Freitag, 7. Juni 2019

Teutonenphlegma


Deutsche Wähler, insbesondere die Westdeutschen, sind extrem phantasielos und ängstlich. Daher konnte sich hier das etablierte Parteiensystem viel länger als in anderen europäischen Staaten behaupten.
Deutsche gewöhnen sich nicht leicht um; sie wollen am liebsten, daß alles so bleibt, wie es immer war.
Wenn sich überhaupt etwas ändert, wird es eher von oben initiiert. Von Regierungschefs, die nicht nur an ihren nächsten Wahltermin denken, sondern das langfristigere Wohl Deutschlands im Blick haben.
An echte Änderungen haben sich bisher nur die drei sozialdemokratischen Kanzler Brandt, Schmidt und Schröder gewagt und für alle drei endete ihre politische Karriere frühzeitig.
Wenn man hingegen fest die Augen vor der Zukunft verschließt, bräsig jede Änderung blockiert und nur mit Begriffen wie „Kontinuität, Stabilität und Verlässlichkeit“ wirbt, kann man gefühlte Ewigkeiten im Amt bleiben, alles aussitzen und wird wie Adenauer, Kohl und Merkel vom Gewohnheitstier Wähler immer wieder bestätigt.
Na gut, wie haben zwar das langsamste Internet Europas, die Infrastruktur verfällt, wir können kein Mobiltelefon oder Elektroauto bauen, wir sind bei der Gentechnik genau wie bei der Künstlichen Intelligenz international abgehängt, weil Merkel niemals initiativ wurde und Vorgaben machte. Und so fallen wir täglich zurück. Deutschland kann kein Windrad offshore aufstellen, scheitert an Großprojekten und hält sich eine Bundeswehr, in der nur Jahrzehnte alter Schrott rumsteht, da die Anschaffung neuer Waffensysteme so viele Dekaden durchdiskutiert wird, daß sie bei Auslieferung schon lange verwaltet sind.
Symptomatisch dafür steht die Gorch Fock, das nicht mehr schwimmfähige Marine-Schulschiff, an dessen Sanierung das geballte Knowhow der Verteidigungsministeriums und der Marine scheitert. Es wurde 1958 für 10 Millionen DM gebaut. Seit 2015 wird das Schiff bei der Elsflether Werft in einem Schwimmdock in Bremerhaven saniert. Bisher wurden dafür 135 Millionen Euro verprasst. Wann das Schiff jemals wieder schwimmfähig ist, steht in den Sternen. Im besten Fall funktioniert das Kadettenausbildungsschiff in ein paar Jahren nach einigen weiteren hundert Millionen Euro Kosten wieder und Deutschland kann stolz sein auf seine Marine auf dem technischen Stand von vor 75 Jahren. Man sollte meinen, daß heutzutage von der Bundesmarine andere Fertigkeiten beherrscht werden sollten. Moderne Aufklärung, Drohneneinsatz, Tarnkappentechnik, Mobilität zu Luft. Aber wozu? Die deutschen Marinehubschrauber funktionieren sowieso alle nicht, Drohnen können wir nicht nur nicht herstellen, sondern sind seit zehn Jahren sogar zu doof welche zu kaufen. 500 Millionen hatte Ex-Verteidigungsminister de Maizière bei dem Versuch „Euro Hawk“-Drohen zu beschaffen, versenkt.
Das Projekt wurde eingestellt und immerhin besteht in den folgenden sechs Jahren Konsens darüber, daß man das Desaster nicht erklären kann und die technischen Probleme unlösbar sind.
Das ist eben Deutschland: Vollkommen unfähige und überforderte CDU-Minister und eine Regierungschefin, der das alles vollkommen egal ist.

