Deutsche Wähler, insbesondere die Westdeutschen, sind extrem
phantasielos und ängstlich. Daher konnte sich hier das etablierte
Parteiensystem viel länger als in anderen europäischen Staaten behaupten.
Deutsche gewöhnen sich nicht leicht um; sie wollen am
liebsten, daß alles so bleibt, wie es immer war.
Wenn sich überhaupt etwas ändert, wird es eher von oben initiiert. Von Regierungschefs, die nicht nur an ihren nächsten Wahltermin denken, sondern das langfristigere Wohl Deutschlands im Blick haben.
Wenn sich überhaupt etwas ändert, wird es eher von oben initiiert. Von Regierungschefs, die nicht nur an ihren nächsten Wahltermin denken, sondern das langfristigere Wohl Deutschlands im Blick haben.
An echte Änderungen haben sich bisher nur die drei
sozialdemokratischen Kanzler Brandt, Schmidt und Schröder gewagt und für alle
drei endete ihre politische Karriere frühzeitig.
Wenn man hingegen fest die Augen vor der Zukunft
verschließt, bräsig jede Änderung blockiert und nur mit Begriffen wie „Kontinuität,
Stabilität und Verlässlichkeit“ wirbt, kann man gefühlte Ewigkeiten im Amt
bleiben, alles aussitzen und wird wie Adenauer, Kohl und Merkel vom
Gewohnheitstier Wähler immer wieder bestätigt.
Na gut, wie haben zwar das langsamste Internet Europas, die
Infrastruktur verfällt, wir können kein Mobiltelefon oder Elektroauto bauen,
wir sind bei der Gentechnik genau wie bei der Künstlichen Intelligenz international
abgehängt, weil Merkel niemals initiativ wurde und Vorgaben machte. Und so
fallen wir täglich zurück. Deutschland kann kein Windrad offshore aufstellen,
scheitert an Großprojekten und hält sich eine Bundeswehr, in der nur Jahrzehnte
alter Schrott rumsteht, da die Anschaffung neuer Waffensysteme so viele Dekaden
durchdiskutiert wird, daß sie bei Auslieferung schon lange verwaltet sind.
Symptomatisch dafür steht die Gorch Fock, das nicht mehr
schwimmfähige Marine-Schulschiff, an dessen Sanierung das geballte Knowhow
der Verteidigungsministeriums und der Marine scheitert. Es wurde 1958 für 10 Millionen
DM gebaut. Seit 2015 wird das Schiff bei der Elsflether Werft in einem Schwimmdock
in Bremerhaven saniert. Bisher wurden dafür 135 Millionen Euro verprasst. Wann das
Schiff jemals wieder schwimmfähig ist, steht in den Sternen. Im besten Fall
funktioniert das Kadettenausbildungsschiff in ein paar Jahren nach einigen
weiteren hundert Millionen Euro Kosten wieder und Deutschland kann stolz sein
auf seine Marine auf dem technischen Stand von vor 75 Jahren. Man sollte
meinen, daß heutzutage von der Bundesmarine andere Fertigkeiten beherrscht
werden sollten. Moderne Aufklärung, Drohneneinsatz, Tarnkappentechnik, Mobilität
zu Luft. Aber wozu? Die deutschen Marinehubschrauber funktionieren sowieso alle
nicht, Drohnen können wir nicht nur nicht herstellen, sondern sind seit zehn
Jahren sogar zu doof welche zu kaufen. 500 Millionen hatte
Ex-Verteidigungsminister de Maizière bei dem Versuch „Euro Hawk“-Drohen zu
beschaffen, versenkt.
Das Projekt wurde eingestellt und immerhin besteht in den
folgenden sechs Jahren Konsens darüber, daß man das Desaster nicht erklären
kann und die technischen Probleme unlösbar sind.
Das ist eben Deutschland: Vollkommen unfähige und
überforderte CDU-Minister und eine Regierungschefin, der das alles vollkommen
egal ist.
Aber den deutschen Michel stört es scheinbar nicht. Die Bundeskanzlerin,
die sich nach ihrem Verzicht auf den CDU-Parteivorsitz de facto gar nicht mehr
um deutsche Politik kümmert und nur noch als präsidiale Sagengestalt über allem
schwebt, erlebt ein neues demoskopisches Hoch, ist die mit Abstand beliebteste
Politikerin.
