Ich kann
mich nur darüber wundern was für massive Minderheitskomplexe Menschen mit sich
herumschleppen und wie extrem sie darauf angewiesen sind in einem festen
Koordinatensystem verankert zu sein – als Christ. Als Weißer. Als Deutscher.
Als Konservativer. Als Ostdeutscher. Als Amerikaner. Als Berliner.
Nach
meinem subjektiven Empfinden – und das liegt sicher an meiner persönlichen
Filterblase – sind Ossis, Religiöse und Rechte am schlimmsten von der „ich
fühle mich beleidigt“-Psychose betroffen.
Bayern zum
Beispiel eigenartigerweise fast gar nicht.
Die sind
nicht beleidigungsfähig, weil sie so von Stolz und Begeisterung für ihr
Heimatbundesland durchdrungen sind, daß es sie nicht das geringste bißchen
erschüttern kann, wenn irgendein irrelevanter norddeutscher Tammox sie doof
findet.
Schieße
ich auf Facebook nur ein Zehntel meiner antibayerischen Bosheit auf
Ostdeutschland ab, gibt es sofort eine massive Jammerflut und wütende
Gegenreaktionen. Am schlimmsten sind wohlmeinende psychologische Exkurse
darüber wieso sie sich persönlich so hart getroffen und beleidigt fühlen.
Ich erachte
mich selbst gar nicht als besonders selbstbewußtes Individuum, aber das bißchen
Selbstachtung, über das ich verfüge, steht in keinem Zusammenhang mit
zufälligen Attributen wie Geburtsort, Hautfarbe oder Nationalität.
Ich kann
mich nicht als Schubladenwesen definieren, das für alle Weißen, alle Männer
oder alle Hamburger mitverantwortlich und mitfühlend ist.
Es käme
mir nie in den Sinn ohne Ironie einen Satz mit „Ich, als Amerikaner, ich als
Deutscher, ich als Weißer, ich als Mann, ich als Heterosexueller,…zu beginnen,
weil meine Ansichten und Urteile unabhängig davon sind.
Und
schon gar nicht verstehe ich wieso diese durch Geburt erworbenen Zufälligkeiten
von den meisten Menschen positiv konnotiert werden. Stichwort Nationalstolz und Patriotismus – etwas Dümmeres
und Destruktiveres findet sich kaum.
Ich als Amerikaner bin nicht zu beleidigen; im
Gegenteil, jeder ist herzlich eingeladen seinen Antiamerikanismus über mir zu
ergießen.
Erstens
kritisiere ich selbst die Amerikaner
so hart ich kann und zweitens bin ich mir stets darüber bewußt, daß solche
Pauschalisierungen zwar zum allgemeinen Sprachgebrauch gehören, aber nicht wörtlich
genommen werden können.
Wenn ich
die Amerikaner beschissen finde,
meine ich damit bestimmte Ausprägungen, wie zB die Wahl Trumps oder das Tragen
von Waffen.
Diese
linguistische Vereinfachung bezieht sich aber selbstverständlich nicht auf
jeden einzelnen der 330 Millionen Amerikaner. Unter denen gibt es
selbstverständlich auch unzählige großartige Menschen.
Ich
finde auch die Männer unerträglich,
ärgere mich über den beschämenden Umgang mit Frauen.
Ich muss
nicht extra dazu sagen, daß das selbstverständlich nicht für jeden einzelnen
Mann gilt, weil es so schwachsinnig wäre 40 Millionen Deutsche und 3,5
Milliarden Erdenbürger aufgrund ihrer zufälligen Geschlechtszugehörigkeit zu
verdammen.
Kürzlich
zog ein Bekannter quasi gegen seinen Willen wegen eines Jobs aus Berlin nach
Hamburg und schickte mir nach einer Woche eine wütende Mail wie schrecklich
doch Hamburg wäre.
Bekanntlich
mag ich Hamburg und sollte damit geärgert werden, aber wie sollte das
funktionieren?
Wenn ich
Hamburg lobe, dann ist das ein bewußt pauschaler Begriff. Zu Hamburg gehören
nicht nur 1,8 Millionen Menschen, sondern auch Politik, Landschaften, Gebäude,
Natur, Moden, Firmen, Akzente, Gewohnheiten, etc.
Ja, ich
mag Hamburg, aber das ist selbstverständlich auch subjektiv und bedeutet
natürlich nicht, daß ich jeden einzelnen der 1,8 Millionen Hamburger mag. Auch
unter ihnen wimmelt es von Arschgeigen. Hier haben 19% Schill gewählt. Es gibt
grausige Bausünden und habituelle Eigenarten.
