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Dienstag, 2. Dezember 2025

Zahlen und Moral, mangelnde.

Spräche ich morgen auf der Straße zehn Leute mit der Bitte an, mir zu in drei Sätzen zu erklären, was gerade im Sudan los ist, bekäme ich vermutlich nicht eine qualifizierte Antwort.

Das Sterben dort ist zu weit weg und betrifft „nur“ schwarze und arme Menschen. Dafür empfindet der westlich-industrielle Christ keine Empathie.

Im ostafrikanischen Hunger-Land Sudan bekriegen sich seit zwei Jahren die Rapid Support Forces (RSF) und die Armee des Militärherrscher al-Burhan. Es gibt mutmaßlich an die HUNDERTTAUSEND Tote bisher, mehr als 21 Millionen Menschen sind laut UN-Angaben von akutem Hunger betroffen. Kinder sterben wie die Fliegen.

Dem Fritzekanzler und Joe Wadephul ist es Wurscht. Die frommen CDU-Männer interessieren keine schwarzen Kinder.  Noch nicht einmal beim G20-Gipfel in Südafrika spielte das Thema Sudan eine Rolle.

Seit 2015 greifen unsere geschätzten Energielieferanten und Handelspartner Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und weitere Golf-Monarchien den Jemen an. Das Martyrium der verhungernden Bevölkerung lässt sich kaum in Worte fassen. Alle 13 Minuten stirbt ein jemenitisches Kind. Mutmaßlich gab es bisher rund 500.000 Tote im Jemen. Das Elend ist apokalyptisch.

[….] Seit Beginn des Krieges hat sich die humanitäre Lage im Jemen weiter dramatisch verschlechtert. Laut Angaben der Vereinten Nationen gibt es derzeit 4,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Über 18 Millionen von insgesamt ca. 30,5 Millionen Menschen benötigen humanitäre Unterstützung. Circa 17,6 Millionen Menschen haben keinen sicheren Zugang zu Nahrung. Fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren leiden an moderater bis schwerer akuter Unterernährung. [….]

(Welthungerhilfe)

Auch die Lage im Jemen interessiert den Sauerländer Popelfresser nicht im Geringsten. 

Das Ausmaß der Kriegsverheerungen, die Zahl der Toten, das Leiden des Bevölkerung lässt sich üblicherweise nur grob schätzen. Es gibt kaum verlässliche Quellen, weil der Horror und Zahlen gepresst, immer auch ein Teil der Kriegspropaganda ist.

Die menschlichen Gehirne sind ohnehin nicht in der Lage, die Dimensionen einzuschätzen. Wir erleben es tagtäglich, wie tragische Einzelschicksale, verbunden mit einem Bildern, einem Gesicht, weltweit enorme Emotionen auslösen können. Versieht man so ein Verbrechen aber mit einem großen Multiplikator, ebbt das Mitgefühl ab. Deswegen werden einzelne Kindervergewaltiger gehasst. Aber 100.000 sexuell missbrauchte Kinder, die Opfer der katholischen Kirche sind, nehmen wir achselzuckend hin.

Die Leiche des dreijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, die am 2. September 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde, schockte die Weltgemeinschaft. Aber seither sind über 30.000 Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken. 30.000 mal Alan Kurdi stört uns nicht. Im Gegenteil, der deutsche Urnenpöbel findet die Typen toll, die besonders martialisch gegen Kinder und Frauen vorgehen, Grenzen abriegeln und legale Fluchtrouten kappen. Söder (Platz 2) und Dobrindt (Platz4) stehen ganz oben im Beliebtheitsranking der Politiker.

Langsam gibt es seriösere Zahlen über die Vernichtungstaten der Netanjahu-Armee in Gaza.

[…] Im Gazastreifen sind während des Krieges mehr als 100 000 Menschen getötet worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Berechnung des Max-Planck-Instituts für Demografie in Rostock. Das sind weit mehr als bisher angenommen. Es ist die erste Schätzung für den kompletten Zeitraum zwischen dem 7. Oktober 2023, an dem die Hamas Israel überfallen und den Krieg ausgelöst hatte, und dem 10. Oktober 2025, an dem ein – seither recht löchriger – Waffenstillstand zustande kam.

Die Zahl bezieht sich dabei nur auf Tote durch direkte Gewalteinwirkung, darunter sowohl Kämpfer als auch Zivilistinnen und Zivilisten. Die möglichen Todesfälle durch einstürzende Gebäude, mangelndes Trinkwasser, Hunger sowie fehlende Gesundheitsversorgung sind nicht mitgerechnet.

Insgesamt haben im Gazastreifen vor dem Krieg etwas mehr als 2,1 Millionen Menschen gewohnt. Wenn man die neuen Zahlen zugrunde legt, ist etwa jeder 20. Bewohner des Gazastreifens im Krieg getötet worden. Auf die deutsche Bevölkerung hochgerechnet würde das mehr als vier Millionen Kriegstoten entsprechen. [….]

(Leonhard Scharfenberg, 30.11.2025)

Katholik Merz stört sich nicht daran und liefert wieder Waffen an Netanjahu, der fleißig weiter Palästinenser damit umbringt.

[…] Israel droht längst keine Gefahr mehr, trotzdem lässt die Regierung Netanjahu immer wieder die Nachbarn angreifen. Ausgerechnet jetzt liefert Deutschland seiner Armee wieder Waffen.

Vor zwei Wochen hat die Bundesregierung den teilweisen Stopp von Waffenlieferungen nach Israel wieder aufgehoben. In ein Land, dessen Armee in Gaza gerade die Brüder Fadi Abu Assi und Goma Abu Assi tötete, acht Jahre und elf Jahre alt, weil sie Feuerholz gesammelt hatten. Dessen Soldaten zwei junge Tatverdächtige im Westjordanland exekutierten – auf einem Video sieht man, wie sie erschossen wurden, nachdem sie die Hände in die Höhe gestreckt hatten, unbewaffnet. Die Waffen gehen an eine Armee, die gerade wieder auf syrisches Territorium vordrang und dort 13 Menschen tötete. Obwohl es von dort gar keinen Angriff gab.

Als die Bundesregierung den Waffenstopp aufhob, sprach sie davon, dass sich der Waffenstillstand in Gaza stabilisiert habe. Eine interessante Sichtweise, da die Waffen ja entweder stillstehen oder eben nicht. In Gaza sollen seit der Verkündung des Waffenstillstandes am 9. Oktober 347 Palästinenser getötet worden sein, sagen die örtlichen Behörden, darunter 136 Kinder. Die Lage ist also höchstens stabil schlecht.

Dass Deutschland wieder Waffen liefern will, hat wenig damit zu tun, was in Gaza passiert, im Westjordanland, in Syrien und in Libanon, aber viel mit der Lage innerhalb der CDU. In der Partei übten viele Kritik an der Entscheidung von Bundeskanzler Friedrich Merz, im August die Lieferungen teilweise auszusetzen. […] Die israelischen Truppen an den Grenzen sind gerade wieder in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, obwohl weit und breit kein Angriff droht, außer durch Netanjahu, der den ständigen Krieg will, um sich an der Macht zu halten. Die Bomben fallen fast jeden Tag. Nun wieder mit freundlicher Unterstützung der Bundesregierung. [….]

(Bernd Dörries, 02.12.2025)

Dienstag, 4. November 2025

Das Fallbeispiel

Daß er ausgerechnet Bundeskanzler ist, warum auch immer, macht die Angelegenheit natürlich recht unerfreulich. In dem Amt hätte man schon lieber eine selbstreflektierte, intelligente Person, die fähig ist, ständig dazuzulernen.

Aus psychologischer Sicht ist es aber durchaus faszinierend, den Fritzekanzer dabei zu beobachten, wie er seine Borniertheit zelebriert.

Obwohl er wöchentlich mit seiner Dampfplauderei auf die Nase fällt, sich immer wieder mit seinen vor Verblödung triefenden Aussagen, selbst ein Bein stellt, scheint Bundeskanzler Friedrich Lübke, außerstande zu sein, auch nur ein Fünkchen Einsicht zu zeigen. In weniger als einem halben Jahr hat er seine Regierungskoalition unbeliebter und zerstrittener als die Ampel gemacht, seine Partei auf Minimalwerte geschrumpft, die Nazis bundesweit zur stärksten Kraft aufgeblasen und seine persönlichen Zustimmungswerte ganz ganz tief in die Klärgrube gefahren.