Aber den deutschen Michel stört es scheinbar nicht. Die Bundeskanzlerin, die sich nach ihrem Verzicht auf den CDU-Parteivorsitz de facto gar nicht mehr um deutsche Politik kümmert und nur noch als präsidiale Sagengestalt über allem schwebt, erlebt ein neues demoskopisches Hoch, ist die mit Abstand beliebteste Politikerin.
Kein Wunder, denn Merkel „tut uns nichts“.
All die bösen Zukunftsthemen, die andere Politiker ansprechen und die uns erahnen lassen, daß es nicht immer so weitergehen kann – Pflegekatastrophe, Klimaerhitzung, Altersarmut – werden nicht mit der freundlichen Frau Merkel aus der Uckermark assoziiert.
Merkels bestes Wahlkampfargument ist nach wie vor, daß sie vorher schon lange Bundeskanzlerin war.
Ihre Untertanen mögen sich nichts anderes vorstellen.
Gegenwärtig haben wir die 19. Wahlperiode des Bundestages. Bei 19 Wahlen wurde nur ein einziges Mal eine völlig neue Regierung gewählt, als nämlich 1998 CDU-CSU-FDP durch SPD-GRÜNE ersetzt wurde.
Bei allen anderen Wahlen wurde mindestens eine Regierungspartei auch in die neue Regierung gewählt.
„Keine Experimente“, der berühmte CDU-Wahlslogan darf getrost als Motto für die Gesamtwählerschaft gelten.

Andere Nationen haben ein völlig anderes Demokratieverständnis und zelebrieren mit Lust möglichst radikale Wechsel, auch wenn es dazu keinen Grund gibt.
Man erinnere sich an die US-Wahl vom November 2000, als Bill Clinton die beste ökonomische Bilanz aller Zeiten hinterließ, Amerika international geachtet war und seine Zustimmungswerte Rekordhöhen erreichten.
Man hätte diese Politik fortführen können, indem man seinen intelligenten und sehr erfahrenen Vizepräsidenten Al Gore ins Weiße Haus schickt.
Aber nein, das Ami-Volk entschied sich für den Deppen GWB, der vorher nich nie im Ausland war und immer wieder mit sagenhafter Unkenntnis auffielt.
Das Ergebnis ist bekannt. Er zettelte nicht nur mehrere Kriege an, sondern stürzte auch die US-Wirtschaft in eine Rezession – inklusive Rekordschulden und der schwersten Weltfinanzkrise seit 80 Jahren.
2008 und 2016 entschieden die Amis erneut für die radikalen Wechsel.
In Italien beispielsweise ist es geradezu Volkssport denjenigen zu wählen, der am Verrücktesten wirkt.

In Deutschland gab es bisher nur CDU- und SPD-Kanzler, weil es immer nur SPD- und CDU-Kanzler gab.
Man kann sich nichts anderes vorstellen und die anderen Parteien finden sich mit der Rolle ab. Guido Westerwelle nannte sich einmal „Kanzlerkandidat“ und wurde dafür herzlich ausgelacht.

1988, nach fast 40 Jahren Bundesrepublik wurde Heide Simonis im kleinen Land Schleswig-Holstein die erste weibliche Landesfinanzministerin.
In elf Ländern und dem Bund; also gewissermaßen 12 mal 40 = 480 Jahre; amtierten nur Männer. „Frauen können doch nicht mit Geld umgehen“. Kernressorts sind nur für Männer; war immer so, soll immer so bleiben.
Die HartzIV-Kritiker haben seit 15 Jahren die Möglichkeit einfach DIE LINKE, also die einzige Partei, die Hartz wieder abschaffen will, zu wählen. Tun sie aber nicht, weil die Fantasie dazu fehlt, daß Linke in der Bundesregierung sitzen könnten.