Mein
insgesamt positives Urteil ist auch von Gefühlen geprägt, die nicht
verifizierbar sind und nicht davon tangiert werden, ob Person X und Y Hamburg
ganz schrecklich finden.
Gefühle
können sich ändern. Bei amerikanischen Regierungen bin ich mein Leben lang ein
Wechselbad gewöhnt.
Der
erste Präsident, mit dem ich mich intensiv beschäftigte, war der
SDI-wahnsinnige Ronald Reagan, der Atomraketen im Weltraum stationieren wollte,
in Europa gewaltig mit Pershing-II-Raketen aufrüstete, sich von bizarren Gurus
und Astrologen seiner Frau beraten ließ und sich weigerte das böse Wort „AIDS“
auch nur auszusprechen, weil er es offenbar für Gottes Gerechtigkeit hielt
Schwule auszurotten. Der Mann scherte sich nicht um Umweltschutz und verteilte
massiv von unten nach oben um.
Ich verbrachte
damals viel Zeit bei antiamerikanischen Friedensdemos und verachtete RR von
ganzem Herzen. Bei GHB, der 1991 beinahe einen Weltkrieg anzettelte, wurde es
noch schlimmer.
Das war
schon eine große Umgewöhnung als mit Bill Clinton ein ausgesprochen Intellektueller
auf die Weltbühne trat, der im Ausland wußte wovon er sprach, sich interessierte,
immerhin versuchte eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen und auch als
erster Präsident offiziell bei einer Schwulengala auftrat.
Charme
hatte der Mensch auch noch und erscheint mir bis heute als einer der
begabtesten Redner unserer Zeit.
Wenn man
dagegen den alternden tumbbräsig-provinziellen Kohl sah, wirkte Clinton wie
eine Lichtgestalt.
Deutschland
wurde mir viel peinlicher als Amerika.
Zehn Jahre
später das umgekehrte Bild: GWB, schlimmer und dümmer und gefährlich als alles
das ich mir bis dahin vorstellen konnte, ein verlogener tiefreligiöser
Lobbyknecht, der mehrere illegale Angriffskriege von Zaun brach.
In
Deutschland hingegen RotGrün mit ökologischer Steuerreform, Vizekanzler und
Kanzler, die sich ausdrücklich als Atheisten beim Amtseid NICHT auf Gott
bezogen und international die Vorreiterrolle als Irakkriegsgegner übernahmen.
Nie
hätte ich mir vorstellen können Amerika noch mehr zu verachten als unter GWB,
Rumsfeld und Cheney.
Und sehr
sehr sehr verwundert stellte ich einige Jahre später fest, wie sich wieder
einmal die Vorzeichen komplett geändert hatten.
Der weltweit
adorierte Friedensnobelpreisträger Obama modernisierte die USA. Es gab dort
Homogleichberechtigung und Haschisch-Freigabe, als in Deutschland noch nicht
dran zu denken war und Schwarzgelb unter der ewigen Merkel glasklare
Lobbypolitik für Milliardäre und gegen Menschenrechte betrieb.
Natürlich
beobachtete ich während der Obama-Jahre das Abdriften der hasszerfressenen
Teebeutler in den ultrarechtsextremen Sumpf, machte mir keine Illusionen
bezüglich Obamas, dessen Passivität ich nie recht verstand.
Aber was
dann im November 2016 geschah kann ich immer noch nicht recht fassen.
Ich kann
nicht fassen, daß ausgerechnet die schläfrige Merkel im 13. Amtsjahr verglichen
mit #45 in Washington wie eine liberale Ikone wirkt, daß sogar GWB geradezu
klug und sympathisch wirkt.
Selbst
wenn ich wollte, könnte ich weder für Deutschland, noch für Amerika
patriotische Gefühle entwickeln oder mich gekränkt fühlen, wenn jemand eine der
Nationen beleidigt.
Es gibt
nur den kleinen Unterschied, daß ich die gesamte Trump-Administration so
abgrundtief hasse, daß mich scharf antiamerikanisch Töne geradezu erfreuen,
weil ich das für vernünftiger halte als die affirmative Trump-Schleimerei der
Minister Spahn und Altmeier.
Ich kann
mich nicht als Amerikaner schämen,
weil ich emotional nichts mit den Trumpmerikanern gemein habe.
Also
Feuer frei!
Ich bin
offen für alle Beleidigungen wider die Amerikaner,
die Deutschen, die Heterosexuellen, die
Weißen, die Männer, die Europäer, die Reichen, den Westen!