[….] Ein fatales Zeugnis stellten die Insa-Befragten der Regierung von Bundeskanzler Friedrich Merz aus. Lediglich elf Prozent haben den Eindruck, diese leiste mehr als erwartet. Dagegen finden 58 Prozent, Schwarz-Rot leiste weniger als erwartet. 21 Prozent stimmten dafür, dass CDU, CSU und SPD wie erwartet liefern. Eine schallende Ohrfeige, die weit über das Regierungsviertel hinaus zu hören sein dürfte. [….]

(Merkur, 04.11.2025)

Der Sommer der Wirtschaftswende und der Herbst der Entscheidungen sind tatenlos verdaddelt, die ökonomischen Zahlen rauschen in den Abgrund, weil der Fritzekanzler wirklich alles genau falsch macht.

Statt sich um irgendeins der drängenden Probleme zu kümmern, zettelt Heinrich Merz eine „Stadtbild-Debatte an, um mal wieder Massendemonstrationen gegen sich und die CDU zu initiieren.


[….] Immer mehr Menschen sind unzufrieden mit der Politik von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Im aktuellen Trendbarometer von RTL und n-tv hat er nur noch einen Zustimmungswert von 25 Prozent. Dies ist noch schlechter als Anfang Oktober und die niedrigste Zustimmungsrate seit seinem Amtsantritt. 72 Prozent der Befragten sind unzufrieden mit Merz‘ Arbeit.  [….]

(FUNKE, 28.10.2025)

 

Jeder Politiker, der nicht völlig auf den Kopf gefallen ist, würde eins und eins zusammenzählen; käme zu dem Schluß, daß unbedachte rechtspopulistische Aussagen, nicht nur die AfD-Nazis stärken, sondern seine eigene fragile Regierungsmehrheit dramatisch ins Wanken bringen.  Er würde seine Worte besser abwägen und zusehen, bei sich abzeichnenden politischen Debatten, nicht wieder zum Benzinkanister zu greifen, um das Feuer anzufachen.

Nicht so Merz. Er ist offenkundig nicht nur ignorant, sondern regelrecht trumpisch von sich selbst begeistert, so daß er gar nicht auf die Idee kommt, Fehler gemacht zu haben.

Die sich abzeichnenden CDU-interne Debatte über Abschiebungen in die Hölle Syriens, die sein Milliarden-versenkender Scharfmacher Spahn fordert, die aber von Wadephul, dem einzigen CDU-Mann, der die Zustände mit eigenen Augen gesehen hat, abgelehnt werden, ist ein Paradebeispiel.

[….]  Schlimmer als Deutschland 1945 – Wadephul empört Unionskollegen mit Syrien-Vergleich[….] Der Streit über die mögliche Rückkehr syrischer Migranten in ihr zerstörtes Heimatland sorgt weiter für Spannungen in der Union. In der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Dienstag hat Außenminister Johann Wadephul nach SPIEGEL-Informationen versucht, seine jüngsten umstrittenen Äußerungen  zu erklären – und damit offenbar für neue Irritationen gesorgt.

Der Minister hielt Angaben zufolge eine längere Ansprache. »Das war schlimm«, sagte ein Teilnehmer im Anschluss dem SPIEGEL. Demnach zeigte sich Wadephul uneinsichtig gegenüber der an ihm geäußerten Kritik. Er habe da nichts zurückzunehmen – so gaben mehrere Anwesende die Worte des Ministers wieder.

Bei einem Besuch eines vom Bürgerkrieg stark zerstörten Vororts der syrischen Hauptstadt Damaskus hatte Wadephul kürzlich betont, dass er nicht mit einer kurzfristigen Rückkehr von Geflüchteten aus dem Land rechne. »Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben«, sagte der Außenminister. In der Union sorgte die Aussage für heftige Kritik, denn CDU und CSU setzen eigentlich auf Abschiebungen nach Syrien. [….]

(SPON, 04.11.2025)


Der Sauerländer Scharfmacher sollte eine gebranntes Kind sein; sich auf seine Rolle als Partei- und Regierungschef besinnen, das Problem frühzeitig antizipieren und deeskalierend wirken. Aber natürlich ist er zu borniert und greift sofort zu dem großen verbalen Holzknüppel, den er immer nimmt. Nur, um sich damit wieder selbst auf den Kopf zu schlagen, weil er einfach zu dumm ist, um sich auszudrücken.

[….] Merz hätte ein Signal an all jene senden können, für die das C in CDU noch eine Bedeutung hat. Stattdessen wiederholt er erneut einen alten Fehler.

Jetzt hat der Kanzler die Sache also klargestellt. „Der Bürgerkrieg in Syrien ist beendet. Es gibt jetzt keinerlei Gründe mehr für Asyl in Deutschland, und deswegen können wir auch mit Rückführungen beginnen“, sagt Friedrich Merz. Das Ziel: die unionsinterne Debatte abzuräumen, die der Außenminister über Abschiebungen nach Syrien ausgelöst hat.

Aus Perspektive der Union ist das nachvollziehbar, schließlich war die Debatte über das Wochenende immer weiter hochgekocht, und am Ende schien der inhaltliche Dissens größer, als er in Wirklichkeit ist. Der Eingriff des Kanzlers kam daher zu spät. Und vor allem: Er war viel zu pauschal. Wieder einmal.

Merz hätte das wiederholen können, was im Koalitionsvertrag steht: dass die Bundesregierung zunächst Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern auf den Weg bringen will. Er hätte über die schwierige Lage in Syrien sprechen können und dass ein großer Teil der Syrer*i­nen in Deutschland Arbeit hat und einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Merz hätte benennen können, dass Abschiebungen erstens kompliziert und in vielen Fällen auch gar nicht wünschenswert sind – so sehen das selbst viele in der Union, auch wenn es kaum jemand öffentlich sagt. [….] All das hätte Merz tun können. Hat er aber nicht. Stattdessen: Eine Pauschalisierung, die die Syrer*innen im Land verunsichert. Die den Außenminister schwächt. Die in der SPD Widerspruch provoziert und damit weitere Unruhe in die ohnehin strapazierte Koalition bringt. Zudem erweckt Merz den Eindruck, als sei eine Rückkehr eines Großteils der Syrer*innen umgehend möglich. Er schafft damit eine Erwartung, die die Bundesregierung gar nicht erfüllen kann. Auch das: kein neuer Fehler. [….]

(Sabine am Orde, 04.11.2025)

Wurde der Kanzler in letzter Zeit eigentlich mal einem simplen Demenztest unterzogen? Kann er auf einer Zeichnung einen Elefanten erkennen und die Uhrzeit ablesen?

Falls nicht, kickt offenbar die Altersverblödung so stark ein, daß er zurücktreten sollte.

Falls ja, ist es sogar noch schlimmer. Dann ist er ein Fall für die Psychoanalytiker und Neurologen, die ergründen müssen, wie jemand so hartnäckig an der Realität scheitern kann.

Mittwoch, 1. Oktober 2025

Impudenz des Monats September 2025

Und schon wieder einmal zeigt der Kalender eine „1“ - hohe Zeit für mich den Blödmann des Monats zu küren.

Zum Glück bewege ich mich in einem Umfeld und gehöre zu einer Generation, in der ich sehr selten „haben sie überhaupt gedient?“ gefragt werde. Nein, ich diente niemals.

Wenn es doch mal vorkommt, erkläre ich mit Genugtuung, wie wenig mit meinem Dienst irgendjemanden gedient sei. Ich wäre ein völlig unbrauchbarer Soldat, bin weder mutig noch kämpferisch und hadere massiv mit Gehorsam, Hierarchie und Uniformität. Mache mir nichts aus Kameradschaft und Ritualen. Ich leide an Exzentrik und Widerspruchsgeist. Und schließlich ist da noch die Sache mit der Gewalt: Töten lehne ich prinzipiell ab.

Eine Kaserne habe ich nie von innen gesehen. Aber das Soldat-Sein ist ein sehr häufiger Topos in Literatur und Film, so daß ich mir als Leseratte durchaus einen Eindruck verschaffen konnte.

Sven Regeners Beschreibung seines Grundwehrdienstes in „Neue Vahr Süd“ deckt sich dabei vollständig mit den Erzählungen, die ich von meinen Altersgenossen kenne, die nicht verweigerten.

