Dienstag, 4. Oktober 2022

Internationale Solidarität

 

Es ist verrückt, wie sehr die Wahrnehmung sich auf bestimmte Dinge fokussieren kann, die einem Jahrzehnte völlig egal, oder sogar unbekannt waren.

Welcher Durchschnittsdeutsche wußte bis 2021 schon über die geographischen Gegebenheiten der Ostukraine Bescheid? Ehrlicherweise kannte man neben Kiew nur Charkiw – ganz im Osten und natürlich das deutsche Lemberg – ganz im Westen.

Nun aber gehört es zur täglichen Routine, auf den Nachrichtenportalen die Frontverläufe zu studieren. Beim Friseur oder während des Besuchs beim Bäcker, fallen ganz selbstverständlich die Begriffe Oblast Cherson, Oblast Luhansk, Bachmut, Oblast Saporischschja, Lyssytschansk, Bilohoriwka, Fluss Oskil, Swatowe, Kremmina und Sjewjerodonezk.

Ein halbes Jahrhundert lang war mir der Begriff „Inzidenz“ gänzlich unbekannt und anders als das „nicht-durstig“-Pendant zu „satt“, vermisste ich „Inzidenz“ niemals.

Plötzlich war aber nicht nur das Wort in aller Munde, sondern mit einer derartigen Bedeutung beschwert, daß ich fasziniert jeden Tag die RKI-Inzidenzen der einzelnen Bundesländer googelte, die Top-Inzidenz-Gemeinden nachlas und aufgrund der verschiedenen Maßnahmen der Landesregierung extrapolierte, wie sich die Inzidenz entwickeln könnte, wie viele Menschen zwei Wochen später im Krankenhaus liegen könnten, wie viele von ihnen in einem Monat tot sein könnten. Wie wahrscheinlich ich in Hamburg jemanden im Pflegeheim besuchen können würde, ob der Baumarkt um die Ecke aufhätte. Es war kein Zahlenspiel für Nerds, sondern die Zahlen standen für die mittlerweile 150.000 Covid-Toten Deutschlands.

Das sind eine Menge Leben. Ungefähr so viele, wie  insgesamt in Darmstadt, oder Solingen, oder Herne, oder Regensburg, oder Heidelberg leben.

Zu den aktuellen Zahlen, die man seit einigen Monaten jeden Tag gespannt registriert, die mich aber ein halbes Jahrhundert nicht die Bohne interessierten, gehören Gastfüllstände, russische Gasimportquote und Bundesgasverbrauch.

SPIEGEL 04.10.2022

Wenn Kanzler und Vizekanzler sich die Hacken ablaufen, um bei dubiosesten Exporteuren wie Katar und Saudi-Arabien Flüssiggas einzukaufen, rümpfen wir pikiert die Nase, weil Gegenleistungen verlangt werden und plötzlich Rüstungsexporte in die Schurkenstaaten, die Homosexuelle hinrichten, von den Grünen abgenickt werden.

Der deutsche Urnenpöbel erfreut sich aber an hohen Füllständen der Gasspeicher.

92% voll. Da gruselt es sich schon deutlich weniger in Hinblick auf die Wintertemperaturen. Dazu noch 200 Milliarden Euro Doppel-Wumms-Moneten von Olaf Scholz. Das nimmt man alles gern und selbstverständlich, während man auf die Ampel schimpft. Man hätte es aber lieber, wenn Held Habeck ein paar hundert Millionen Kubikmeter Erdgas einfach herzaubern könnte, statt sie in der echten Wirklichkeit von realen Personen zu kaufen.

An die katastrophalen klimatischen Folgen der Erdgasverbrennung denken wird ohnehin nicht mehr.

Hurra, bald sind die Speicher zu 100% gefüllt und dann können wir uns beruhigt zurücklehnen. Oder etwa nicht?

[…] Deutschland steht vor einem harten Winter, da sind sich die Energieexperten einigt. Noch viel härter wird es aber 2023 und 2024, sagt Jochen Homann bei den Munich Economic Debates von Ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung: "Mindestens die nächsten zwei Winter müssen wir in den Krisenmodus schalten." Bis Ende Februar 2022 war Homann Präsident der Bundesnetzagentur. Er hörte also auf, kurz nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte. Auf dem Podium warnt er nun, dass die Krise nicht so schnell überwunden sein wird. Die Gasspeicher reichen allein für diesen Winter nicht aus, sagt er, auch wenn sie sich aktuell schnell füllen. 90 Prozent sind schon erreicht, das Ziel sind 95 Prozent. Doch auch mit komplett gefüllten Gasspeichern komme Deutschland maximal drei Monate durch einen durchschnittlichen Winter - und deutsche Winter sind lang. [….]

