Nach zwei Monaten Verhandlungen liegt nun der 177-seitige Koalitionsvertrag vor. Die Ressorts sind wie folgt auf die Parteien verteilt:
SPD: Kanzler, Kanzleramtsminister, Verteidigung, Gesundheit, Bau, Innen/Heimat, Entwicklungshilfe, Soziales
Grüne: Vizekanzler, Außen, Umwelt/Verbraucher, Wirtschaft/Klima, Familie, Landwirtschaft/Ernährung.
FDP: Finanzen, Justiz, Verkehr/Digital, Bildung/Forschung
Das sieht durchaus so aus, als ob sich die FDP ihre Lieblingsministerien sichern konnte, bei denen man Wohltaten verteilen kann, die Grünen für die modernen Themen stehen, während die SPD die Brocken aufgehalst bekam, mit denen man nichts gewinnen kann und Ärger vorprogrammiert ist. Das Lobby-durchseuchte Gesundheitsministerium, die notorisch Skandal-anfälligen Geheimdienste, die hoffnungslos marode Bundeswehr, die Migrationsproblematik und alles, das peinlich durch Nazi-Seilschaften auffällt.
Parteipolitisch wäre es angenehmer, solche Aufgaben der FDP zu überlassen, so daß sie sich mit der schlechten Presse herumschlagen muss. Praktisch ist es aber kaum zielführend, die schwierigsten Posten, der Partei mit dem hilflosesten Personal zu geben. Die SPD hat die besten Leute, muss also auch die dicksten Bretter bohren.
Erstaunlicherweise urteilen Journalisten, Gewerkschaften, Umweltverbände, Unternehmer jetzt schon über die nächste Regierung. FFF und Greenpeace wissen bereits ‚das reicht nicht‘, um den Klimawandel aufzuhalten, der Kohleausstieg gehe viel zu langsam. Unternehmer verzweifeln während ihrer immer neuen Rekordgewinn-Margen am 12-Euro-Mindestlohn, der Kohlebergbau stöhnt über den viel zu schnellen Kohleausstieg und es gibt sogar eine Gruppe, die rundherum zufrieden ist: Die Queeren; sie bekommen alles, von dem sie zu träumen wagte, erfüllt. LGBTIQ-Durchmarsch auf allen Ebenen. Dazu noch das Ende des skandalösen §219a und die Cannabis-Legalisierung.
Die letzten Punkte werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zügig abgearbeitet, weil keine der drei Koalitionsparteien ernsthafte Vorbehalte im Regenbogenbereich hat und es um keine Vorhaben geht, die viel Geld kosten.
Das auch als kleiner Hinweis an alle Nicht- und Protestwähler, die in den sozialen Medien beklagen „die Politiker“ wären doch alle gleich, es wäre egal wer regiere.
Nein, das ist es eben nicht. Hier sehen wir eine ganze Kaskade von gesetzlichen grundsätzlichen gesellschaftlichen Änderungen, die eben nicht in einer Koalition mit den Ewiggestrigen der CDUCSU gehen.
Abgesehen von diesen gesellschaftspolitischen Neuerungen halte ich alle Urteile über Sozial-, Finanz-, Klima-, Energie-, Gesundheits-, Pandemie-, Bau-, Außen- und Verteidigungspolitik für reine Vorurteile. Niemand kann heute wissen, wie die Ampel, deren drei Parteien alle noch nicht diesem Vertrag zugestimmt haben, am Ende der Legislatur dastehen wird.
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Wer erinnert sich an den Groko-Vertrag vom März 2018? Große Teile des damals Vereinbarten sind nicht nur längt vergessen, sondern auch angesichts der neuen Entwicklungen (Pandemie!) obsolet.
Verurteilungen der neuen Regierungen sind also extrem verführt und ob es für Greenhorn Lindner, der noch nie eine Behörde leitete, noch nie Regierungsverantwortung trug, über gar keine Erfahrungen verfügt, so ein Spaziergang wird, Kassenwart zu sein, sei auch dahin gestellt. Das Finanzministerium inklusive Zoll hat 63.000 Mitarbeiter, die alle von einem Mann ohne jede Steuer- oder Finanzexpertise dirigiert werden sollen?
Ein normales Einarbeiten und Hineingleiten in den Regierungsalltag wird es ohnehin nicht geben.
[….] In gut 70 Jahren Bundesrepublik durfte sich noch jede neue Regierungskoalition der Macht in dem Wissen nähern, dass sicher auch schwierige Tage kommen, aber dass bis dahin noch ein bisschen Zeit vergeht. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat das Schlimmste nicht erst noch vor sich, sie steckt schon mitten drin. So wie das ganze Land. In seinem täglichen Lagebericht vermeldet das Robert-Koch-Institut am Mittwoch einen Rekord. 66 884 Menschen haben sich neu mit Corona infiziert. Der Inzidenzwert beträgt 404,5. […]
(SZ, 24.11.2021)
Insbesondere die FDP wird sich von Sprüchen ihrer Hauptköpfe Wissing, Buschmann, Lindner und Kubicki distanzieren müssen.
Vor dreieinhalb Wochen hatte der parlamentarische Geschäftsführer und künftige Bundesjustizminister Marco Buschmann noch großmäulig getönt:
[….] SPD, Grüne und FDP beenden die epidemische Lage von nationaler Tragweite. Denn es droht keine systemische Überlastung des Gesundheitssystems mehr. Trotzdem gehen von Corona weiter Gefahren aus. Aber die sind mit milderen Mitteln beherrschbar. [….]