Sie schreien und schreien, dachte Frank nun, während er auf seinem Bett saß und dabei zuschaute, wie Schmidt direkt vor ihm stand und sich am Hintern kratzte und Leppert zu seinem Spind humpelte und sich dabei eine Zigarette anzündete. Sie waren neun Leute auf der Stube, es gab drei dreistöckige Betten, neun Spinde, neun Stühle, einen Tisch und einen Aschenbecher. Der Raum roch nach Zigaretten, Alkohol und alten Socken. Sie schreien und schreien und schreien, dachte er, sie können gar nicht anders, man darf es nicht persönlich nehmen, das ist das ganze Geheimnis, dachte er. Dann kam wieder jemand hereingestürmt, sah ihn da sitzen und fragte ihn brüllend, ob er tot sei oder warum er sonst herumsäße wie ein Sack Mehl. Er brauchte nicht zu antworten. Es war eine rhetorische Frage, und der Mann war gleich wieder draußen. Frank stand auf und ging zu seinem Spind. Das war sicher nicht persönlich gemeint, dachte er wieder, aber er wußte, daß das nicht viel zu bedeuten hatte, das sind alles nur Mutmaßungen, dachte er, es ist eine fremde Welt, und über die Motive und Absichten dieser Leute kann man nur spekulieren, dachte er und öffnete den Spind. Alles schön und gut, dachte er dann und starrte in den Spind hinein, alles schön und gut. Das Problem ist nur, daß man so eine furchtbare Angst vor ihnen hat!

»Wenn es heißt ›3. Zug raustreten‹, dann treten Sie aus den Stuben heraus und stellen sich auf dem Flur auf. Die Fußspitzen berühren genau die zweite Fuge der Steinplatten. Das habe ich Ihnen gestern gesagt, das sage ich Ihnen heute und das sage ich Ihnen morgen. Übermorgen ist Freitag. Wenn Sie das bis dahin nicht begriffen haben, üben wir das am Wochenende auch noch. Und raustreten heißt nicht schlendern, raustreten heißt rennen, Männer. Ist das klar?«

Fahnenjunker Tietz stand direkt vor Frank, als er das brüllte, und dann schaute er triumphierend nach links und nach rechts den Flur hinunter.

»Fahnenjunker Heitmann und GUA Pilz werden jetzt Ihre Stuben inspizieren«, fuhr er brüllend fort. »Wenn Ihr Name gerufen wird, ist das schlecht für Sie. Dann rennen Sie in die Stube und tun, was man Ihnen sagt.«

Die beiden genannten Männer stürmten in eine Stube, erste Namen wurden gerufen. Frank fürchtete das Schlimmste, und nur um irgendwas zu tun, schaute er hinunter, ob seine Fußspitzen auch wirklich an der zweiten Fuge der Steinplatten waren. Dann schaute er wieder hoch, und sein Blick traf den des Fahnenjunkers.

»Ist was? Haben Sie noch Fragen?«

»Nein.«

»Nein, Herr Fahnenjunker, heißt das.«

»Nein, Herr Fahnenjunker.«

»Also gleich nochmal: Wie heißt das?«

Das ist ihnen wichtig, dachte Frank, daß man genau so redet, wie sie es wollen. Er fand das eigenartig. Noch eigenartiger aber fand er die unglaubliche Unfreundlichkeit, mit der ihm und seinen Leidensgenossen hier begegnet wurde.

»Wie heißt das?« brüllte Fahnenjunker Tietz mit überschnappender Stimme.

Das ist seltsam, dachte Frank, eigentlich müßten sie doch froh sein, daß man nicht verweigert hat.

»Was jetzt?« fragte er zerstreut.

»Was jetzt, Herr Fahnenjunker! Sie sagen immer am Ende Herr Fahnenjunker, wenn Sie mit mir sprechen, haben Sie das verstanden.«

Ich meine, wer ist noch so blöd und geht zum Bund, dachte Frank, da müßten sie doch eigentlich über jeden froh sein, der kommt, und ihn nett behandeln, wie ein rohes Ei eigentlich, dachte er.

»Haben Sie das verstanden?!«

»Ja.«

»Wie?«

»Ja, Herr Fahnenjunker.«

»Jawohl, Herr Fahnenjunker, jawohl Herr Fahnenjunker

heißt das. Ja ist was für Zivilisten, Sie sagen jawohl, wenn Sie einen Befehl empfangen oder eine Frage bejahen.«

»Jawohl, Herr Fahnenjunker.«

»Wie heißen Sie noch mal?«

»Lehmann.«

»Lehmann, Herr Fahnenjunker. Genauer gesagt: Pionier Lehmann, Herr Fahnenjunker. Sie sind jetzt Pionier, das ist Ihr Dienstgrad, das ist Ihr neuer Vorname, das ist alles, was Sie hier haben. Also nochmal: Wie heißen Sie?«

»Lehmann, Herr Fahnenjunker.«

»Pionier Lehmann. Also nochmal: Wie heißen Sie?«

»Pionier Lehmann.«

»Na? Na?«

»Herr Fahnenjunker.«

»Na also.«

»Pionier Lehmann!« rief es aus Franks Stube.

»Schon weg sein, schon wieder hier sein«, brüllte Fahnenjunker Tietz. Frank lief in die Stube. Dort waren auch schon Schmidt und Hoppe, Hoppe stand vor seinem Spind, hob Hemden vom Boden auf und faltete sie neu zusammen, und Schmidt hing oben an dem dreistöckigen Bett und zupfte an seiner Bettdecke herum. Im Raum stand Fahnenjunker Heitmann, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wartete auf ihn.

»Was gibt’s denn?« fragte Frank.

»Was gibt’s denn?« kreischte Heitmann. »Was gibt’s denn?

Ich höre wohl schlecht.«

Er machte eine kurze Pause, wie um Frank die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen. Frank sagte nichts.

»Ist das Ihr Bett, oder ist das nicht Ihr Bett? Ist das Ihr Name da auf dem Schild, oder ist das nicht Ihr Name.«

»Ja.«

»Jawohl, Herr Fahnenjunker.«

»Jawohl, Herr Fahnenjunker.«

»Na also. Da sind Falten drin, machen Sie das glatt, aber ganz schnell, gleich ist Antreten.«

Frank trat ans Bett und beugte sich runter. Da waren keine Falten zu sehen. Er zupfte trotzdem ein wenig an der Wolldecke herum, wodurch überhaupt erst Falten entstanden. Er versuchte, sie wieder wegzumachen, aber das war schwierig,

denn er mußte sich, um nicht vornüberzufallen, am Bettpfosten festhalten, außerdem wackelte der ganze Bettenturm, weil Schmidt ganz oben mit ähnlichen Problemen kämpfte.

»Hat er was gibt’s denn gesagt?« hörte er hinter sich Fahnenjunker Tietz fragen.

»Hat er gesagt«, sagte Fahnenjunker Heitmann.

»Mann, Lehmann, mit Ihnen werden wir noch Freude haben«, sagte Fahnenjunker Tietz. Daß die beiden hinter ihm standen, während er da unten herumfummelte, machte Frank aggressiv. Außerdem wurde es mit den Falten durch sein Gezupfe und Gezerre immer schlimmer. Besser wäre es gewesen, er hätte sich hingekniet, dann hätte er beide Hände frei gehabt, aber das wollte er auf keinen Fall, nicht mit den  beiden Fahnenjunkern im Rücken. »Das kann man ja nicht mit ansehen«, höhnte Tietz. »Nun machen Sie mal hin, gleich ist Antreten.«

Frank verlor den Halt, ließ den Pfosten los und fiel aufs Bett. Vor lauter Ärger und Nervosität mußte er lachen.

»Was lacht der?«

»Ich glaub, mein Schwein pfeift. Lehmann, wenn Sie so weitermachen, üben wir das am Wochenende.«

»Sie sollen mit dem Lachen aufhören!«

Frank lachte immer weiter. Es ist kein fröhliches Lachen, es ist eher hysterisch, dachte er, und es ist nicht das Klügste, was man tun kann, aber es füttert sich selbst, dachte er, erst lacht man, weil alles so absurd ist, und dann muß man weiterlachen, weil die Lacherei auch absurd ist, so geht das nicht, dachte er, das ist nicht klug, sowas nehmen die persönlich. Er versuchte hochzukommen. Hinter ihm plumpste Schmidt auf den Boden. Aus der Ferne waren Rufe zu hören.

