Die dramatische Auszählerei zieht sich hin; wir wissen immer noch nicht, ob sich Trump im Amt halten kann.
Ein paar Gewissheiten gibt es aber schon.
Nach derzeitigem Auszählungsstand bekam Biden 72,5 Millionen Stimmen und damit fast vier Millionen Stimmen mehr als Trump.
Noch nie in der US-amerikanischen Geschichte bekam ein Kandidat in absoluten Zahlen mehr votes als Biden.
Da noch weitere 15 Millionen Stimmen ausgezählt werden müssen, wird der uralte Demokrat am Ende wohl fünf Millionen Stimmen mehr als Trump haben und könnte dennoch verlieren.
Wahlverlierer mit einem Fünf-Millionen-Stimmenvorsprung zu werden, ist ebenfalls all-time-record und stellt Hillary Clintons Rekord von 2019, als sie mit 2,9 Millionen Stimmen vor Trump lag und dennoch verlor, in den Schatten.Wie verrottet und ungerecht das Wahlsystem ist, wird spätestens jetzt für jeden offensichtlich.
Reiche weißte Wähler auf dem Land haben ein viel stärkeres Stimmengewicht, als arme städtische People Of Color.
Da das System in so extremer Weise die Republikaner bevorzugt, erklärt sich damit auch automatisch, wieso es nicht geändert wird.
Dafür wird nämlich eine 2/3-Mehrheit in House und Senat, sowie eine 3/4-Mehrheit aller Bundesstaaten benötigt. Es geht also nur, wenn fast die Hälfte aller republikanischen Parlamentarier ebenfalls zustimmt und die würden niemals etwas zum Wohle des Landes machen, wenn es gegen ihre Parteiinteressen steht.
Vorstellbar ist allenfalls eine Übereinstimmung darüber, das „the winner takes it all“ bei den Wahlmännern pro Bundesstaat aufzuweichen.
Dafür wäre allerdings Voraussetzung, daß die Demokraten mehrfach eine republikanische Bank wie Texas knapp gewinnen, dadurch alle 38 texanischen Wahlmänner bekommen und erstmals die Republikaner erfahren wie unangenehm es ist, wenn fünf, sechs oder sieben Millionen republikanische Stimmen aus Texas unter den Tisch fallen, während anderswo nur wenige hundert Stimmen Vorsprung entscheiden.
Erst wenn die GOP selbst von dem System mehrfach so übel ausgelacht würde, wäre sie bereit den Gedanken zu ventilieren, die Wahlmänner womöglich doch verhältnismäßig zu verteilen.
Allerdings weiß jeder wie kaputt das System ist und jeder weiß was für ein verheerender Präsidenten-Simulator Donald Trump ist. Vier Jahre lang hatte er derartiges Unheil angerichtet, daß niemand mehr indolent bleiben durfte.
Alles andere als eine gewaltige Blue Wave, die trotz der Widrigkeiten des Wahlsystems Trump und seine elenden GOP-Senatoren hinwegfegt, ist aus europäischer Sicht nicht zu verstehen.
Die Demokraten werden aber offenbar noch nicht einmal den Senat zurück erobern. Graham und McConnell wurden sogar mit satten Mehrheiten wiedergewählt – unfassbar!
Auch wenn Biden am Ende die Nase vorn haben sollte bei den electoral votes und wenn außerdem der US-Präsident seinen Platz räumen sollte, bleibt die Erkenntnis des großen moralischen Versagens der USA.
WE ARE SCREWED, stellt liberal pundit David Pakman vollkommen zutreffend fest.
Woran hat es nun gelegen, daß es so knapp wurde, oder daß Trump
womöglich sogar wiedergewählt wurde?
Ein nicht namentlich gekennzeichneter RND-Text, der unter anderem heute in der
MoPo erschien, macht sich an die Ursachenforschung.
[….] Der 77-jährige Joe Biden war ein schwacher Kandidat, aus den sich die Partei erstaunlich schnell geschlossen eingelassen hat. Er ist nicht sehr entschieden in Fragen des Alltagsrassismus und der Klimapolitik aufgetreten, was ihm vermutlich viele junge Wählerinnen und Wähler nachgetragen haben. [….]
(Mopo, 05.11.2020)
Diese Deutung halte ich für großen Unsinn.
Ich war bekanntlich auch kein Biden-Fan, aber die Deutung ihn als die falsche Kandidatenwahl zu brandmarken unterstellt, es habe eine rationale Abwägung der Wahlinteressen der US-Bürger gegeben.
Das war nicht so!
Biden hat nicht abgeschreckt wie Hillary Clinton, sorgte für eine Rekord-Wahlbeteiligung und konnte ein Rekord-Stimmen-Ergebnis erzielen.
Seit 1980 war die Wahlbeteiligung nicht höher. In vielen Staaten lag sie bei für amerikanische Verhältnisse unglaublichen 60-70%-
In New York oder Kalifornien wählten weit weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, aber dafür mache ich das Wahlsystem verantwortlich. In den Staaten stand ebenso wie in Kentucky, Kansas, Utah, Alabama oder South Carolina das Ergebnis lange vor der Wahl felsenfest.
Wozu also noch zur Wahl gehen, wenn man nicht gerade in einem Swingstate lebt.
Ich behaupte, der demokratische Kandidat war weitgehend irrelevant. Es ging um Trump und die 70 Millionen Anmerikaner, die völlig von der Realität entkoppelt sind, so daß sie seiner spirituellen Chefberaterin Paula White zuhören.
Jemand, der Trump für ehrlich und kompetent, für einen guten Christen, für den Auserwählten Gottes hält, hätte auch nicht für die Demokraten gestimmt, wenn Harris, Booker oder Warren angetreten wären.
Diese Leute sind verrückt.
Schuld sind die Medienkonzerne wie FOX und religiösen Rechten, die über die Jahre große Teile der amerikanischen Bevölkerung in die totale geistige Verblödung getrieben haben.
70 Millionen Wahnsinnige, die sklavisch an den Lippen ihres Kult-Führers hängen, der so wüst, kriminell, antidemokratisch und verschwörungstheoretisch twittert, daß der Tech-Gigant fast jeden Tweet des mächtigsten Mannes der Welt und Leader Of The Free World als Falschinformation kennzeichnen muss.
Weder Biden, noch Mandela oder Jesus könnten daran etwas ändern.