Überraschung. Politiker, Journalisten und Publizisten, die
auf ein Jahrzehnte währendes Berufsleben zurück blicken, in dem sie täglich
veröffentlichten und veröffentlicht wurden, also zehntausende nachlesbare Sätze
produzierten, haben a posteriori nicht in jedem Fall Recht behalten.
Vielleicht erweisen sich nur 98% oder 99,5% der Aussagen als
vernünftig.
Überraschung, jeder ist auch partiell Kind seiner Zeit.
Wer vor hundert Jahren im deutschen Sprachraum lebte, sprach
wertneutral von „Mohren“ und „Negern“. Das war allgemeiner Mindset und
keineswegs mit der heutigen extrem negative Konnotation verknüpft.
Gerade läuft auf TELE5 die Wiederholung der Erfolgsserie „V -
Die außerirdischen Besucher kommen“ aus den
frühen 1980er Jahren. Die leicht trashige Science Fiction Serie hat insofern
noch ihre Bedeutung, als klare Bezüge auf den Antisemitismus, den Holocaust und
das faschistische Nazi-Regime genommen werden. Es geht um Widerstand, Opportunismus
oder Mitläufertum. Der männliche Held der Serie, Mike Donovan, der für das Gute
kämpft, trifft dabei auf die junge Biochemikerin Juliet Parrish. Er nennt die
Anführerin des Widerstands ganz arglos „Schätzen“ oder „Kleines“.
Die Aufmerksamkeit für Misogynie war noch nicht existent.
In der Serie DALLAS aus derselben Zeit, die damals auch in
Deutschland ein Straßenfeger war, rauchen fast alle Protagonisten und gießen
sich schon vormittags bei jeder Gelegenheit einen Whiskey ein.
Es gab noch kein Gefühl dafür welches Vorbild gezeigt wird,
daß Alkoholismus und Nikotinsucht tödliche Krankheiten mit Myriaden Todesopfern
jedes Jahr sind.
Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, daß größere Teile der
Öffentlichkeit auf den Gedanken kamen, es könne womöglich falsch sein
sämtlichen männlichen jüdischen und muslimischen Kindern eine
Genitalverstümmelung zu verpassen, bei der für immer das Gefühl verändert wird,
bei der es ohne Not zu Penisamputationen und sogar Todesfällen kommt.
Die Zeiten des alten Carl
Hagenbeck, der kontinuierlich neue Wildtiere und Menschen in Afrika
einfangen ließ, um sie in seinem Hamburger Zoo vorzuführen, sind vorbei.
Es ist keine Hundert Jahre her,
daß man hier bei mir vor der Tür in Hamburg entrechtete Menschen in Käfige
sperrte und anglotze.
Gerne wurden „Schau-Neger“ auf Jahrmärkten gezeigt. Carl Hagenbeck ließ
für seinen Zoo in Hamburg allerlei „wilde Afrikaner“ einfangen und zeigte sie
den höchst interessierten Hanseaten in seiner „Völkerschau“.
Den christlichen Besuchern kam es gar nicht in den Sinn, daß es irgendwie unmoralisch sein könnte, neben Löwen und Antilopen auch Hottentotten und Zulus in Käfigen zu zeigen.
Die Körperlichkeit der vielen afrikanischen Völkerschauen in Deutschland faszinierte insbesondere die Frauen in Deutschland - hatten sie doch in der Regel noch nie nackte Männer gesehen.
Den christlichen Besuchern kam es gar nicht in den Sinn, daß es irgendwie unmoralisch sein könnte, neben Löwen und Antilopen auch Hottentotten und Zulus in Käfigen zu zeigen.
Die Körperlichkeit der vielen afrikanischen Völkerschauen in Deutschland faszinierte insbesondere die Frauen in Deutschland - hatten sie doch in der Regel noch nie nackte Männer gesehen.
Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise lebten in diesen „anthropologisch-zoologischen Ausstellungen“ gleichzeitig über 100 Menschen.
(Wiki)
Tatsächlich konnten die in Hamburg gefangenen Afrikaner noch von Glück reden. Es war nämlich durchaus auch üblich „Neger“ aus praktischen Erwägungen auszustopfen oder des einfacheren Transports halber nur ihre Köpfe auszustellen.
Noch heute lagern in den Kellern der Berliner Charité kistenweise getrocknete Köpfe von Menschen aus allen Gegenden Afrikas.
Heute entwickelt man angesichts
dieses Verhaltens Scham.
Die Nürnberger Rassegesetze von
1935 und die Konsequenzen beschämen inzwischen auch die anderen Mächte der
Welt, die ein Jahr später fröhlich feiernd zur Olympiade in Berlin erschienen.
Machte ja nichts.
Vermutlich wird sich unsere Scham
noch weiter entwickeln.
Ich halte es für wahrscheinlich,
daß in 50 Jahren Jugendliche uns Uralte entsetzt fragen werden, wieso man ohne
irgendwelche Skrupel mit Nationen Handel trieb, die Frauen steinigten und
Schwule aufknüpften.
