Seit Jahren sehe ich schwarz, und zwar dunkelschwarz, prognostiziere
das Schlimmste, male mir die Zukunft in düstersten Farben aus. Meine einzig
wirksame persönliche Strategie, um das Desaster zu ertragen, ist es, mein
fortgeschrittenes Alter, meine angeschlagene Gesundheit und meine Kinder- und
Familienlosigkeit als echtes Glück umzumünzen. Ich habe nicht mehr so viel Zeit
nach und keine Verwandten, um die ich mir Sorgen machen müsste.
Insofern: Herzlich willkommen Atomweltkrieg oder planetarer Hitzekollaps! Wenn
man schon durch menschliche Doofheit induziert untergehen muss, dann doch am
liebsten in meiner Lage, in der nicht viel Lebenszeit verloren geht, ohnehin keine
Genomweitergabe vorgesehen ist und man auch noch Dekaden das Glück hatte, in einer
reichen Weltgegend ohne Krieg zu leben, sogar das nie mehr wieder zu bringende
Privileg genoß, Kindheit, Jugend, Schule und Studium völlig ohne das
fürchterliche Internet zu verbringen. Keine Social Media-Daueraufgeregtheit,
keine weltweit nivellierenden Moden, echtes lesen, selbstständiges nachdenken,
eigenes recherchieren. Rausgehen. Phantasie statt Youtube. Es war keine Idylle
in meiner Jugend. Viele Sorgen trieben uns um. Aber der große Unterschied ist,
daß damals der Großteil der Menschen nicht in Schwurbelblasen feststeckte und
bereit war, etwas zu unternehmen. Es gab gewaltige Demonstrationen mit bis zu
einer Million Teilnehmern. Wir konnten dermaßen viel Druck entwickeln, daß
einige der ganz großen Übel tatsächlich besiegt wurden. Der Katalysator und das
bleifreie Benzin wurden gegen den erbitterten Widerstand der CDU/CSU/Autolobby
durchgesetzt, verringerten den sauren Regen. Die Volkszählung von 1987, die
nach unseren damaligen Datenschutzvorstellungen, zum gläsernen Orwell-Menschen geführt
hätte, wurde trotz massiver Strafandrohungen so massenhaft boykottiert, daß sie
nicht zu Ende gebracht werden konnte. (Heute gibt jeder User einer Social-Media
Plattform bei der Erstellung eines Accounts mehr Daten freiwillig preis). Wir
konnten die Dünnsäureverklappung in der Nordsee aufhalten, die Felljäger dazu
bringen, Robbenbabys tot zu prügeln. Der schändliche §175 fiel 1994. Ein Jahr
später wurden auch Schwangerschaftsunterbrechungen weitgehend straffrei.
Jedes Kind begriff den Zusammenhang zwischen FCKW-Treibgas, der Ozonschicht und Hautkrebs. Natürlich behaupteten Industrie und konservatives Politiker, es sei zu gefährlich, zu teuer und/oder technisch nicht möglich auf Hologen-freie Treibgase umzustellen. 1989 wurden FCKW dennoch verboten und tatsächlich regenerierte sich die Ozonschicht. 1989 fiel auch der eiserner Vorhang, alle Osteuropäer wurden von Gefangenen zu freien Bürgern.
Probleme, auch globale Riesenprobleme gab es in meiner Jugend ebenfalls. Aber so deprimierend sie waren, es gab doch eine gewisse Hoffnung, sie zu überwinden. Es gab Beispiele für durch allgemeines Engagement erzielte Fortschritte.
Die Probleme meines Ichs der 2020er Jahre kulminieren aber wesentlich dramatischer. Klimaerhitzung, Rechtsradikalismus, Umwandlungen von Demokratien in Autokratien, radikale Umverteilung von unten nach oben, Überbevölkerung, Kriege, Migrationsdruck, antieuropäische Kräfte, die die EU zerreißen, Pandemie, Ressourcenverknappung, Gaza, Ukraine, globale Abhängigkeiten, Nazi-Mehrheiten in Ostdeutschland, Trump ante portas, Eskalation in Nahost, steigende Meeresspiegel, Extremwetterereignisse, Medikamentenengpässe, Wohnraummangel, Inflation, Bildungskatastrophe, Fachkräftemangel, Pflegedesaster, Brexit, Altersarmut.
Man kommt gar nicht mehr mit, bei den Aufzählungen.
[….] Viktor Orbán hat schon einiges erreicht auf seinem neoliberal-nationalistischen Weg, das liberale Europa zu zerstören. Es ist also einfach irre, dass einer, dem es gelang, die Pressefreiheit zu beschneiden und unliebsame prodemokratische Organisationen in Ungarn zu zerstören, und der sich von vornherein auf die Seite Putins gestellt hat, jetzt sogar den Vorsitz in der EU übernehmen darf. Und irre ist es auch, dass seine zerstörerische Außenpolitik von der EU finanziert wird. […..]