Kein Wunder, denn Merkel „tut uns nichts“.
All die bösen Zukunftsthemen, die andere Politiker ansprechen
und die uns erahnen lassen, daß es nicht immer so weitergehen kann –
Pflegekatastrophe, Klimaerhitzung, Altersarmut – werden nicht mit der
freundlichen Frau Merkel aus der Uckermark assoziiert.
Merkels bestes Wahlkampfargument ist nach wie vor, daß sie
vorher schon lange Bundeskanzlerin war.
Ihre Untertanen mögen sich nichts anderes vorstellen.
Ihre Untertanen mögen sich nichts anderes vorstellen.
Gegenwärtig haben wir die 19. Wahlperiode des Bundestages.
Bei 19 Wahlen wurde nur ein einziges Mal eine völlig neue Regierung gewählt,
als nämlich 1998 CDU-CSU-FDP durch SPD-GRÜNE ersetzt wurde.
Bei allen anderen Wahlen wurde mindestens eine
Regierungspartei auch in die neue Regierung gewählt.
„Keine Experimente“, der berühmte CDU-Wahlslogan darf
getrost als Motto für die Gesamtwählerschaft gelten.
Andere Nationen haben ein völlig anderes
Demokratieverständnis und zelebrieren mit Lust möglichst radikale Wechsel, auch
wenn es dazu keinen Grund gibt.
Man erinnere sich an die US-Wahl vom November 2000, als Bill
Clinton die beste ökonomische Bilanz aller Zeiten hinterließ, Amerika
international geachtet war und seine Zustimmungswerte Rekordhöhen erreichten.
Man hätte diese Politik fortführen können, indem man seinen intelligenten
und sehr erfahrenen Vizepräsidenten Al Gore ins Weiße Haus schickt.
Aber nein, das Ami-Volk entschied sich für den Deppen GWB,
der vorher nich nie im Ausland war und immer wieder mit sagenhafter Unkenntnis
auffielt.
Das Ergebnis ist bekannt. Er zettelte nicht nur mehrere
Kriege an, sondern stürzte auch die US-Wirtschaft in eine Rezession – inklusive
Rekordschulden und der schwersten Weltfinanzkrise seit 80 Jahren.
2008 und 2016 entschieden die Amis erneut für die radikalen
Wechsel.
In Italien beispielsweise ist es geradezu Volkssport
denjenigen zu wählen, der am Verrücktesten wirkt.
In Deutschland gab es bisher nur CDU- und SPD-Kanzler, weil
es immer nur SPD- und CDU-Kanzler gab.
Man kann sich nichts anderes vorstellen und die anderen
Parteien finden sich mit der Rolle ab. Guido Westerwelle nannte sich einmal „Kanzlerkandidat“
und wurde dafür herzlich ausgelacht.
1988, nach fast 40 Jahren Bundesrepublik wurde Heide Simonis
im kleinen Land Schleswig-Holstein die erste weibliche Landesfinanzministerin.
In elf Ländern und dem Bund; also gewissermaßen 12 mal 40 =
480 Jahre; amtierten nur Männer. „Frauen können doch nicht mit Geld umgehen“.
Kernressorts sind nur für Männer; war immer so, soll immer so bleiben.
Die HartzIV-Kritiker haben seit 15 Jahren die Möglichkeit
einfach DIE LINKE, also die einzige Partei, die Hartz wieder abschaffen will,
zu wählen. Tun sie aber nicht, weil die Fantasie dazu fehlt, daß Linke in der
Bundesregierung sitzen könnten.
Lange Zeit galt es als undenkbar Grüne in die
Bundesregierung zu schicken. Es könnte doch nicht EIN GRÜNER, womöglich auf
Turnschuhen, Deutschland repräsentieren. Fast 20 Jahre wurde täglich vor dem
dann folgenden „rotgrünen Chaos“ gewarnt. Und nichts hasst der gemeine Teutone
so sehr wie Chaos in der Regierung.
Nur durch einmalige außergewöhnliche Umstände, wird
politisch etwas gewagt.
