Zeit für mich, den Blödmann des Jahres zu küren.

Der Bundeskanzler hat Recht; insbesondere in Relation zu dem, was Deutschland vor zehn Monaten ökonomisch von den allwissenden Experten in der Redaktionen prophezeit wurde, stehen wir glänzen da. Weder rollen russische Panzer durch Berlin, noch gibt es Stromblackouts, Hungersnöte, oder die vielgenannten „Volksaufstände.“ Die Gasspeicher sind voll. Keine geringe Leistung für einen Regierungschef, dessen Kabinett zu einem Drittel aus radikalen gelben Ideologen besteht, die sich kategorisch gegen vernünftige Politik (bundeseinheitliche Coronamaßnahmen, Bürgerversicherung, Tempolimit, gerechte Steuern) sträuben.

[….] • Putin hat die Ukraine eben nicht in wenigen Tagen überrannt, wie er geplant hatte. Ganz im Gegenteil: Tapfer verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat – auch dank unserer Hilfe. Und wir werden die Ukraine weiter unterstützen.

• Die Europäische Union und die NATO stehen nicht gespalten da, wie in manch früherer Krise. Sondern so geeint wie lange nicht.

• Und wir in Deutschland sind nicht eingeknickt, als uns Russland im Sommer den Gashahn zugedreht hat. Weil wir uns nicht erpressen lassen!

Auch das, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ist für mich die Geschichte des Jahres 2022.

Sie handelt von Zusammenhalt und Stärke – und ja, auch von Zuversicht. An dieser Geschichte haben Sie alle mitgeschrieben – überall in unserem Land.

In Wilhelmshaven an der Nordsee, zum Beispiel.

Vor zwei Wochen hat dort die „Höegh Esperanza“ festgemacht – ein schwimmendes Terminal, das uns künftig mit Flüssiggas versorgt. Das neue Terminal und die dafür notwendigen Leitungen haben unsere Ingenieurinnen und Facharbeiter in nicht einmal 200 Tagen gebaut.

Schon in den kommenden Wochen und Monaten gehen weitere Flüssiggas- Terminals in Betrieb – in Lubmin, in Stade, in Brunsbüttel.  […..]  

Morgen, am Neujahrstag, treten weitere Neuerungen in Kraft:

- Das Wohngeld, das allen hilft, die für geringe Einkommen arbeiten gehen oder die von einer kleinen Rente leben.

- Ein deutlich höheres Kindergeld und ein höherer Kinderzuschlag, so dass unsere Familien mehr im Portemonnaie haben.

- Steuerentlastungen – insgesamt 19 Milliarden Euro – für die vielen, die jeden Tag arbeiten und sich anstrengen hier in unserem Land.

- Und schließlich deckeln wir die Kosten für Strom, Gas und Fernwärme. […]

(Bundeskanzler Scholz, 31.12.2022)

Gegen Scholz und die Ampel zu pesten, ist in Mode. Wer aber genau hinhört, stellt fest, daß eins fehlt: Es gibt kaum inhaltliche Kritik, keine Sachdiskussionen, keinen Wettstreit um Ideen, keine alternativen Vorschläge, keine Gegenkonzepte.

Es gibt immer nur ein allgemeines „Dagegen“, höhnische Verweise auf Streit unter der Ampelparteien (als wäre das nicht in einer derartigen Krise mit derartig unterschiedlichen Koalitionspartnern völlig normal) und sehr viele Formfragen. Redet Scholz zu viel oder zu wenig? Zu wenig Temperament? Warum so wenig Charisma? Wie kommunizieren die Minister? Müsste es mehr Machtworte geben? Mehr Führungsstärke? Klarere Ansagen?

Es ist eine Dauer-Scheinkritik. Eher ein brummiges Nörgeln, das schon deswegen so ärgerlich ist, weil es schließlich genügend echte Kritikpunkte und Verbesserungspotential gäbe. Konstruktive Kritik wird aber nie deutlich.

Das liegt zum großen Teil an dem Totalversagen der Bundestagsoppositionsparteien, die alle vier außerstande sind, intellektuell mit den multiplen Megakrisen des Jahres 2022 mitzuhalten.

Bei der AfD fehlt es dafür grundsätzlich an Intelligenz und Anstand. Die Linke leidet inzwischen auch an Morbus AFD; mindestens ein Drittel ihrer Abgeordneten haben Weidelknechtitis im Vollbild.

Die Impudenz des Jahres 2022 ist die CDU/CSU.

Ich kann mich nicht an ein derartiges intellektuelles Vollversagen eines Oppositionsführers einer klassischen Partei erinnern, wie es Friedrich Merz abliefert.

Mit affirmativem Gezicke gegen alles, das die Ampel vorschlägt, erreicht er zwar gute Umfragedaten.