Es ist unredlich mit dem heutigen Wissen rückblickend zu
glauben, jeder hätte damals schon erkennen müssen wie verletzend die allgemeine
Ignoranz war.
Der Humanismus unterliegt einem evolutionären Prozess.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich die Menschen in 100
Jahren, sofern es die Rasse dann noch gibt, ähnlich gruseln, wenn sie auf das
Verhalten des Homo Sapiens aus dem Jahr 2020 zurückblicken.
Fehlende Tierrechte, Fleischkonsum, rücksichtslose
Umweltzerstörung durch Individualverkehr und Flugreisen, Interagieren ohne
Hygienemaßnahmen, nationale Egoismen, jeden Tag zehntausende Kinder verhungern
lassen, Kriege mit Waffenlieferungen anzufachen, Gefängnisstrafen für
Drogenkonsum, Verbot des Suizids, Apparatemedizin, Endlagern von Millionen
Senioren, Religionsvertreter in TV-Räten und Ethikkommission, Energiegewinnung
durch Steinkohle- und Erdölverbrennung.
Gut möglich, daß man einst so fassungslos auf die heute
völlig normalen Dinge sieht, wie wir heute „Schauneger in Hagenbeck“ oder die
Nürnberger Rassegesetze.
Wir müssen und jetzt, in der Gegenwart weiterentwickeln;
unsere Ansichten und unser Verhalten ändern.
Einige sehen das natürlich früher ein als die große Masse
und werden sehr viel Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit leisten.
Wir dürfen uns dabei aber nicht als moralische Herren über
die Menschen früherer Jahrhunderte aufspielen und so tun, als ob wir selbst
damals anders gehandelt hätten.
Es ist lächerlich Verbote von Fernsehserien aus den 1970ern oder
1980ern zu fordern, weil sie sexistisch wären.
Natürlich sind sie das, weil die ganze Welt es war.
Es ist lächerlich Mark Twain zu verdammen, weil er
inflationär den Begriff „Nigger“ gebrauchte. Das Buch „die Abenteuer des Tom Sawyer“
erschien 1876; wie hätten wohl sonst die Schwarzen damals in den US-Südstaaten genannt
werden sollen?
Wir lesen Twain heute mit dem Wissen von 2020 und können die
Sprache historisch einordnen.
Wir sind gebildet und müssen daher unterscheiden zwischen
Zeit-typischer Sprache und beabsichtigtem Rassismus.
Überraschung, der Mensch entwickelt sich weiter und ist
lernfähig.
Auch ich habe einst bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit
Zigaretten geraucht, habe mir keine Sekunde darüber Gedanken gemacht, daß
Kinder in meiner Nachbarschaft beschnitten werden und konnte sogar in der
Sportumkleide Dutzende andere Jungs ansehen, ohne daß auch nur ein einziges mal
der Gedanke an Achsel- oder Genitalbehaarung durch meinen Kopf schwirrte. Es
gab damals noch kein Bewußtsein dafür sich jedes Haar am Körper sofort
abrasieren zu müssen.
Aber wir entwickeln uns, wenn auch nicht ausschließlich in
die richtige Richtung. Gut möglich, daß man in ein paar Hundert Jahren
fassungslos auf die tätowierten, glattrasierten und Silikon-implantierten
Körper des frühen 21. Jahrhunderts gucken wird.
Wir sollen aufmerksam und aufgeklärt in die Vergangenheit
blicken, uns aber nicht aufspielen, als hätten wir es schon immer besser
gewußt.
Ich fordere einen liberalen Umgang mit den Verfehlungen der
Vergangenheit.
Ja, auch ein Helmut Schmidt hat 1960 womöglich mal einen
Satz gesagt, der heute ganz schlecht klingt.
Ja, Kamala Harris hat in ihrem Job als Staatsanwältin
vielleicht in dem ein oder anderen Fall zu hart agiert.
Ja, Olaf Scholz hat die G20-Proteste unterschätzt.
Ja, Joe Biden hat in den 1970ern aus heutiger Sicht
fragwürdige Ansichten zum „Bussing“ vertreten.
Na und?
Es ist gut sich weiter zu entwickeln.
Nicht zu tolerieren ist allerdings wenn auch im Jahr 2020
noch hunderte Millionen Protestanten einen der schlimmsten Antisemiten aller
Zeiten – Martin Luther – folgen, ihre Kirchen und Einrichtungen nach ihm
benennen.
Und schon gar nicht darf man heute noch einen Typen Namens
Jesus Christus und die Bibel zum moralischen Maßstab erheben.
Dort wird explizit Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und
neben vielen anderen Bösartigkeiten mehr auch die Sklaverei eingefordert.
Jesus befürwortete Sklaverei, weil er ein Kind seiner Zeit
war.
Wir dürfen aber im Jahr 2020 natürlich nicht mehr Jesus und
seinen Ansichten folgen.
God is cancelled