Lange Zeit galt es als undenkbar Grüne in die Bundesregierung zu schicken. Es könnte doch nicht EIN GRÜNER, womöglich auf Turnschuhen, Deutschland repräsentieren. Fast 20 Jahre wurde täglich vor dem dann folgenden „rotgrünen Chaos“ gewarnt. Und nichts hasst der gemeine Teutone so sehr wie Chaos in der Regierung.
Nur durch einmalige außergewöhnliche Umstände, wird politisch etwas gewagt.
2011 gab es so eine Konstellation, als ein extrem unbeliebter MP Mappus, heimlich und dubios für fünf Milliarden Euro den Atomenergiekonzern EnBW kaufte, die Landeshauptstadt im Stuttgart21-Chaos unterging und dann auch noch Fukushima explodierte.
Nur so konnte mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner Regierungschef werden. Ein MP, der sogar wiedergewählt wurde, da man sich inzwischen an ihn gewöhnt hatte.
1998 gab es ebenfalls außergewöhnliche Umstände, weil Helmut Kohl nach 16 Jahren einen gewaltigen Reformstau aufgetürmt hatte, sich vollkommen starrsinnig weigerte irgendjemand in der CDU Platz zu machen, Deutschland die höchsten Steuern aller Zeiten aufgebrummt hatte und zudem mit Gerd Schröder ein besonders dynamischer SPD-Kandidat antrat, der nicht nur eloquent redete, sondern in acht Jahren als Ministerpräsident von Niedersachsen bewiesen hatte, daß er regieren kann.

Auch 2019 könnte ein Jahr mit einer außergewöhnlichen Konstellation sein.
Enorme Groko-Müdigkeit, sich weltweit manifestierende Klimakrise und gleich mehrere Parteichefs, die mit kaum je dagewesener Unfähigkeit auffallen.
Nicht nur Nahles und AKK debakulierten in den letzten Monaten auf hohem Niveau, sondern auch die kleinen Parteien werden durch Megafinanzskandale (AfD), brutalen Führungsstreit (Linke Wagenknecht) oder extreme Widerlichkeit (Lindner) gebeutelt.
Bleiben nur die Grünen, die erstens das Glück haben, daß die Jungwähler sich nicht mehr daran erinnern, wie sie 1998-2005 noch radikaler als die SPD soziale Einschnitte forderten, HartzIV bewarben und in einen Krieg ohne UN-Mandat zogen. Und die zweitens genau zum richtigen Zeitpunkt Europawahlen hatten; denn im „fernen Europa“ experimentieren deutsche Wähler schon eher.
Das 20%-Rekordergebnis vom 26.05. hat nicht nur zwei Parteichefinnen in extreme Schwierigkeiten gebracht, sondern dem Wähler etwas vor Augen geführt, das er sich bisher nicht vorstellen konnte:
Ein Grüner im Kanzleramt!
Bisher war das ausgeschlossen, da man nur das wählte, was wahrscheinlich war.
Deutsche Wähler hängen sich gern an Trends, wollen auf keinen Fall den Wahlverlierer angekreuzt haben. Man will zu den Gewinnern gehören und springt auf den Zug, der kurz vor der Wahl demoskopisch am besten dasteht.

Bei einer SPD im freien Fall, einer völlig überforderten CDU-Führung ohne Konzept und zudem einer LINKEN, die einfach abgetaucht ist und im Wagenknecht-Vakuum gar nicht mehr medial vorkommt, wird auch einmal das Vorstellbare, konkret denkbar. Ja, Robert Habeck könnte wirklich Kanzler werden. Und wäre das nicht irgendwie besser als Scholz oder AKK?
Der Gedanke beflügelt und ganz ohne irgendein inhaltliches Argument machen die Grünen als Inkarnation der selbsterfüllenden Prophezeiung seit der Europawahl weitere gewaltige Sprünge. Erfolg generiert Erfolg.
Schon zwei Institute – Forsa und Infratest Dimap – sehen die Grünen als stärkste Partei in Deutschland. Vor der CDU. Bis vor kurzem unvorstellbar. Aber da nun die Vorstellung möglich ist, kann es weiter bergauf gehen.