»Aufhören, das ist der Befehl zum Antreten«, brüllte Fahnenjunker Tietz.

Frank lachte und lachte. Mühsam kam er hoch. Erst als er aufrecht vor Fahnenjunker Tietz und Fahnenjunker Heitmann stand und in ihre Gesichter blickte, konnte er mit dem Lachen aufhören. Das ist auch höchste Zeit, dachte er.

Schmidt stand mit dabei und starrte ihn entgeistert an.

»Raus, raus!« schrie Fahnenjunker Heitmann. »Alle beide!« Vom Flur her war zu hören, wie die anderen Rekruten losrannten, nach unten, zum Antreten vor dem Kompaniegebäude.

»Wir sprechen uns noch«, schrie Fahnenjunker Tietz. »Da kommt noch was nach, Lehmann. Und hören Sie auf zu grinsen, Schmidt. Raus, sofort raus.«

Frank glaubte, aus der Stimme von Fahnenjunker Tietz so etwas wie Panik herauszuhören, und das gefiel ihm.

»Raus, aber schnell!« schrie Fahnenjunker Tietz.

Er scheißt sich ein, dachte Frank. Das ist wichtig, darüber muß man mal nachdenken, dachte er, aber er wußte, daß dafür jetzt keine Zeit war. Er mußte raus, aber schnell.

Diese aberwitzige Stupidität der sinnlosen Regeln. Das Geschrei, die Strafen, die Schikane.  Das sind einerseits dankbare Topoi für Satire aller Art, aber auch bitterer Ernst. Armee-Führungen weltweit begeistern sich für die Idee, einen jungen Menschen „erst einmal zu brechen“, um ihn dann als uniformen, angepassten, Befehlsempfänger wieder aufzubauen. Mit tödlichen Nebenwirkungen.

Vergewaltigungen unter Soldaten sind traurige Normalität.

[….] Bei den US-Streitkräften sind in den vergangenen zehn Jahren mindestens 100.000 Männer pro Jahr Opfer sexueller Übergriffe geworden. Wie die New York Times unter Berufung auf Zahlen des US-Verteidigungsministeriums berichtete, waren allein 2018 etwa 7.500 Männer von sexueller Belästigung, versuchter Nötigung bis hin zu Vergewaltigung betroffen. Die Opfer seien meist jünger als 24 Jahre und hätten einen niedrigen Dienstgrad.

Die Zahl der registrierten weiblichen Opfer ist dem Bericht zufolge mit 13.000 im Jahr 2018 höher als die der Männer. Jedoch sagt das nichts über das tatsächliche Verhältnis, da man nicht weiß, wie viele Opfer die Vorfälle nicht anzeigen. Nur einer von fünf betroffenen Männern meldete Übergriffe – bei den Frauen seien es dagegen 38 Prozent. Viele Betroffene müssten die Armee verlassen und hätten dann Schwierigkeiten, im Alltag wieder Fuß zu fassen, hieß es weiter. [….]

(ZEIT, 12.09.2019)

Die psychische, physische und sexuelle Gewalt unter Soldaten führt wiederum zu Myriaden Suiziden in Uniform.

(…)  Mich interessiert „das Soldatische“ aus soziokultureller Perspektive, ich habe gern Wolf Schneiders „Soldaten“ gelesen und bin auch fasziniert vom psychologischen Aspekt des streng hierarchischen Drills unter Männern, der bekanntlich in den großen Armeen so gravierend ist, daß es in Russland und den USA zu mehren Soldaten-Selbstmorden jeden Tag kommt. […….]

[Um] Andrej Sytschow […..das] Leben zu retten, mussten die Ärzte beide Beine und seine Genitalien amputierten.  Gewalt unter Kameraden gehört zur russischen Armee wie Gleichschritt und Schießübungen. Erpressung, Prügel, Folter und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Die Soldaten sind sich selbst die größten Feinde.  Der Volksmund nennt die Misshandlungen von Rekruten durch ältere Soldaten "Djedowschtschina", "Herrschaft der Großväter". Wer Erniedrigung und Schmerz im ersten Dienstjahr übersteht, gibt diese Grausamkeiten an nachfolgende Rekruten weiter. [….] Das Komitee der Soldatenmütter, eine Menschenrechtsorganisation, die gegen die Missstände kämpft, registriert jedes Jahr etwa 2000 Todesfälle in der Armee - in Friedenszeiten. Ein großer Teil lasse sich auf Misshandlungen zurückführen. Im vergangenen Jahr haben nach Angaben der Militärstaatsanwaltschaft 341 Soldaten ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt. Auslöser soll nach Expertenmeinung auch hier in den meisten Fällen die brutale Quälerei gewesen sein. Die Dunkelziffer der Gewaltfälle dürfte noch weit höher liegen. [….]

 (O. Bilger, SZ vom 11.11.2008)

In Deutschland gibt es "Djedowschtschina" vermutlich nicht in dieser extremen Form und in Amerika bringen sich die Soldaten statt während der Grundausbildung, überwiegend erst nach den Militäreinsätzen selbst um.[ ….]

Von den aktiven US-Soldaten begeht durchschnittlich einer pro Tag Suizid. Nach der Dienstzeit steigt die Selbstmordrate um das 20-fache.

[….] Roughly 20 veterans a day commit suicide nationwide, according to new data from the Department of Veterans Affairs — a figure that dispels the often quoted, but problematic, “22 a day” estimate yet solidifies the disturbing mental health crisis the number implied.

In 2014, the latest year available, more than 7,400 veterans took their own lives, accounting for 18 percent of all suicides in America. Veterans make up less than 9 percent of the U.S. population. [….]

(Military Times, 07.07.2016)

Ganz offensichtlich haben Soldaten untereinander eine sehr fragwürdige Art miteinander umzugehen. (….)

(Militär und so, 20.09.2018)

Im Jahr 2025 zu leben, bedeutet aber auch, um die Notwendigkeit einer funktionieren Bundeswehr zu wissen. Die in Deutschland tut es offensichtlich nicht.

Damit komme ich endlich zum Blödmann des Monats.

Die Zahal sind die Impudenz des Monats September 2025.

Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (hebräisch צְבָא הַהֲגָנָה לְיִשְׂרָאֵל ‚Armee der Verteidigung Israels‘, Zwa ha-Hagannah lə-Jisraʾel; hebräisches Akronym: Zahal) bestehen aus 220.000 Männern und Frauen; sowie etwa einer halben Million Reservisten.

Die Zahal gilt als beste Armee der Welt, der Sieg im Sechstage-Krieg, vom 5. bis 10. Juni 1967, wird größter Sieg mindestens des 20. Jahrhunderts, wenn nicht aller Zeiten, angesehen.

Es war nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49, sowie der Suez-Krise, der dritte große Auftritt der Zahal und begann mit einem gewaltigen Aufmarsch der ägyptischen Armee an Israels Südgrenze.

Israel konnte 300 Ägyptische Kampfjets zerstören, bevor diese überhaupt in der Luft waren, die vollständigen Kontrolle über den Luftraum erlangen und eroberte binnen einer Woche den Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel von Ägypten, sowie das Westjordanland mit Ostjerusalem von Jordanien und die Golan-Höhen von Syrien.

Sie ließ sich zwar beim Jom-Kippur-Krieg (6. bis zum 25. Oktober 1973) von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten überraschen, siegte aber auch dort.

Weltweiten Ruhm brachte die Operation Entebbe in der Nacht zum 4. Juli 1976, als Israelische Elitesoldaten auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda ein entführtes  Passagierflugzeug der Air France in nur 90 Minuten befreiten. Drei Geiseln, alle neun Entführer, 20 Ugandische Soldaten und der Israelische Befehlshaber wurden getötet.

102 überwiegend israelische Geiseln und die Air-France-Besatzung wurden unverletzt gerettet und ausgeflogen.

Natürlich bin ich kein Experte für die Israelische Armee und entnehme mein Wissen auch hier weitgehend aus der Literatur.

Bei Ron Leshem habe ich von einem ganz anderen Umgangston unter Israelischen Soldaten gelesen. Die Hierarchie wird weniger zelebriert und so können einfache Soldaten mit hohen Offizieren locker kommunizieren.

Ich erinnere mich an rührende Szenen, als im Libanonkrieg die in „Wenn es ein Paradies gibt“ beschriebene Einheit kontinuierlich von den Golanhöhen aus beschossen wird und sich junge Rekruten so sehr fürchten, daß sie in den Armen ihres Vorgesetzten einschliefen.