(M. Buschmann, 27.10.2021 im FAZ-Interview)
Und vor erst zwei Wochen ließ FDP-Generalsekretär und zukünftiger Bundeverkehrsminister Wissing, also quasi der neue Scheuer, wissen:
[….] „Unser Gesundheitssystem ist stabil, die Gesundheitsversorgung der Bürger gesichert, die ‚epidemische Notlage von nationaler Tragweite’ kann aufgehoben werden“ [….]
(FDP-Generalsekretär Volker Wissing, 08.11.2021)
Kubicki und Lindner äußerten nicht weniger hanebüchenen Corona-Unsinn, der jedem Aluhut-Blog Ehre macht.
Es ist nicht sehr angenehm sich vorzustellen, daß Minister mit so einer katastrophalen Fehlwahrnehmung im Kabinett sitzen.
Aber die Entwicklung zeigt auch wie rasant FDP-Positionen abgeräumt werden können. Die Neu-Minister werden diese Sätze sicher jetzt schon bedauern und sogar das böse Wort Impfpflicht; bisher ein absolutes rotes Tuch für die Gelben; wird auf einmal als ultima ratio in den Mund genommen.
Möglicherweise begreifen sogar Lindners Leute, wie verheerend und falsch die Ausschließeritis-Bekundungen in einer Pandemie sind. Keine Impfpflicht, keine Lockdowns zu wollen, ist das Eine. Wer möchte das schon gern?
Aber fest zu versprechen, es werde niemals dazu kommen, obwohl jedem Experten klar war, daß wir in eine Situation stolpern, in der das eben nicht mehr zu vermeiden ist, kann man „bescheuert“ (Sascha Lobo) nennen. Vielleicht beißen sich Wissing und Buschmann zukünftig noch mal auf die Zunge, bevor sie öffentlich losschwurbeln.
Auch die zukünftige Außenministerin Baerbock hatte vor der Wahl bei jeder Frage nach der Impfpflicht gelogen, das wäre rechtlich gar nicht machbar. Nun ist sie eingeknickt und erklärt öffentlich, eine Impfpflicht könne durchaus möglich sein.
Buschmann, Lindner und Spahn hatten zudem bis vor wenigen Tagen insofern gelogen, als sie Impfpflicht und Impfzwang gleich setzten.
[….] Man muss sich aber die Frage stellen, was mit einer allgemeinen Impflicht gewonnen wird. Verantwortungsethisch muss man berücksichtigen, dass viele Gesundheitsminister vortragen, dass sie mit einer solchen Pflicht Personal verlieren würden. Da wäre eine harte Testpflicht das bessere Instrument. Zudem könnte man eine allgemeine Impfpflicht kaum durchsetzen. Ich kann mir in unserem Rechtsstaat nicht vorstellen, dass die Polizei bei jemandem vorfährt, ihn ins Auto packt und die Person dann unter Zwang geimpft wird. [….]
Die durch das politische Totalversagen in Deutschland zusätzlich mindestens 100.000 Toten, sind offenbar kein ausreichender Ansporn für Lindner oder den immer noch gegen eine Impfpflicht streitenden Jens Spahn, Maßnahmen zu ergreifen, um Menschenleben zu retten.
[…..] SPIEGEL: Wie oft haben Sie sich schon dafür verflucht, dass Sie von Anfang an eine Impfpflicht ausgeschlossen haben?
Spahn: Noch nie. Wollen Sie im Ernst über eine allgemeine Impfpflicht reden? Ich habe das Bild schon vor Augen, wie wir Sahra Wagenknecht dann mit der Landespolizei zum Impfen schleppen. Das ist absurd, eine allgemeine Impfpflicht wäre nicht durchzusetzen. Das würde unser Land zerreißen. […..]
Weil das absurd ist, nimmt Spahn lieber weitere 100.000 Tote in Kauf. Das ist viel weniger absurd?
(Verbotene Corona-Gedanken, 12.11.2021)
Das ist a) perfide und b) für einen Volljuristen und zukünftigen Justizminister höchst unseriös.
Spahn und Buschmann beschreiben hier nämlich Impfzwang, den in der Tat niemand fordert, der auch nicht durchsetzbar wäre. Impfpflicht bedeutet aber gerade nicht, Wagenknecht von Spezialkräften fesseln, abholen und gegen ihren Willen impfen zu lassen. Sie könnte weiterhin ungeimpft bleiben. Eine Altenpflegerin könnte auch nicht gegen ihren Willen geimpft werden. Sie würden aber daran gehindert werden, ihren alten Job auszuüben, hätten keinen Zutritt mehr zu allen 2G-Räumen. Sofern sie allein zu Hause sitzen bleiben, dürfen sie da gern ungeimpft bleiben.
Noch kann man also insbesondere bei der FDP nicht von seriöser Arbeit sprechen.
Aber weder haben SPD, Grüne und Linke den Koalitionsvertrag abgesegnet, noch kennen wir die vollständige Kabinettsliste, noch ist Olaf Scholz zum Kanzler gewählt. Und vier Jahre Ampel-Regierung sind schon gar nicht vorbei.
Für endgültige Urteile müssen wir noch warten.