Sonntag, 16. August 2020

Ausrutscher, Fehler und Unverzeihliches


Überraschung. Politiker, Journalisten und Publizisten, die auf ein Jahrzehnte währendes Berufsleben zurück blicken, in dem sie täglich veröffentlichten und veröffentlicht wurden, also zehntausende nachlesbare Sätze produzierten, haben a posteriori nicht in jedem Fall Recht behalten.
Vielleicht erweisen sich nur 98% oder 99,5% der Aussagen als vernünftig.
Überraschung, jeder ist auch partiell Kind seiner Zeit.
Wer vor hundert Jahren im deutschen Sprachraum lebte, sprach wertneutral von „Mohren“ und „Negern“. Das war allgemeiner Mindset und keineswegs mit der heutigen extrem negative Konnotation verknüpft.
Gerade läuft auf TELE5 die Wiederholung der Erfolgsserie „V - Die außerirdischen Besucher kommen“ aus den frühen 1980er Jahren. Die leicht trashige Science Fiction Serie hat insofern noch ihre Bedeutung, als klare Bezüge auf den Antisemitismus, den Holocaust und das faschistische Nazi-Regime genommen werden. Es geht um Widerstand, Opportunismus oder Mitläufertum. Der männliche Held der Serie, Mike Donovan, der für das Gute kämpft, trifft dabei auf die junge Biochemikerin Juliet Parrish. Er nennt die Anführerin des Widerstands ganz arglos „Schätzen“ oder „Kleines“.
Die Aufmerksamkeit für Misogynie war noch nicht existent.
In der Serie DALLAS aus derselben Zeit, die damals auch in Deutschland ein Straßenfeger war, rauchen fast alle Protagonisten und gießen sich schon vormittags bei jeder Gelegenheit einen Whiskey ein.
Es gab noch kein Gefühl dafür welches Vorbild gezeigt wird, daß Alkoholismus und Nikotinsucht tödliche Krankheiten mit Myriaden Todesopfern jedes Jahr sind.
Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, daß größere Teile der Öffentlichkeit auf den Gedanken kamen, es könne womöglich falsch sein sämtlichen männlichen jüdischen und muslimischen Kindern eine Genitalverstümmelung zu verpassen, bei der für immer das Gefühl verändert wird, bei der es ohne Not zu Penisamputationen und sogar Todesfällen kommt.

Die Zeiten des alten Carl Hagenbeck, der kontinuierlich neue Wildtiere und Menschen in Afrika einfangen ließ, um sie in seinem Hamburger Zoo vorzuführen, sind vorbei.

Es ist keine Hundert Jahre her, daß man hier bei mir vor der Tür in Hamburg entrechtete Menschen in Käfige sperrte und anglotze.

Gerne wurden „Schau-Neger“ auf Jahrmärkten gezeigt. Carl Hagenbeck ließ für seinen Zoo in Hamburg allerlei „wilde Afrikaner“ einfangen und zeigte sie den höchst interessierten Hanseaten in seiner „Völkerschau“.
Den christlichen Besuchern kam es gar nicht in den Sinn, daß es irgendwie unmoralisch sein könnte, neben Löwen und Antilopen auch Hottentotten und Zulus in Käfigen zu zeigen.
Die Körperlichkeit der vielen afrikanischen Völkerschauen in Deutschland faszinierte insbesondere die Frauen in Deutschland - hatten sie doch in der Regel noch nie nackte Männer gesehen.

Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise lebten in diesen „anthropologisch-zoologischen Ausstellungen“ gleichzeitig über 100 Menschen.
(Wiki)

Tatsächlich konnten die in Hamburg gefangenen Afrikaner noch von Glück reden. Es war nämlich durchaus auch üblich „Neger“ aus praktischen Erwägungen auszustopfen oder des einfacheren Transports halber nur ihre Köpfe auszustellen.
Noch heute lagern in den Kellern der Berliner Charité kistenweise getrocknete Köpfe von Menschen aus allen Gegenden Afrikas.

Heute entwickelt man angesichts dieses Verhaltens Scham.
Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 und die Konsequenzen beschämen inzwischen auch die anderen Mächte der Welt, die ein Jahr später fröhlich feiernd zur Olympiade in Berlin erschienen.
Machte ja nichts.
Vermutlich wird sich unsere Scham noch weiter entwickeln.
Ich halte es für wahrscheinlich, daß in 50 Jahren Jugendliche uns Uralte entsetzt fragen werden, wieso man ohne irgendwelche Skrupel mit Nationen Handel trieb, die Frauen steinigten und Schwule aufknüpften.