Ob das repräsentativ ist, weiß ich nicht. Kürzlich habe ich das Buch noch einmal gelesen und bin immer noch beeindruckt. Es sind harte Kerle, die schreckliches erleben und schreckliches tun, aber untereinander Menschen bleiben. Der Kommandant beschreibt in dieser Szene, wie er einen verstörten Mitkämpfer wieder aufbaut, nachdem ihrem besten Freud gerade vor ihren Augen der Kopf weggeschossen wurde.

[…] Ich zog ihn hoch zu mir. Es wird wieder, versicherte ich, wir passen einer auf den anderen auf, Ich bin hier, du bist hier. Das kommt in Ordnung. Er senkte den Blick. lch ließ nichtlocker. „Vertraust du mir?“, Sein Gesicht war ganz nah. „Vertraust du mir? Ich will, dass du mir sagst, ob du mir vertraust.“ Er sah mich wieder an. Und dann passierte es. „Ich bin bereit, für dich zu sterben“, sagte er. Kauerte da vor meinen Augen, ganz nah, und sagte: „Ich bin bereit, für dich zu sterben“. Einfach so, direkt ins Gesicht. Überleg mal, was es bedeutet, so etwas zu sagen, „ich bin bereit, für dich zu sterben.“ Was sollst du ihm antworten? Was du auch sagst, es würde nichtig klingen, bedeutungslos. Sollte ich sagen, dass ich bereit wäre, in einem nächsten Leben für ihn zu sterben? Das klang doch idiotisch,

Also, was machst du in solch einer Situation? Ihn in den Arm nehmen, küssen, ihm sagen: „Ich hab dich lieb.“ Seine Augen waren feucht, glitzerten, drangen mir in die Seele. Er lag wie ein kleiner Junge vor mir. Ich legte meine Hände auf seine Wangen, streichelte ihn. […]

(„Wenn es ein Paradies gibt“, 2005)

An dieser Stelle empfehle ich auch Ron Leshems Text „Feuer Israel und der 7. Oktober Was am 7. Oktober geschah – ein einzigartiges Buch über den Tag, der alles veränderte.“, der am 30.04.2024 erschien.

Leshem, geboren 1976, ist nicht nur ein großartiger Journalist, sondern ein hervorragender Romanautor.

Er beschreibt die Zahal nicht als Fan, aber realistisch.

Die Armee ist im besten Sinne ein Schmelztiegel, die extrem heterogen zusammengesetzt ist. Männer, Frauen, ultraorthodoxe Religiöse, metrosexuelle Großstädter, Freigeister, Säkulare und sehr viele Einwanderer aus allen Ländern der Welt, die kein Wort hebräisch sprechen.

Israel betrachtet diese Diversität als Stärke, erkennt die unterschiedlichsten Talente. Die Zahal ist ein Integrationsverein, der nebenher die schlagkräftigste Armee der Welt, die bestausgebildeten Kämpfer und die zweifellos professionellsten Geheimdienste stellt.

Eine große ARTE-Dokumentation widmet sich dem Thema.


Wenn schon Armee, dann israelische Armee.

Aber unter Scharon und Netanjahu ist etwas fürchterlich kaputt gegangen.

Aus der humansten Armee der Welt wurde eine Kriegsverbrecherin.

[…] Fast jeden Tag werden Palästinenser getötet, nur weil sie um Hilfe anstehen. Erschossen von israelischen Soldaten oder Rockern, wer weiß das schon. Das Grauen ist Normalität geworden. Aufmerksamkeit schafft höchstens noch mehr Grauen. Und auch daran mangelt es ja nicht. Ein Chirurg der Universität Oxford erzählte kürzlich, dass Teenagern von israelischen Soldaten gezielt in die Hoden geschossen worden sei, als eine Art Zielübung.  Gaza sei derzeit die „Hölle auf Erden“, schwante es selbst dem Bundesaußenminister Johann Wadephul am Dienstag. Wer dieses Höllenfeuer veranstaltet, blieb dagegen unklar, als sei es eine Art Naturgewalt, der durch nichts beizukommen sei. Schon gar nicht durch Sanktionen oder die Anerkennung eines Staates Palästinas. Fast zwei Jahre lang tobt der Krieg nun in Gaza. Was als berechtigte Verteidigung nach dem Terror der Hamas begann, hat sich zu einem endlosen Grauen entwickelt. Gaza wird in einer Reihe stehen mit Ruanda, Darfur, Srebrenica und dem Schicksal der Rohingya. Und es geht ja immer weiter. Gerade hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Sturm auf Gaza-Stadt befohlen, Hunderttausende Palästinenser wurden vertrieben, ohne zu wissen wohin, um die „letzte Bastion“ der Hamas zu stürmen. [….]

(Bernd Dörries, 25.09.2025)

Bei Erwachsenen feuern Angehörige der Zahal als Schießübung in die Hoden. Kinder- und Babyleichen werden mit gezielten Kopfschüssen aufgelesen.

[…] Berichten zufolge sind seit Kriegsbeginn mehr als 50.000 Kinder getötet oder verletzt worden (Stand Juni 2025). Laut dem Jahresbericht des UN-Generalsekretärs über Kinder in bewaffneten Konflikten wurden allein im vergangenen Jahr, also 2024 mehr als 8.000 schwere Kinderrechtsverletzungen in Israel und Palästina dokumentiert – so viele wie in keiner anderen Region weltweit, seitdem der Überwachungsmechanismus für schwere Kinderrechtsverletzungen vor 20 Jahren eingerichtet wurde. [….]

(Unicef)

Immerhin, schon vor einem Jahr begannen Angehörige der Zahal zu Protestieren und sich zu verweigern.

[….] Max Kresch will nicht mehr kämpfen. Der drahtige 28-Jährige steht auf dem Vorplatz des Tel Aviver Kunstmuseums. Statt Uniform trägt er Jeans und T-Shirt, vor dem nächsten TV-Interview steckt er sich eine gelbe Schleife an den Kragen: das Symbol für die Forderung nach einer Rückkehr der von der Hamas entführten Geiseln. „Für dieses Land und diese Regierung bin ich nicht mehr bereit mein Leben zu opfern“, sagt er. Zusammen mit ihm haben 129 andere Reservisten und Wehrdienstleistende Anfang Oktober einen Brief unterschrieben, so lange nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, bis ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln und für ein Ende des Krieges geschlossen wird. Seitdem hört das Telefon von Max Kresch kaum noch auf zu klingeln.

Dass 130 Soldaten ihren Dienst verweigern, während die Kämpfe gegen die Hisbollah im Libanon immer mehr an Fahrt aufnehmen und ein Krieg mit dem Iran jederzeit beginnen könnte, das sorgt für Diskussionen in Israel. Israelische Medien haben Vorrang bei Interviewanfragen, sagt Kresch in sein Handy. „Wir wollen laut sein und widersprechen, in einer Zeit, in der viele es sich nicht trauen.“ […] Das bisherige Versagen der Regierung, die Geiseln zurückzubringen, sei nur „the straw that broke the camels back“, also in etwa: der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, sagt Kresch. Die Unterzeichner seien teils zermürbt von ihren Erlebnissen im Krieg, teils geschockt von der politischen Stimmung in ihren Einheiten oder auch schlicht desillusioniert von der Tatsache, dass das Ziel dieses Kriegs zunehmend schwer auszumachen scheint. „Wir, die wir mit Hingabe gedient und dabei unser Leben riskiert haben, geben hiermit bekannt, dass wir unseren Dienst nicht fortsetzen können“, schreiben sie. […]

(Felix Wellisch, 25.10.2024)

Montag, 22. September 2025

Russland und Europa

Es schleichen sich gern mal Narrative im Journalismus ein, die jeder unkritisch repetiert und schließlich auch alle glauben, weil es so oft gelesen und gehört wurde.

Die Grünen sind eine Verbotspartei, Merz ist der Mann mit der enormen Wirtschaftskompetenz, die Griechen sind alle faul, Wolfgang Bosbach ist ein ehrlicher Klartextmann, etc pp.

Sieht man sich diese Konnotationen genauer an, sind sie aber falsch.

Manche Figuren werden aber auch richtig geframt. Donald Trump ist meines Erachtens tatsächlich extrem ungebildet, denkfaul und nur an seinem eigenen Wohl interessiert.