Wir
haben es verdient.
Bei der
deutschen Bundesregierung ist es noch nicht ganz so weit, weil ich mich
immerhin schweren Herzens und entgegen meiner Gefühle aus reiner Vernunft stark
dafür einsetzte, daß meine Partei, die SPD erneut in die Groko eintritt.
Ich
stehe zu der Überzeugung, da ich nach wie vor alle Alternativen für deutlich
schlechter halte. Die GROSSE Koalition ist das KLEINSTE aller Übel.
Aber
dennoch; wenn ich mir ansehe, wie Spahn hetzt, Scheuer debakuliert und Seehofer reine
AfD-Politik betreibt, bin ich eigenartiger Weise noch in der Lage mich emotional
so einzubringen, daß ich mich ernsthaft für diese Regierung schäme, obwohl ich
natürlich niemals die Wahl der CSU oder CDU gutheißen könnte.
[….]
Nicht nur in Ellwangen setzt Seehofer um,
was die AfD fordert.
Die größere Gefahr für
Flüchtlinge und Anhänger einer solidarischen Gesellschaft kommt heute nicht von
der AfD, sondern vom Bundesinnenministerium. Es braucht gar keine AfD in der
Regierung, AfD-Politik kann auch Horst Seehofer. Das hat er am vergangenen
Donnerstag bewiesen, als er sich "politisch voll hinter den Maßnahmen der
baden-württembergischen Sicherheitsbehörden und der Polizei in die
Landeserstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen in Baden-Württemberg stellte:
"Diese Dinge müssen mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden.“ [….]
Eine
fast schon unerträgliche Schande, daß es diese Minister gibt und daß die SPD
diese Typen enablen muss. Ich schäme mich für die CSU.
Wie
Trump in Washington setzt auch Seehofer streng auf eine WHITE MALE
ONLY-Personalpolitik.
Wir
haben einen 69-jährigen Geronten als Super-Verfassungsminister, der klar auf
Xenophobie setzt und vor keiner rassistischen oder islamophoben Hetze
zurückschreckt.
Zum
Mitschämen.
[….] Zuwanderer
und deren Kinder prägen das Land längst mit. Nur in der Bundesregierung stellen
sie keinen einzigen Vertreter mehr - die Koalitionäre haben eine furchtbare
AfD-Forderung unbewusst erfüllt.
[….] Das politische Ende von Aydan Özoğuz kommt
leise. [….] Und weil die Kanzlerin
arg gerupft aus der Nacht kommt, erklärt sie, dass jetzt wenigstens das
Kanzleramt wieder "schwarz werden" müsse.
Was lapidar klingt,
beendet die Karriere der ersten türkeistämmigen Politikerin als
Staatsministerin im Bundeskanzleramt. Für Union und SPD ist der Vorgang nicht
der Rede wert; niemand erwähnt es später, keiner wird es öffentlich bedauern.
Fast wirkt es so, als seien alle erleichtert. Özoğuz erfährt aus den Medien,
dass sie nicht mehr gefragt ist.
[….] Ataman
[Sprecherin der Neuen Deutschen Organisationen (NDO)] ist frustriert, weil sie die Attacken der AfD und das Ausscheiden von
Özoğuz verbindet. Erst habe AfD-Chef Alexander Gauland im Wahlkampf gefordert,
man solle Özoğuz "nach Anatolien entsorgen". Und was sei dann
passiert? "Man hat sie tatsächlich entsorgt. Man hat genau das gemacht,
was Gauland mit seinem fürchterlichen Satz erreichen wollte." Nun mag das
nicht bewusst passiert sein; in der Wahrnehmung vieler Migranten ist es
trotzdem so rübergekommen.
[….]
Für sie ist fast noch schlimmer, dass die
SPD sich nicht mal um Ersatz bemühte. Keine Migrantin, kein Mann mit
ausländischen Wurzeln in der Regierung? [….] Ähnlich scharf geht Yasemin Shooman mit Union und SPD ins Gericht.
Shooman leitet die Akademieprogramme des Jüdischen Museums in Berlin und auch
sie beklagt eine neue, gefährliche Spaltung. "Das Selbstverständnis als
plurale Gesellschaft geht flöten", so Shooman. "Stattdessen ist die
Angst sehr präsent, die von der AfD geschürt wird." Es fehle den großen
Parteien an Strategien, dem neuen Trend positiv entgegenzuwirken. "Die
Politik lässt sich von der AfD treiben." [….][….]