Da
fühlte ich mich auf einmal wie das „Delphi von Orakel“ (Kretschmann), als Merkel um
Entschuldigung für ihre Böhmermann-Vorverurteilung bat.
Genau
das hatte ich doch einige Tage vorher empfohlen.
Die
Kanzlerin hatte eine Riesendummheit begangen und diese, mit etwas Verspätung,
aber immerhin, als solche angesehen.
[….]
Aber dann stellte ein Journalist die
Frage nach der bevorstehenden Türkei-Reise der Kanzlerin. Und Angela Merkel
sagte, sie wolle die Gelegenheit nutzen, um etwas klarzustellen. Völlig
überraschend ging sie daraufhin auf die Affäre Böhmermann ein.
"Ich ärgere mich
darüber, dass ich am 4. April von 'bewusst verletzend' gesprochen habe",
sagte Merkel. Regierungssprecher Steffen Seibert hatte an diesem Tag erklärt, Merkel habe in einem Telefonat mit
dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu das berüchtigte Gedicht des
ZDF-Moderators Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdogan so bezeichnet. "Das war im Rückblick betrachtet ein Fehler",
räumte Merkel ein. Denn dadurch sei der Eindruck entstanden, ihr als Kanzlerin
seien Meinungsfreiheit und Pressefreiheit nicht mehr wichtig. Ihr sei dies aber
wichtig und es werde auch weiter wichtig bleiben. "Das leitet mich bei
allen Gesprächen."
[….]
(STERN
22.04.2016)
Das
respektiere ich.
Aber wie
das so ist mit der Kanzlerin. Wenn sei einmal etwas Vernünftiges tut, durch das
womöglich die EU-Politik nicht mehr ganz so erbärmlich wirkt, muß es sofort
doppelt konterkariert werden.
Anschließend
reiste sie in die Türkei und ließ sich dort tumb schweigend herumschubsen, ohne
die ungeheuerlichen Vorgänge an der Grenze zu Syrien
zu thematisieren.
Die Reise von
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in die Türkei und der Besuch eines
Flüchtlingslagers in Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze wird von der
Organisation Pro Asyl scharf kritisiert. Merkels "Lobhudelei" sei
"unerträglich", sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt. Die
Türkeireise der Kanzlerin gaukele Humanität vor, "wir erleben aber den
größten Angriff in der Geschichte der EU auf das Menschenrecht auf Asyl".
Das EU-Türkei-Abkommen
hebele das Recht auf Asyl aus, kritisierte Burkhardt. Er verwies auf das
Schicksal von 13 afghanischen und kongolesischen Asylsuchenden, die nach ihrer
Abschiebung in die Türkei in einem Haftlager interniert seien, wo ihnen der
Kontakt zu Aktivisten und Rechtsvertretern verweigert werde.
Auch der
stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki warf Merkel Heuchelei vor.
"Angela Merkel hat nicht ertragen können, dass 4.000 Menschen in Budapest
auf dem Bahnhof gesessen haben, aber jetzt schauen wir zu, wie 12.000 Menschen
in Idomeni unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen und das
interessiert uns nicht weiter", sagte Kubicki im Fernsehsender Phoenix.
Nahezu
gleichzeitig jährte sich der türkische Völkermord an den Armeniern zum 101. Mal.
Das von der EU mitfinanzierte Dresdner Musikprojekt Aghet, welches es wagte den Genozid auch
Genozid zu nennen, geriet in den Bannstrahl Erdogans.
Die
Türkei verlangte das Projekt nicht mehr zu unterstützen und sofort zog Brüssel
devot den Schwanz ein, sank auf die Knie und tat was Ankara wünschte.
Jeder Hinweis auf Aghet wurde von der EU gelöscht.
Jeder Hinweis auf Aghet wurde von der EU gelöscht.
Zu Recht schließen die
türkischen Kollegen daraus, dass sich Merkels Engagement für Pressefreiheit und
Menschenrechte in der Türkei in engen Grenzen hält. Aber Merkel und die EU
insgesamt tun ja noch weit mehr, um sich das Wohlwollen des türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu erhalten. Sie schweigen nicht nur zum
Demokratieabbau in der Türkei, sie lassen sich auch ihr Verhalten im eigenen
Land vorschreiben.
Jüngstes Beispiel ist
ein Projekt der Dresdner Sinfoniker. Die Musiker haben zusammen mit armenischen
und türkischen Kollegen ein Konzert eingespielt, das der Erinnerung an den
Völkermord an den Armeniern gewidmet ist. Die EU fördert das Projekt
finanziell. Auf türkischen Protest hin hat sie jetzt den Hinweis auf das
Projekt von ihren Websites gestrichen – und das Orchester gebeten, im
begleitenden Text den Begriff „Völkermord“ nicht mehr zu verwenden.
Seit nunmehr 100
Jahren weigert sich die Türkei, die Vernichtung der Armenier im Osmanischen
Reich 1915 als Völkermord anzuerkennen. Ausgerechnet gestern, am 101. Jahrestag
des Völkermordes, wurde die Selbstzensur der EU bekannt.
(Jürgen
Gottschlich, taz, 25.04.16)