Es ist unredlich mit dem heutigen Wissen rückblickend zu glauben, jeder hätte damals schon erkennen müssen wie verletzend die allgemeine Ignoranz war.
Der Humanismus unterliegt einem evolutionären Prozess.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Menschen in 100 Jahren, sofern es die Rasse dann noch gibt, ähnlich gruseln, wenn sie auf das Verhalten des Homo Sapiens aus dem Jahr 2020 zurückblicken.
Fehlende Tierrechte, Fleischkonsum, rücksichtslose Umweltzerstörung durch Individualverkehr und Flugreisen, Interagieren ohne Hygienemaßnahmen, nationale Egoismen, jeden Tag zehntausende Kinder verhungern lassen, Kriege mit Waffenlieferungen anzufachen, Gefängnisstrafen für Drogenkonsum, Verbot des Suizids, Apparatemedizin, Endlagern von Millionen Senioren, Religionsvertreter in TV-Räten und Ethikkommission, Energiegewinnung durch Steinkohle- und Erdölverbrennung.
Gut möglich, daß man einst so fassungslos auf die heute völlig normalen Dinge sieht, wie wir heute „Schauneger in Hagenbeck“ oder die Nürnberger Rassegesetze.

Wir müssen und jetzt, in der Gegenwart weiterentwickeln; unsere Ansichten und unser Verhalten ändern.
Einige sehen das natürlich früher ein als die große Masse und werden sehr viel Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit leisten.

Wir dürfen uns dabei aber nicht als moralische Herren über die Menschen früherer Jahrhunderte aufspielen und so tun, als ob wir selbst damals anders gehandelt hätten.

Es ist lächerlich Verbote von Fernsehserien aus den 1970ern oder 1980ern zu fordern, weil sie sexistisch wären.
Natürlich sind sie das, weil die ganze Welt es war.
Es ist lächerlich Mark Twain zu verdammen, weil er inflationär den Begriff „Nigger“ gebrauchte. Das Buch „die Abenteuer des Tom Sawyer“ erschien 1876; wie hätten wohl sonst die Schwarzen damals in den US-Südstaaten genannt werden sollen?
Wir lesen Twain heute mit dem Wissen von 2020 und können die Sprache historisch einordnen.
Wir sind gebildet und müssen daher unterscheiden zwischen Zeit-typischer Sprache und beabsichtigtem Rassismus.

Überraschung, der Mensch entwickelt sich weiter und ist lernfähig.
Auch ich habe einst bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Zigaretten geraucht, habe mir keine Sekunde darüber Gedanken gemacht, daß Kinder in meiner Nachbarschaft beschnitten werden und konnte sogar in der Sportumkleide Dutzende andere Jungs ansehen, ohne daß auch nur ein einziges mal der Gedanke an Achsel- oder Genitalbehaarung durch meinen Kopf schwirrte. Es gab damals noch kein Bewußtsein dafür sich jedes Haar am Körper sofort abrasieren zu müssen.

Aber wir entwickeln uns, wenn auch nicht ausschließlich in die richtige Richtung. Gut möglich, daß man in ein paar Hundert Jahren fassungslos auf die tätowierten, glattrasierten und Silikon-implantierten Körper des frühen 21. Jahrhunderts gucken wird.

Wir sollen aufmerksam und aufgeklärt in die Vergangenheit blicken, uns aber nicht aufspielen, als hätten wir es schon immer besser gewußt.

Ich fordere einen liberalen Umgang mit den Verfehlungen der Vergangenheit.

Ja, auch ein Helmut Schmidt hat 1960 womöglich mal einen Satz gesagt, der heute ganz schlecht klingt.
Ja, Kamala Harris hat in ihrem Job als Staatsanwältin vielleicht in dem ein oder anderen Fall zu hart agiert.
Ja, Olaf Scholz hat die G20-Proteste unterschätzt.
Ja, Joe Biden hat in den 1970ern aus heutiger Sicht fragwürdige Ansichten zum „Bussing“ vertreten.

Na und?
Es ist gut sich weiter zu entwickeln.

Nicht zu tolerieren ist allerdings wenn auch im Jahr 2020 noch hunderte Millionen Protestanten einen der schlimmsten Antisemiten aller Zeiten – Martin Luther – folgen, ihre Kirchen und Einrichtungen nach ihm benennen.

Und schon gar nicht darf man heute noch einen Typen Namens Jesus Christus und die Bibel zum moralischen Maßstab erheben.
Dort wird explizit Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und neben vielen anderen Bösartigkeiten mehr auch die Sklaverei eingefordert.
Jesus befürwortete Sklaverei, weil er ein Kind seiner Zeit war.
Wir dürfen aber im Jahr 2020 natürlich nicht mehr Jesus und seinen Ansichten folgen.


God is cancelled