(Marie Vandenhirtz, 28.09.2022)

Im Moment verbrennen die Deutschen sogar mehr Gas, als vor 12 Monaten. Aber gesetzt den Fall, daß wir die Kurve kriegen, wirklich alle sparen und die Ampel-Minister weiterhin so findig dabei sind, neue Lieferquellen aufzutreiben: Über ein „Problem“ lese ich bisher kaum etwas: Was tun wir eigentlich in dem wahrscheinlichen Fall, daß unsere europäischen Nachbarn nicht so gut gerüstet und finanziell weniger üppig ausgestattet sind? Was passiert bei einer Kältewelle im Januar, wenn der deutsche Michl bei 20°C im Wohnzimmer hockt, während die Tagesschau von erfrorenen Ungarn, zitternden Italienern, schlotternden Franzosen berichtet?

Schalten wir dann die deutsche Industrie ab und leiten Gas zu unseren Nachbarn? Sind wir bereit, für andere zu frieren? Schon für die Ukrainer friert ein Sachse nicht freiwillig.

Könnten Baerbock, Lindner und Scholz in Brüssel ernsthaft die kalte Schulter zeigen, wenn belgische und polnische Geronten erfroren aus ihren Wohnungen geholt werden? Sagen wir dann „Tja, Pech, hättet ihr mal auch rechtzeitig in Katar und Riad eingekauft! Wir geben nichts ab“?

Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

erkämpft das Menschenrecht.

Der deutsche Michl versteht Solidarität gelegentlich als Einbahnstraße. Als der Bürgerkrieg in Syrien 2010 losging, hörten wir konsequent weg, als die Flüchtlinge in Griechenland und Italien ankamen. Wir sind auch nicht solidarisch mit der Türkei, die drei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen hat. Erst als 2015 viele Flüchtlinge in Deutschland ankamen, wollte Deutschland Solidarität von den anderen EU-Ländern. Solidarität mit uns aber eben nicht von uns – wie Schäuble und Kauder bei der Euro-Schuldenkrise unmissverständlich klar gemacht hatten.

Giorgia Meloni, eine wirklich fürchterliche Peron, gerät doppelt gewummst gehörig in Wallung. Ein gefundenes Fressen für eine nationalistische Hetzerin wie sie. Sie wird nun Regierungschefin, steht wegen der enormen italienischen Gasabhängigkeit von Russland vor unlösbaren Problemen. Da hilft eine teutonischer Sündenbock schon mal dabei, den braunen Pöbel zu beruhigen.

[….] Sehr gut kam der Schutzschirm über 200 Milliarden Euro der Deutschen für deutsche Haushalte und Unternehmen nicht an. Man hält ihn in Italien, pauschal ausgedrückt, für unsolidarisch gegenüber Ländern, die nicht einfach so mal schnell 200 Milliarden Euro aufwerfen können - Länder wie das hoch verschuldete Italien zum Beispiel. Das sei so gar nicht im europäischen Gemeinschaftssinn. In seiner alltäglichen Rubrik "Il caffè" auf der ersten Seite des Corriere della Sera, Italiens größter Tageszeitung, schreibt Massimo Gramellini ironisch über "L'amico tedesco", den deutschen Freund: "Für jeden, der sich als Bürger Europas fühlt, war es traurig, den Beweis vorgeführt zu erhalten, dass der liebe Mitbürger deutscher Sprache, Olaf Scholz, sich im Wesentlichen nur um seinen eigenen Kram kümmert." Der Kanzler habe die "strategische Weitsicht eines Maulwurfs". Er habe nämlich nicht nur verhindert, dass die anderen Mitglieder der Europäischen Union Energie zu dezenten Preisen einkaufen könnten, wie das etwa Italiens Premier Mario Draghi mit einem europaweiten "Price cap" für Gas schon seit etlichen Monaten fordert. "Scholz", schreibt der Kolumnist, "zahlt aus der eigenen Tasche die höheren Preise in seinem kleinen Vaterland und stößt damit Familien und Firmen anderer Länder auf dem Kontinent an den Rand des Verderbens."   […]

(Oliver Meiler, 02.10.2022)

Eine Horrorvorstellung: Wird Deutschland in ein paar Monaten ausgerechnet den Viertel- und halbfaschistischen Regimen in Warschau, Budapest und Rom unter die Arme greifen müssen? Ausgerechnet denen, die voller Verachtung über die angeblich rotgrünen Werte wie Pressefreiheit, unabhängige Justiz, Homorechte oder Ächtung von Antisemitismus herziehen?

Müssen wir denen dann Gas abgeben? Und wenn ja, wie viel? 10% unserer Speichermenge? 20%? Oder schmeißen wir europaweit alles in einen Topf, weil wir tatsächlich eine Solidargemeinschaft sind?

Ich glaube, Berlin kann gar nicht, nicht teilen. Denn das hätte erhebliche intra-EU-Sprengkraft, würde Brüssel entzweien. Das wäre aber nichts anderes als ein riesiges Geschenk an Putin, der dann genüßlich einen Keil in die EU treiben könnte, den er natürlich zunächst einmal einsetzen würde, um die Sanktionen loszuwerden.

Wie sollen Lambrecht, Scholz und Baerbock denn in Brüssel harte antirussische Sanktionen durchpauken, wenn darunter Italiener, Bulgaren und Ungarn am meisten leiden, weil die nicht mehr heizen können, während Deutsche es mollig warm haben, aber nichts von ihrer Energie abgeben wollen?