Sonntag, 20. März 2016

Judentum ist verdammt anstrengend



Mein Gemüsemann versucht mir jetzt wieder ständig Granatäpfel zu verkaufen.
Ich mag die sogar, aber kaufe sie so gut wie nie, weil ich die Frucht übermäßig umständlich finde. Das spritzt immer so und anschließend klebt alles.
Er gibt mir natürlich die besten Tipps. Er selbst pult die Kerne in einer Schüssel unter Wasser ab und gießt es dann in ein Sieb.
OK, das könnte ich natürlich auch mal probieren.

Aber bei Granatäpfeln muß ich auch immer an die armen Juden denken.
Angeblich hat jeder Granatapfel genau 613 Kerne und diese Anzahl entspricht genau den 613 Lebensregeln der Mitzwot, die bekanntlich Gott auf dem Berg Sinai Mose übergab.
Hätte Gott sich nicht bei der Regelanzahl nach Apfel- oder Mandarinenkernen richten können? Das wäre in der Praxis wesentlich einfacher für strenggläubige Juden.
(Nein, es stimmt übrigens nicht, daß alle Granatäpfel genau 613 Kerne haben.)

Aber die Juden machen ihrem Ruf besonders intelligent zu sein alle Ehre, indem sie die Vielzahl der Regeln nutzen, um eine mit der anderen abzuschwächen.
Freitags darf man nur Fisch essen. Und eben auch Hühnersuppe. Denn beim Kochen schwimmt das Huhn ja im Wasser und alles was schwimmt, gilt laut einer anderen Regel als Fisch.

Das ist offenbar das gleiche Prinzip wie bei der deutschen Steuergesetzgebung. Es gibt dermaßen viele Paragraphen zu Präzisierung, daß ein findiger Steuerberater sie auch benutzen kann, um einige Sachverhalte unpräzise zu machen.

Das Judentum ist eine eigenartige Religion.

·        Als einziger abrahamitischer Zweig missioniert sie nicht und bekommt dafür von mir extra Sympathiepunkte. Mission ist für mich das Hauptübel der Religionen.

·        Nur das Judentum bringt neben Orthodoxen auch noch Ultra-Orthodoxe und Ultra-Ultra-Orthodoxe hervor, obwohl mehr als orthodox gar nicht geht; denn die Thora gilt im orthodoxen Judentum als autoritatives Wort Gottes und darf daher nicht uminterpretiert werden.

·        Das Judentum zählt ausdrücklich auch Nicht-Religiöse zu ihrer Religion.

Marcel Reich-Ranicki verstand sich stets als 100%iger Jude, obwohl er durch und durch Atheist war und kein bißchen an irgendeinen Gott glaubte.

Ich bin jüdisch aufgewachsen. Aber wie die meisten Israelis bin ich völlig säkular. Atheist trifft es am ehesten, ich mag Religion eigentlich nicht. Was ich sehr mag, ist die jüdische Kultur, das ist etwas anderes, und mir liegt eine Menge daran, dem verschlossenen, exklusiven, orthodoxen Judentum, das in Israel leider bedenklich an Macht gewinnt, einen humanistischen, weltoffenen liberalen Umgang mit dieser Kultur entgegenzusetzen. Zum Beispiel mag ich es sehr, mit meiner kleinen Familie in Berlin das Schabbat-Abendessen zu feiern.

Bei 613 Regeln gibt es natürlich mehr oder weniger schwer einzuhaltende.
In jeder erfolgreichen Religion werden nicht einzuhaltende Forderungen postuliert, denn nur ein Gläubiger mit schlechtem Gewissen ist für die Obrigkeit leicht zu gängeln. Daher ist das christliche Konzept generell die Sexualität zu verdammen – vom Gedanken über Masturbation bis zum Geschlechtsverkehr - auch so genial.
Jeder verstößt irgendwann dagegen und bedarf dann der Kirche, um nicht in der Hölle zu landen.

Der Islam hatte aber auch eine brillante Kernidee, indem er ausgerechnet dort wo in der Spätantike die besten und kostbarsten Weine gekeltert wurden mit einem totalen Alkoholverbot Furore machte. Das war ungefähr so als ob man mit einem sexlosen Puff Werbung macht.

Arabien in der Spätantike, das ist kein Ort der Askese, Syrien und Palästina gelten zu dieser Zeit als die Weinländer schlechthin. Ägypten, Mesopotamien - selbst das trockenere Jemen hält sich auf seine hochwertigen Weine etwas zugute, 78 Rebsorten zählt der Geograf Ibn Rusta dort allein in der Region der heutigen Hauptstadt Sanaa. Die Riojas und Merlots ihrer Zeit heißen al-Schamsi ("der Sonnige", dessen Gärung man durch Sonneneinstrahlung verstärkt hat), al-Schamul ("vom Nordwind gekühlt") oder al-Qarqaf ("der einen erbeben lässt").
Orient-Wein ist ein kostbares Handelsgut. Er wird per Karawane exportiert, die syrische Stadt Palmyra dient dabei als internationales Wein-Drehkreuz, wie in den islamischen Überlieferungen, den Hadi-then, nachzulesen ist.

Aber auch der Koran ist interpretierbar, weil es sich widersprechende Suren gibt – und das obwohl Allah den Koran bekanntlich selbst diktiert hat.
So dauerte es bis ins 19. Jahrhundert, um das heutige strenge Alkoholverbot im Islam durchzusetzen.
Weit über tausend Jahre zechten die Muslime weiter.