Ich glaube auch an das bekannte Putin-Narrativ; er teste kontinuierlich, wie weit er gehen könne, überschreite systematisch Grenzen und verstehe nur Stärke.

Daß er seinen Handlungsspielraum täglich misst, scheint mir offensichtlich. Nicht hundertprozentig sicher bin ich in der Frage, ob er sich von (militärischer) Stärke einschüchtern lässt. Könnte er womöglich von einem direkteren Eingreifen der NATO oder Angriffen auf russisches Staatsgebiet so gereizt werden, daß er zu ABC-Waffen greift? Dieser Gedanke, der offenkundig in vielen EU-Regierungen kursiert, läßt sich nicht beweisen oder widerlegen.

Wir erinnern uns aber an den 24. November 2015, als zwei russische Kampfjets von Syrien aus, in den Luftraum des NATO-Staats Türkei eindrangen. Ankara ließ sofort F-16s aufsteigen, warnte die russischen Piloten mehrfach und schoss eine Suchoi Su-24 ab. Die Besatzung, bestehend aus dem Piloten Oleg Peschkow und Waffensystemoffizier Konstantin Murahtin, konnte sich zwar zunächst mit Schleudersitzen retten, wurde aber am Boden von einer syrischen Miliz aufgegriffen und umgebracht. Putin war not amused, überzog die Türkei mit Sanktionen. Aber nachdem alle verbalen Dampf abgelassen hatten und die Türkei die Leiche Peschkows ehrenvoll nach Russland überführt wurde, näherte man sich schnell wieder an. Heute sind Putin und der fast gleichaltrige Erdoğan beste Kumpels. Das russische Militär verletzte nie wieder türkischen Luftraum und beim Umgehen lästiger EU-Sanktionen, steht Ankara Moskau hilfreich zur Seite.

Zehn Jahre später fliegen russische Aufklärungsdrohnen Drohnen täglich über sensibler deutscher Infrastruktur, sogar über Kasernen. Es gibt kontinuierlich russische Cyberangriffe auf die NATO, die russische Schattenflotte verschifft munter Gas und Öl über die Ostsee in die EU und Kampfjets dringen in den Estnischen und polnischen Luftraum ein.

[…] Wladimir Putin testet die Grenzen: Zwei russische Kampfflugzeuge sind nach Angaben des polnischen Grenzschutzes in die Sicherheitszone einer Bohrplattform in der Ostsee eingedrungen. Die polnischen Streitkräfte seien informiert worden, teilt die Behörde auf X mit. Die Jets seien im Tiefflug über die Bohrplattform Petrobaltic geflogen. Dabei sei die Sicherheitszone der Plattform verletzt worden. […] Kurz zuvor hatte bereits Estland mitgeteilt, dass russische Kampfjets vom Typ MiG-31 in den Luftraum des baltischen Landes und Nato-Mitglieds eingedrungen seien. Die drei Maschinen seien zwölf Minuten lang unerlaubt im estnischen Luftraum gewesen, sagte Außenminister Margus Tsahkna.  Die MiG-31 sind Abfangjäger, also Jagdflugzeuge, die feindliche Luftfahrzeuge abfangen und vernichten sollen. Sie sind das kampfstärkste Jagdflugzeug der russischen Armee, erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von mehr als 3000 Kilometer pro Stunde und besitzen Waffen mit großer Reichweite. Für die Kampfflugzeuge der Nato ist der MiG-31 ein ernst zu nehmender Gegner. Die Jets kommen regelmäßig in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Einsatz. [….]

(SPON, 19.09.2025)

Anders als das Nato-Land Türkei, wagen es Balten, Polen und Deutsche aber nicht, sich gegen die russischen Sticheleien zu wehren. Sie machen das, was Putin erwiesenermaßen überhaupt nicht beeindruckt: Empörte Pressemittteilungen, Beschwerden und die EU bereitet nach 18 völlig wirkungslosen antirussischen Sanktionspaketen, nun Nummer 19 vor! Darüber hinaus scheißen sich alle EU-Regierungschefs kräftig in die Hosen und blicken bange nach Washington: Was wird Trump sagen? Wird er Putin verurteilen? Beschützt Trump uns? Hilft er den schwächelnden Europäern im Baltikum?

Diese Europäische Hasenfüßigkeit sendet zwei Signale aus:

Erstens versteht Putin das als Einladung, weiter seine Muskeln spielen zu lassen. Die EU-Heulsusen werden es nicht wagen, sich ihm in den Weg zu stellen.

Zweitens wird Trump in seinem Misstrauen gegenüber Brüssel bestätigt. Wenn die schon nichts tun, muss die USA schon gar nicht militärisch gegen Russland aktiv werden.

Im gestrigen Presseclub/internationaler Frühschoppen herrschte diesbezüglich völlige Einigkeit: Merz führt nicht, Brüssel nässt sich ein, Putin fühlt sich gestärkt und insbesondere das deutsche Volk versteht überhaupt noch nicht, welcher enormen Bedrohung es ausgesetzt ist, sondern steckt den Kopf in den Sand: Einfach keine Waffen mehr an die Ukraine liefern, devot gegenüber dem Kreml auftreten und dann wird schon alles gut.


Nein, ich weiß auch nicht, wie es in Putins Kopf aussieht und habe kein sicheres Rezept dafür, wie man Frieden in Europa schafft und russische Expansionspläne eindämmt.

Aber so sicher ich vor einem halben Jahrhundert war, daß die EU Putin die Hand reichen sollte, um gemeinsam Politik zu machen (was auch beispielsweise 2003 gegenüber GWB sehr gut funktionierte), so sicher bin ich mir heute, daß es mit Putin keine Gemeinsamkeiten mehr gibt und daß er das Lavieren der EU seit 2014 immer nur als Aufforderung versteht, noch weiter zu gehen. Das 97. Sanktionspaket, an das wir uns noch nicht mal selbst halten und für Milliarden weiter Gas aus Russland einkaufen, kann offenkundig nicht die Lösung sein. Wenn wir Mig-31s ungehindert über uns rumfliegen lassen und wir uns noch nicht mal trauen, russische Drohnen über Bundeswehrkasernen abzuschießen, senden wir natürlich ein klares Signal nach Moskau: „Wir sind willige Opfer und wollen von dir missbraucht werden!

Ich kann es kaum glauben und erinnere mich an keinen Präzedenzfall, aber beim Thema „russische Jets“ stehe ich eher auf der Seite der CDU, als bei der taz, die vor Eskalation warnt:

[…] Die estnische Insel Vaindloo, seit wenigen Tagen europaweit bekannt, hat wenig zu bieten. […] Ist es deswegen harmlos, dass das russische Militär nach estnischen Angaben den Luftraum um die Insel verletzt hat? Nein. Hoheitsgebiet ist Hoheitsgebiet und erfahrungsgemäß lügt die russische Regierung, wenn sie den Überflug leugnet. Sollte die Nato aber im Wiederholungsfall russische Kampfjets abschießen, wie es in den letzten Tagen mehrere CDU-Politiker und implizit auch ein Kommentar in der taz gefordert haben? Ebenfalls nein. Legitim wäre ein solcher Schritt zwar. Unter Mitwirkung des Westens würde damit aber eine neue Eskalationsstufe erreicht – ohne großen Nutzen.

Für den russischen Überflug und vergleichbare Vorfälle der letzten Wochen sind mehrere Motive denkbar. Erstens: Russland will testen, wie gut die europäische Verteidigung funktioniert. Unter Vorbehalt – keiner von uns war vor Ort – kann man sagen: Sie hat funktioniert. Nato-Jets waren zur Stelle und hätten wohl eingreifen können, wenn die Gefahr eines Angriffs konkret geworden wäre. Zweitens: Russland wollte die europäische Bevölkerung verunsichern. Ein Stück weit ist das gelungen: Wem wurde ob der ersten Eilmeldungen aus Estland nicht mulmig?   […]

(Tobias Schulze, 22.09.2025)

Allerdings gibt es in der taz auch andere Stimmen; Redaktionskollege Dominic Johnson beschrieb es 24 Stunden zuvor ganz anders.