2011 gab es so eine Konstellation, als ein extrem
unbeliebter MP Mappus, heimlich und dubios für fünf Milliarden Euro den
Atomenergiekonzern EnBW kaufte, die Landeshauptstadt im Stuttgart21-Chaos
unterging und dann auch noch Fukushima explodierte.
Nur so konnte mit Winfried Kretschmann erstmals ein Grüner
Regierungschef werden. Ein MP, der sogar wiedergewählt wurde, da man sich
inzwischen an ihn gewöhnt hatte.
1998 gab es ebenfalls außergewöhnliche Umstände, weil Helmut
Kohl nach 16 Jahren einen gewaltigen Reformstau aufgetürmt hatte, sich vollkommen
starrsinnig weigerte irgendjemand in der CDU Platz zu machen, Deutschland die
höchsten Steuern aller Zeiten aufgebrummt hatte und zudem mit Gerd Schröder ein
besonders dynamischer SPD-Kandidat antrat, der nicht nur eloquent redete,
sondern in acht Jahren als Ministerpräsident von Niedersachsen bewiesen hatte,
daß er regieren kann.
Auch 2019 könnte ein Jahr mit einer außergewöhnlichen
Konstellation sein.
Enorme Groko-Müdigkeit, sich weltweit manifestierende
Klimakrise und gleich mehrere Parteichefs, die mit kaum je dagewesener
Unfähigkeit auffallen.
Nicht nur Nahles und AKK debakulierten in den letzten Monaten
auf hohem Niveau, sondern auch die kleinen Parteien werden durch
Megafinanzskandale (AfD), brutalen Führungsstreit (Linke Wagenknecht) oder
extreme Widerlichkeit (Lindner) gebeutelt.
Bleiben nur die Grünen, die erstens das Glück haben, daß die
Jungwähler sich nicht mehr daran erinnern, wie sie 1998-2005 noch radikaler als
die SPD soziale Einschnitte forderten, HartzIV bewarben und in einen Krieg ohne
UN-Mandat zogen. Und die zweitens genau zum richtigen Zeitpunkt Europawahlen
hatten; denn im „fernen Europa“ experimentieren deutsche Wähler schon eher.
Das 20%-Rekordergebnis vom 26.05. hat nicht nur zwei
Parteichefinnen in extreme Schwierigkeiten gebracht, sondern dem Wähler etwas
vor Augen geführt, das er sich bisher nicht vorstellen konnte:
Ein Grüner im Kanzleramt!
Bisher war das ausgeschlossen, da man nur das wählte, was wahrscheinlich war.
Ein Grüner im Kanzleramt!
Bisher war das ausgeschlossen, da man nur das wählte, was wahrscheinlich war.
Deutsche Wähler hängen sich gern an Trends, wollen auf
keinen Fall den Wahlverlierer angekreuzt haben. Man will zu den Gewinnern
gehören und springt auf den Zug, der kurz vor der Wahl demoskopisch am besten
dasteht.
Bei einer SPD im freien Fall, einer völlig überforderten
CDU-Führung ohne Konzept und zudem einer LINKEN, die einfach abgetaucht ist und
im Wagenknecht-Vakuum gar nicht mehr medial vorkommt, wird auch einmal das
Vorstellbare, konkret denkbar. Ja, Robert Habeck könnte wirklich Kanzler
werden. Und wäre das nicht irgendwie besser als Scholz oder AKK?
Der Gedanke beflügelt und ganz ohne irgendein inhaltliches Argument machen die Grünen als Inkarnation der selbsterfüllenden Prophezeiung seit der Europawahl weitere gewaltige Sprünge. Erfolg generiert Erfolg.
Der Gedanke beflügelt und ganz ohne irgendein inhaltliches Argument machen die Grünen als Inkarnation der selbsterfüllenden Prophezeiung seit der Europawahl weitere gewaltige Sprünge. Erfolg generiert Erfolg.
Schon zwei Institute – Forsa
und Infratest Dimap – sehen die Grünen als
stärkste Partei in Deutschland. Vor der CDU. Bis vor kurzem unvorstellbar. Aber
da nun die Vorstellung möglich ist, kann es weiter bergauf gehen.