Aber er handelt derartig destruktiv, daß er dem Land, dem er dienen sollte, massiv schadet. Die CDUCSU ist eine Gefahr für Deutschland, weil sie aus ideologischer Borniertheit immer das, was Deutschland dringend braucht, bekämpft.

Zu allem Übel sind Merzens gelegentliche gesellschaftspolitische Abstecher in die Steinzeit (Homosexualität~Pädophilie, legale Vergewaltigung in der Ehe, aggressive anti-queere Rhetorik, Sexismus in Reinkultur) zu einem Muster geworden.

Immer offener und immer öfter kooperiert die CDU mit den völkischen AfD-Faschisten.

Aus seiner Sicht ist das eine sichere Bank, da Merz mit so haarsträubenden ökonomischen und allgemeinen Bildungslücken zu kämpfen hat, daß er immer mal wieder puren Unsinn von sich gibt, wenn er sich zu inhaltlichen Aussagen hinreißen lässt.

(….)  Zu den faszinierendsten urbanen Legenden gehört die (nahezu im Wochentakt von ihm selbst widerlegte) Darstellung des Friedrich Merz als Wirtschaftsexperte.

In Wahrheit ist der Jurist ökonomisch so ahnungslos, daß er von richtigen Experten kontinuierlich ausgelacht wird.

Grüne, Linke und Sozis führen ihn immer wieder in Talkshows vor, wenn er etwas besonders Idiotisches von sich gibt und seine eklatanten ökonomischen Wissenslücken offenbart.

[…] Doch dann rauscht ein Shitstorm durchs Netz. Wirtschaftspolitiker, Ökonomen und Vertreter des Wahlvolkes sind entsetzt von mangelndem Sachverstand oder einfach empört. Er biete Merz "ein kurzes Briefing in Sachen Geldsystem und Staatsfinanzen" an, "sollte nicht länger als ein Jahr dauern, bis wir Sie so fit haben, dass Sie wieder mitreden können", twittert der Ökonom Maurice Höfgen, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag arbeitet. "Ist schon fast lustig, dass der 'Wirtschaftsexperte Merz' keine Ahnung von wirklich grundlegender Ökonomie zu haben scheint", ein anderer. "Die alte Nummer, den Menschen große Angst vor angeblichen Schulden machen", ärgert sich ein Nutzer.  "Ohgottohgott, dieser Mann tritt in meinem Wahlkreis an. @FriedrichMerz, kommen Sie doch mal rüber in die Altstadt, ich leih' Ihnen meinen Bofinger", bietet jemand an. Auf die "Grundzüge der Volkswirtschaftslehre" von Peter Bofinger verweist auch der Linken-Fraktionsvize Fabio De Masi, er twittert ein Bild des Lehrbuchs. "Ist das die neue Wirtschaftskompetenz?", fragt er. Und, an Merz gerichtet: "Wissen Sie eigentlich, was eine Liquiditätsfalle ist? Sie scheinen da was verwechselt zu haben." - "Oh Lord Keynes!" […..] (SZ, 26.04.2021)

Die einstigen Wirtschaftsparteien der Union, die so tief gesunken sind, daß sie einen lügenden Blender (Guttenberg), einen hoffnungslos Überforderten, der wegen Lustlosigkeit zurücktrat (Glos) und nun sogar Altmaier zum Wirtschaftsminister machten, sind ökonomisch so verblödet, daß sie noch nicht mal mehr merken wie hanebüchen ihre Aussagen sind und sich selbst für brillant halten. Der klassische Dunning-Kruger-Effekt.

[…..] Genüsslich schiebt die Süddeutsche noch nach, dass Merz schon öfter mit wirtschaftswissenschaftlich zweifelhaften Ratschlägen aufgefallen sei, vor einem Jahr z.B. mit dem Hinweis, man dürfe Fleisch nicht zu teuer machen, weil Lebensmittel eine geringe Preiselastizität haben. Da hätte er nun wirklich einmal überlegen sollen, was er sagt. Wirtschaftspolitiker/innen, die keine Ahnung haben, aber glauben, sie zu haben, haben möglicherweise noch etwas anderes: ein erhöhtes Risiko, dem Dunning-Kruger-Effekt zum Opfer zu fallen. Die anderen lassen sich vielleicht doch eher von Expert/innen beraten. [….]

(Science Blog, 27.04.2021)  (….)