[….] Warum also reagiert die Nato nicht, wenn Russland Spähdrohnen nach Polen schickt, Kampfdrohnen über Rumänien leitet und zuletzt sogar drei Kampfjets zwölf Minuten lang ohne Kommunikation durch den Luftraum Estlands fliegen lässt? Die Türkei hat es vorgemacht: Man muss sich Respekt verschaffen. Klar, die russischen Jets wurden, wie es heißt, aus dem estnischen Luftraum „eskortiert“. Und man weiß nicht, wie Russland reagieren würde, wenn man auf eine russische Provokation Taten und nicht nur Worte folgen ließe. Aber man weiß, wie Russland reagiert, wenn man bei Worten bleibt: mit der nächsten Provokation, immer eine kleine Stufe höher. Je untätiger die Nato gegenüber Vorstößen aus Russland bleibt, desto mehr ermutigt sie russische Aggression.  [….]

(taz, 21.09.2025)

Der Kanzler hört aber offenkundig nicht auf Jürgen Hardt und Roderich Kiesewetter. Seine Möchtegern-Führungsrolle in der EU gibt Merz auf.

Schluss mit Außenkanzler. Deutschland isoliert sich in der EU und legt Brüssels Außenpolitik lahm. Ein katastrophale Fehlleistung des Kanzlers. Zur UN-Generalversammlung fliegt er erst gar nicht. Er lässt Macron im Stich.

[….] Kurz bevor am Dienstag bei den Vereinten Nationen in New York die diesjährige Generaldebatte beginnt, machen Frankreich und Saudi-Arabien am Vorabend der Uno-Generalversammlung einen spektakulären diplomatischen Aufschlag. Präsident Emmanuel Macron und der zugeschaltete saudische Kronprinz Mohammed bin Salman möchten bei einem Gipfeltreffen mit Dutzenden Staats- und Regierungschefs für eine Zweistaatenlösung im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern werben. Um den Druck auf Israel zu erhöhen, werden weitere westliche Staaten einen palästinensischen Staat anerkennen, darunter Frankreich. Am Sonntag hatten als erste der wirtschaftsstarken westlichen G7-Staaten Großbritannien und Kanada Palästina als Staat anerkannt, auch Australien und Portugal schlossen sich an.

Die Bundesregierung verfolgt einen zunehmend einsamen Kurs in der Nahostpolitik. [….] Die Bundesregierung weigert sich, einen Staat Palästina offiziell anzuerkennen. [….][….] Bundeskanzler Friedrich Merz betonte zuletzt, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates »gegenwärtig« nicht zur Debatte stehe. [….] Weltweit haben bereits rund 150 Staaten die palästinensischen Gebiete als Staat anerkannt. [….] Die vier Parteichefs von CDU, CSU und SPD vereinbarten am Sonntag in München, dass Deutschland vorerst keinen EU-Handelssanktionen gegen Israel zustimmen wird. Einen entsprechenden Vorstoß von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sehen die Koalitionsspitzen kritisch [….] Fest steht: Solange Deutschland blockiert, gibt es auf EU-Ebene nicht die benötigte Mehrheit für Sanktionen.

In weiten Teilen der EU stößt die Idee von Handelsbeschränkungen gegen Jerusalem auf Zustimmung. [….] Besonders die CSU steht bei Sanktionen auf der Bremse. »Wir weisen immer wieder darauf hin, dass wir aus unserer historischen Verantwortung ein historisch gewachsenes Freundschaftsverhältnis zu Israel haben«, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann am Montag. Und da gelte: »Dass man Freunde kritisieren kann, aber eben nicht sanktionieren«.[….] Jedes Jahr im September findet die Uno-Generalversammlung im New Yorker Hauptquartier der Vereinten Nationen statt. Es ist das wichtigste Diplomatie-Event des Jahres. Für Präsidenten und Regierungschefs ist das die Gelegenheit, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren und ihre Vision von einer globalen Weltordnung vorzustellen. Und sie haben die Chance, am Rande der Konferenz wichtige Absprachen zu treffen und neue Kontakte zu knüpfen. Donald Trump, Benjamin Netanyahu, Chinas Premier Li Qiang – sie alle werden da sein. Doch der Bundeskanzler fehlt. [….] Für den Kanzler hat das den vielleicht ja nicht ganz unwillkommenen Nebeneffekt, dass er sich und die deutsche Israelpolitik nicht gegenüber ausländischen Partnern rechtfertigen muss. In New York dürfte sich dieser Tage zeigen, dass Deutschland mit seiner Nahostpolitik zunehmend allein dasteht. Dass es um Merz einsam wird.  […]

(SPON, 22.09.2025)

Wieder ein Signal der Unterwürfigkeit aus dem Kanzleramt zum Kreml: Mit uns kannst du es machen!

Einmal mehr erweist sich Fritze Merz als internationales Desaster.

Dienstag, 16. September 2025

Perspektivwechsel

Die 1.182 Todesopfer am 07.10.2023 bei dem Terrorangriff auf Israel, waren der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust.

Mehr als 5.000 Verletzte und 250 in den Gaza-Streifen verschleppte Geiseln gehen ebenfalls ganz klar auf das Konto der Hamas.

Das weltweite Entsetzen war gewaltig und auch sehr ehrlich. Es waren keine Krokodilstränen, die da flossen. Israel bekam jede Solidarität. Die wichtigsten westlichen Staatslenker, an ihrer Spitze der durchaus Netanyahu-kritische Joe Biden, flogen persönlich nach Jerusalem, um sich unmissverständlich an die Seite der Opfer zu stellen. Auch die arabische Welt war entsetzt, bot Hilfe an.

Die Weltöffentlichkeit bot ein selten homogenes Bild. Niemand stellte auch nur eine Mikrosekunde die knallharte Reaktion der Israelischen Regierung in Frage. Jerusalem musste Stärke und Entschlossenheit zeigen; schon allein um jeden Nachahmer abzuschrecken. Es gab schließlich genügend Feinde in der Umgebung, die über die enorme Verwundbarkeit des hochgerüsteten Staates staunten. Die Israelische Terrorabwehr, die Geheimdienste, die Armee, die Sicherheitsbehörden haben einen Ruf wie Donnerhall. Wenn irgendjemand sein Volk schützen könnte, dann sie. So war auch nach dem ersten Schock des Terrorangriffs an sich, die Blamage des Netanyahu-Apparates die prägende Erkenntnis. Natürlich musste er die Scharte wettmachen. Im dritten Schritt überlegte man, was die weiteren Pläne der Hamas gewesen sein mögen. Mutmaßlich war sie von ihrem „Erfolg“ selbst überrascht und hatte nicht angenommen, auf so wenig Widerstand zu stoßen und so viele Leichen zu hinterlassen. Sicher eingepreist war aber die harte Reaktion. So wie es schon Osama bin Laden am 11. September 2001 gezeigt hatte. Das eigentliche Ziel waren nicht die 3.000 Toten am World Trade Center, sondern die Provokation einer so martialischen Antwort der USA, daß sich „die muslimische Welt“ gegen „die Kreuzzügler“ erheben würde.

22 Jahre später sollte nach genau dem gleichen Muster, das so perfekt bei George W. Bush funktioniert hatte, auch Bibi zu Untaten provoziert werden und in ein ähnliches Desaster, wie den Kriegen in Afghanistan, dem Irak und Syrien gezogen werden. Ein „islamischer Staat“, aka „das Kalifat“ entstand. Wie von bin Laden und seinen Fans erwünscht.

Die Absicht der Terroristen war also bekannt. Es war bekannt, wie fatal blindwütige militärische Rache enden kann. Es war bekannt, welche enormen Kosten an Geld, Reputation und Menschenleben für die USA entstanden. Bekannterweise war Netanyahu skrupellos und korrupt, aber sicher nicht so dumm, wie GWB. Ihm muss bekannt gewesen sein, wozu er provoziert werden sollte.

Militärische Reaktion Israels – ja. Blindwütiger Aktionismus – nein. Das waren die bangen Erwartungen des Westens in den Tagen nach dem schwarzen Schabbat. Netanyahu könne militärisch gar nicht „all in „ gehen, da ihm durch die 250 Geiseln die Hände gebunden waren; so viel galt als sicher. Das war die erste und dringendste Forderung der Israelis an ihre Regierung: Die 250 Geiseln lebend zurück zu bringen. Das Volk würde seinem Ministerpräsidenten niemals verzeihen, die Geiseln zu opfern.

Unvorstellbar, einfach unfassbar, wie sich die Perspektive kaum zwei Jahre später gewandelt hat.