Das Christentum ist eigentlich eine Säuferreligion, oder wie soll man sonst eins der bekanntesten Wunder Jesu interpretieren?

Bei der Hochzeit zu Kana war der Alk ausgegangen (Joh 2,1-12) und Jesus von Nazareth als Gast ist schon so angepisst, daß er seine Mami Maria wütend an grölt, als sie ihn bittet zu helfen.
Schließlich verwandelt er aber den Inhalt der Wasserfässer für die rituelle Waschung in besten Stoff, so daß alle weiterzechen können.

Auch im Christentum wurde man mit den Jahrhunderten strenger, führte das Gebot der Mäßigung ein. Ganz aufhören mit dem Alkohol wie zum Beispiel die Mormonen, kann man aber nicht, weil man im Gottesdienst Messwein verwendet, um dem bizarren Kannibalen-Kult um Jesu Körper zu huldigen.
Aber eben nur einen Schluck.
Nor oinen wönzigen Schlock.

Das Judentum als die älteste der drei Religionen ist entsprechend noch die Trinkfreudigste.
Selbst die Säkularen, wie der Berliner DJ Cobretti, schätzen die Saufgelage, wie sie beim Purim-Fest sogar Pflicht sind.

Purim, ein freudiger Gedenktag, dessen Beachtung nicht biblisch vorgeschrieben ist, wird am 14. Adar (bzw. Adar II) zur Erinnerung an die Errettung der Juden in Persien gefeiert, die im Buch Esther beschrieben ist. [….] Purim ist als freudiger Gedenktag ein Arbeitstag. Als Besonderheit des synagogalen Rituals ist vor allem zu erwähnen, daß sowohl nach dem Abendgebet als auch morgens nach der Toravorlesung das Buch Esther gelesen wird. [….]  Bereits im Buch Esther wird von der Festlegung berichtet, daß der Freude über die Rettung durch ein Festmahl, durch gegenseitiges Beschenken mit Speisen und durch Spenden für die Armen Ausdruck verliehen werden soll. An Purim ist es erlaubt, viel zu trinken, sogar sich zu betrinken, denn im Buch Esther ist das Mahl, das man zur Erinnerung an das Ereignis einnehmen soll, als Trinkgelage bezeichnet.
[….][….]

Tja, das ist die offizielle Beschreibung.
In der Praxis heißt es eher Komasaufen.

Die Geschwister meines Vaters kamen einst als bettelarme Einwanderer aus Libyen nach Israel, als orientalische Juden. Es gibt eine Redensart in Israel: Als diese Gruppe kam, waren alle Türen schon verschlossen. Nur nicht die Tür zur Synagoge. So sind sie orthodox geworden, ernste, ergriffene Leute. Als Kind in Israel war ich fasziniert davon, wie sie zum Purim-Fest trotzdem völlig ausflippen können. Da sah ich die Verwandten plötzlich betrunken, sie sangen Lieder, alberten herum wie kleine Kinder, weil der Talmud einen dazu ermuntert, bei dieser Gelegenheit einen draufzumachen.

Daß orthodoxe Juden alle Hemmungen verlieren, überrascht wenig, wenn man die entsprechenden Regelungen streng einhält.
Auch bei anderen Festen müssen sie sich ordentlich einen hinter die Binde gießen und so entwickelt sich die Leber eines Strengreligiösen entsprechend kräftig.

Wenn mit dem Pessach-Abendessen des Auszugs der Juden aus Ägypten gedacht wird, dann stehen für jeden Erwachsenen vier Gläser Wein auf dem Speiseplan. Wenn mit dem jüdischen Tu-bi-Schwat-Fest im Frühjahr die wiedererwachende Natur begrüßt wird, sollen die Gäste ihre vier Gläser sogar in wechselnden Farben trinken: Es beginnt mit Weißwein, dann folgt eine Rotwein-Weißwein-Mischung, die mit jedem Becher dunkler wird. Das soll die Natur ehren für ihren Wandel von Winter (weiß) zu Sommer (rot).

Juden sind also geübte Trinker und müssen den üblichen Weinkonsum gelegentlich auch gottgewollt bis zum Exzess treiben.

Interessanterweise beschäftigen sich Koran und Talmud schon mit Promillegrenzen.
Was ist angemessener Alkoholkonsum, ab wann beginnt der Vollrausch?

Aus den widersprüchlichen Koran-Stellen destillieren die anfangs vorherrschenden Koran-Exegeten kein strenges, sondern nur ein abgestuftes Alkohol-Verbot. Ein Mittelweg. Geistige Getränke seien zulässig - solange man nicht betrunken werde. Dem Gedanken nach führen die Gelehrten damit eine Art Promillegrenze ein. Wann beginnt Trunkenheit? In dem Moment, da man zwischen Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden könne, so lautet eine gängige Definition dieser Zeit; womit die Schwelle durchaus recht hoch liegt, recht liberal.
 (Die jüdische Lehre definiert den Vollrausch übrigens auf ähnliche Weise: als den Zustand, in dem man nicht mehr unterscheiden kann zwischen einem Fluch und einem Lob; bloß dass diese Definition nicht eine Sünde umschreibt, sondern die Zielmarke beim Purim-Fest.)

Holla, die Waldfee. Vollrausch als von Gott befohlene Zielmarke.
Wieso gibt es im Vergleich zum prüden Christentum und zum abstinenten Islam nur so wenig Juden?