(Unternehmerisches Versagen, 09.10.2021)

Zum gestrigen Tode Joseph Ratzingers, der nun wirklich alles andere als unerwartet kam, so daß man ein Statement vorbereitet haben sollen, sprach er:

[…]  Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz betont Ratzingers Ausstrahlung auf Deutschland. "Papst Benedikt hat vor allem in seinem Heimatland Deutschland eine neue Hinwendung zur katholischen Kirche über alle Generationen hinweg auslösen können", sagt er. "Wir verneigen uns in Trauer und Dankbarkeit vor dem Lebenswerk des Heiligen Vaters Papst Benedikt XVI.", so Merz, der selbst Katholik ist. […]

(SZ, 31.12.2022)

Merz blickt durch. Während der Ratzinger-Amtszeit 2005-2013 sind 1,7 Millionen deutsche Katholiken aus der Kirche ausgetreten, von 2005 bis zu seinem Tod waren es FÜNF MILLIONEN, die schreiend aus der RKK wegliefen. Das nennt der CDU-Chef neue Hinwendung zur katholischen Kirche über alle Generationen hinweg.

Um sich nicht immer wieder inhaltlich zu blamieren, verweigert sich Merz inzwischen fast vollständig einer inhaltlichen Diskussion mit der Bundesregierung.

Die CDUCSU trägt nichts dazu bei, Deutschland in dieser Krise zu helfen.

Wenig verwunderlich, da die größten Baustellen – nichts einsatzfähige Schrott-Bundeswehr, veraltetes Bildungssystem, Steinzeit-Einwanderungsgesetze, Abhängigkeit von russischem Gas, verschlafene Energiewende, digitale Wüste, Wohnungsmangel, ausgewandertes technisches Knowhow, international bedeutungslose Universitäten, dramatischer Fachkräftemangel – allesamt Folge von 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft sind.

Theoretisch könnte sich Fritze Merz aber in der Opposition von der denkträgen Merkel-AKK-Laschet-CDU befreien. Aber er kann nicht. Und will nicht.

Der Konservatismus KÖNNTE eine konstruktive Kraft in der Phase all dieser politischen Umbrüche – Zeitenwenden – sein. Aber die Merz/Söder-CDUCSU ist “zu banal, zu bös“, wie die großartige Carolin Emcke schreibt.

[….] Wer die Schöpfung schützen will, könnte die Energiewende am radikalsten vorantreiben. Wer den Wohlstand bewahren will, könnte die Ungleichheit am dringlichsten bekämpfen. Wer Zukunftskompetenz beweisen will, könnte eine postfossile Verkehrspolitik vorantreiben. Wer sich auf christliche Nächstenliebe beruft, wer will, dass Menschen frei und selbstbestimmt leben, könnte die Rechte von trans Personen als erste verteidigen.

Stattdessen infantilisieren die Parteigranden Friedrich Merz und Markus Söder ihre Werte, verstümmeln und entstellen das, was bürgerlich und konservativ heißen könnte, und führen ins demokratisch-intellektuelle Nirwana eines Kulturkampfs, der die Kultur, die zu verteidigen er behauptet, kaum mehr kennt. Sie imitieren das historische Versagen anderer konservativer Parteien, ob in den Vereinigten Staaten oder im Vereinigten Königreich, in Frankreich oder Italien, die nur noch zwischen Banalität und Bösartigkeit zu pendeln vermögen, aber keine substantiellen politischen Konzepte mehr anbieten, ja, keinerlei stabiles Regierungshandeln mehr versprechen können, weil sie jene Institutionen und Regeln, die es dazu braucht, selbst destabilisiert haben.

Sobald die konservativen Parteien sich von rechtspopulistischen, neofaschistischen Bewegungen oder Figuren treiben lassen, sobald sie das Rationale als definitorischen Gegner ausmachen, leiten sie ihren eigenen Niedergang ein. Der rechte Rand diktiert die Themen, die langfristig die Mitte ihres bürgerlichen Gewissens und ihrer aufgeklärten Prinzipien beraubt, es reichen dann schon Trigger-Begriffe, keine Argumente, "Genderideologie", "Zwangsgebühren", "Sprachpolizei", und so begeben sich die konservativen Parteien ins Abseits eines Diskurses, der sie immer weiter von sich selbst entfernt.  Anstatt mit Gelassenheit die eigenen traditionellen Praktiken und Werte zu leben, wird unruhig Panik geschürt, als sei eine kurze Atempause beim Sprechen, wie sie bei den Worten Beerdigung oder Spiegelei vertraut und harmlos ist, der Untergang des Abendlandes, wenn sich darin der Respekt vor der Vielfalt der Geschlechter ausdrücken könnte. Wie sich ausgerechnet bürgerliche Parteien, denen Höflichkeit und Manieren etwas gelten sollten, nun mit dramatischer Geste dagegen wehren, dass bestimmte Begriffe nicht verwendet werden sollten, weil sie andere herabsetzen, ist nurmehr Symptom der Orientierungslosigkeit der Konservativen. Es herrscht Krieg in der Ukraine, die Inflation steigt unkontrolliert, die Klimakatastrophe bedroht Freiheit und Schöpfung - aber Merz und Söder sorgen sich um einen Stern. […]

(Carolin Emcke, 24.09.2022)