Die Israelischen Opfer spielen in den Medien kaum noch eine Rolle. Die globale Solidarität mit Jerusalem ist nicht nur geschwunden, sondern wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Bibi Netanyahu mutierte zum Paria der Weltgemeinschaft, wird mit internationalen Haftbefehl gesucht. Unser Mitgefühl gilt nun den Menschen in Gaza.

Die Horrorzahlen vom 07.10.2023 - 1.182 Tote, 5.000 Verletzte, 250 Geiseln – wirken auf groteske Art klein. Inzwischen tötete und verletzte die Israelische Armee hundert Mal so viele Palästinenser.

[…] „Gaza brennt“. Mit diesen Worten kommentierte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz den jüngsten Vorstoß im Gazastreifen. Das Ziel der Soldaten: Die Stadt Gaza. Die US-Nachrichtenseite Axios zitierte israelische Beamte, denen zufolge es sich um den Beginn der Gaza-Offensive handele. Katz schrieb weiter: „Wir werden nicht nachlassen und nicht zurückweichen – bis die Mission abgeschlossen ist.“ […] Israels Armee hatte in der Nacht zum 16. September laut der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa ununterbrochen heftige Attacken auf Gaza geflogen. Begleitet von Artilleriebeschuss. Palästinensischen Medienberichten zufolge drangen danach Panzer in die Stadt ein, in der sich vermutlich noch Hunderttausende Palästinenser aufhalten. Israel hatte zuvor zu Evakuierungen aufgerufen. Erwartet wird dennoch, dass die Zahl der Toten und Verletzten steigen werden. Die Opfer würden sich in die Reihen der bisherigen einreihen.  „Dies ist kein sanfter Krieg“, sagte der ehemalige Chef des israelischen Militärs, Herzi Halevi. Vergangene Woche, also mehrere Tage vor der jetzigen Gaza-Offensive, sagte er im Süden Israels: „In Gaza leben 2,2 Millionen Menschen. Mehr als 10 % der Menschen, also über 200.000, wurden getötet oder verletzt.“   [….]

(FR, 16.09.2025)

Hunderttausende Tote, über zwei Millionen Menschen sollen vertrieben, Gaza vollständig zerstört werden. Bis in den Untergrund. Kanalisationen, Keller, Leitungssysteme – es ist nichts mehr da, das man wiederaufbauen könnte. Nur noch Trümmerberge.

Auch die UN spricht inzwischen von Völkermord. Was für eine aberwitzige Perversion der Weltgeschichte – ausgerechnet die Nachfahren des größten Genozids aller Zeiten, begehen einen Genozid.

[….] Israel begeht nach Auffassung der unabhängigen Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats im Gazastreifen Genozid. Vier der fünf in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 erwähnten Tatbestände seien erfüllt, befindet die dreiköpfige Kommission.

Die Kommission nennt als Tatbestände: Tötung, schwere körperliche oder seelische Schädigung, vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die vollständige oder teilweise Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung abzielen, und Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten. Zivilisten würden getötet, humanitäre Hilfe blockiert, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen systematisch zerstört und religiöse Einrichtungen angegriffen.  […]

(Tagesschau, 16.09.2025)

Immerhin eine Einschätzung von vor zwei Jahren bleibt richtig: Die Israelis werden ihrem Regierungschef die Aufgabe der Geiseln nicht verzeihen. 75% des eigenen Volkes stellen sich inzwischen gegen Bibi, fordern ein Ende des Krieges in Gaza.

Allein, es interessiert das rechtsradikale Kriegstreiberkabinett nicht.

Nun ist auch Netanyahu mitverantwortlich für den Tod der Geiseln. Er kann so handeln, weil Trump ihn lässt.

  

[…] In Israel gibt es sehr, sehr viel Kritik gegenüber der Regierung. Zum einen aus der Gesellschaft, von Menschen, die sich vor allem um die Geiseln sorgen. Das ist ein Riesenthema in Israel. Und es gibt auch militärische Kritik bis hin in den Generalstab, von Menschen, die dieser Offensive aus militärischer Perspektive sehr kritisch gegenüberstehen.

Es müsste international darum gehen, auch einen Blick darauf zu lenken und anzuerkennen, dass es in Israel zahlreiche politische und auch militärische Kräfte gibt, die durchaus einen anderen Kurs wollen.

Das Problem liegt ja auch ein wenig im Weißen Haus. Denn so wie es aussieht, haben die Vereinigten Staaten keine Stoppschilder aufgestellt. Und deswegen wären Europa und auch die mächtigen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate dazu aufgerufen, hier auch nach Washington zu argumentieren. […]

(Stephan Stetter, 16.09.2025 lehrt internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München.)

Die Zeit des Zauderns ist vorbei. Merz und Wadephul müssen endlich ihren Widerstand gegen Israel-Sanktionen aufgeben. Denn anders als der Iran und Russland, die EU-Sanktionen weitgehend aussitzen können, weil sie genügend andere Handelspartner haben, ist der Israelische Handel und technologische Austausch extrem von der EU abhängig. Zudem gibt es breite kulturelle Verbindungen, so daß EU-Maßnahmen gegen Israel sehr gezielt Netanyahu-Regierungsmitglieder beispielsweise mit Einreiseverboten treffen könnten, während man die Israelische Opposition, Bildungseinrichtungen uns Kulturschaffende weiter demonstrativ stärken könnte.

Deutschland muss sich unmissverständlich an die Seite der Geiseln stellen und darf nicht Bibi entschuldigen.

[…] Die Mutter eines verschleppten Mannes sagte Medien zufolge, ihr Sohn werde in Gaza als menschlicher Schutzschild missbraucht.

Im Gazastreifen sollen sich noch 48 Geiseln befinden. Davon sind 20 nach israelischen Informationen noch am Leben. Viele von ihnen befänden sich jetzt in der Stadt Gaza, hieß es in der Erklärung des Forums der Angehörigen. Israels Ministerpräsident Netanyahu trage die persönliche Verantwortung für das Schicksal der Geiseln. »Das israelische Volk wird die Opferung der Geiseln und Soldaten nicht verzeihen«, hieß es weiter.

Die israelische Armee hatte in den vergangenen Tagen ihre Luftangriffe in und um die Stadt herum schrittweise ausgeweitet und zuletzt begonnen, zahlreiche Hochhäuser in der Stadt zu zerstören. Sie wirft der Hamas vor, dort Beobachtungsposten eingerichtet und Sprengsätze platziert zu haben. In der Nacht zitierte die israelische Nachrichtenseite »ynet«  palästinensische Berichte, wonach nun Panzer gesichtet worden seien. [….]

(SPON, 16.09.2025)

Die Israelische Regierung ist völlig außer Kontrolle.

Rechte bis rechtsextreme Deutsche, die wie Söder, Merz, Dobrindt und Wadephul, die immer noch ihre Hand über Netanyahu halten, machen sich mitschuldig.

[…] Begleitet von massiven Luftangriffen hat Israels Militär in der Nacht auf Dienstag laut eigenen Angaben den Einmarsch nach Gaza-Stadt begonnen. Dort halten sich nach Schätzungen noch immer rund eine halbe Million Menschen auf. […] Die Armee setzt nach eigenen Angaben zwei Divisionen ein. Das umfasst mindestens 20.000 Soldaten. Eine dritte Division soll in den kommenden Tagen hinzukommen. Die Mehrheit der Soldaten sind Wehrdienstleistende. 60.000 Reservisten wurden in den vergangenen Tagen einberufen, zusätzlich zu 70.000 bereits aktiven. […] Flüchtende berichten von langem Suchen nach einem Stück Land, nur um ein Zelt aufzustellen. „Es gibt weder ausreichend Essen, Wasser noch andere Hilfsgüter“, sagt die Sprecherin des UN-Nothilfebüros OCHA, Olga Cherevko. Generalstabschef Eyal Zamir soll sich laut der Zeitung Haaretz über die Einschätzung der obersten Militäranwältin hinweggesetzt haben, die die Evakuierung ohne die notwendigen humanitären Vorbereitungen als illegal einschätzt. […] Trotz seiner Kritik setzt Zamir den Regierungskurs nicht nur um, das Militär geht dabei auch äußerst zerstörerisch vor: In den vergangenen Tagen wurden zahlreiche Hochhäuser bei Luftangriffen dem Erdboden gleichgemacht. […]

(Felix Wellisch, 16.09.2025)