In viele der Desaster schlittern wir sehenden Auges, antizipieren sie seit Jahren, nur um sie dann noch brutaler, hilflos über uns ergehen zu lassen.
[….] Frankreich verschiebt sich so weit nach rechts wie noch nie in seiner modernen Geschichte: Es zeichnet sich eine historische Zäsur im Leben der Republik ab. Der rechtsextreme Rassemblement National hat gemäß ersten Prognosen des Umfrageinstituts Elabe vom Sonntagabend im ersten Durchgang der vorgezogenen Parlamentswahlen 33 Prozent der Stimmen gewonnen. Vor der Stichwahl vom 7. Juli wird der Partei von Marine Le Pen eine Ausbeute von insgesamt 255 bis 295 Sitzen im neuen Parlament vorausgesagt; andere Institute schätzen die erwartbaren Mandate in dieser komplexen Rechnung etwas tiefer ein. Die absolute Mehrheit in der Volksversammlung liegt bei 289. […..]
Im großen Unterschied zu den politischen Problemen meiner Jugend, besteht bei den heutigen Megakrisen de facto gar keine Hoffnung auf Lösungen. Es gibt noch nicht einmal entsprechenden Druck der Bevölkerungen auf die Politiker, weil ein Großteil der Medienblasen fehlgelenkt wird, die Realität nicht mehr erkennt und dadurch sogar aktiv darauf hinwirkt, die Probleme zu verschärfen, indem sie beispielsweise in Deutschland wie verrückt Gasheizungen einbauen und Verbrennerautos kaufen. Der nächste Kanzler wird Merz heißen und den Klimaschutz aufgrund des Willens des Urnenpöbels beenden.
Sie wählen keine lösungsorientierten Mehrheiten, sondern ausschließlich nach einem trotzigen „ich bin dagegen“-Gefühl.
[…..] Die europaweite Hausse rechter bis rechtsextremer Parteien hat auch mit dem Abwahl-Phänomen zu tun. Im Zentrum der Programmatik extremistischer Parteien steht immer der Kampf gegen „das System“ und jene Parteien, die es angeblich tragen, die „Systemparteien“, die „Altparteien“, die Etablierten. (Das trifft auch für die linkspopulistische Partei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon zu, dem Kopf der sich selbst so nennenden „Neuen Volksfront“ bei den französischen Wahlen.) Weder RN noch die AfD noch die nationalistische Partei Reform UK des Rechtspopulisten Nigel Farage in Großbritannien geben sich ernsthaft damit ab, wie die Umsetzung oder gar die Finanzierung ihrer Dagegen-Programme konkret aussehen soll. Sie gewinnen immer größere Wähleranteile nicht dadurch, dass sie erklären, was sie wie wollen, sondern dadurch, dass sie verkünden, was sie nicht wollen: dass es so weitergeht wie bisher. Dieses prinzipiell destruktive Politikverständnis eröffnet allen Unzufriedenen die Möglichkeit, ihre individuelle Unzufriedenheit auf eine Organisation der Unzufriedenen zu projizieren. […..]
Hoffnungen kann ich mir nicht mehr machen. Die Zukunft der Menschheit sieht düster aus und wird jeden Tag düsterer.
Aber sofern man diese Tatsache erkennt, kann man seine Rationalität bemühen und stellt fest: Für uns just gerade zufällig lebenden Menschen, die nur diesen lächerlichen winzigen, ein paar Jahrzehnte währenden Eindruck einer Milliarden Jahre alten Erde bekommen, ist es natürlich Pech, daß ausgerechnet während unserer Lebensspanne die eigene Spezies untergeht. Aber für die Welt, den Rest der Fauna, die Flora, für die Umwelt ist das Ende des Homo Sapiens zweifellos ein Glück.
Auch für die emotionale Ebene habe ich einen Tipp: Meine Alstergenossin Carolin Emcke lesen. So fühlt man sich in seiner Frustration wenigstens verstanden, während man dem draußen bei der Bällchentreter-EM jubelnden und grölenden Pöbel lauscht.
[….] „Diese Tage erinnern an einen alten Witz“, schrieb die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa in ihrem bitter-klugen „Tagebuch vom Ende der Welt“, „am Abend denkst du: Schlimmer kann es nicht werden. Aber am nächsten Morgen sagt das Leben freudig: Doch, kann es.“ Ein wenig so fühlt es sich an dieser Tage seit den Europawahlen und der desaströsen Präsidentschaftsdebatte in den USA. Man möchte gern an einen Grenzwert der Erschütterung glauben, an etwas, das diese Serie an Katastrophen beenden kann. Nicht noch eine niederschmetternde Nachricht. Nicht noch eine Region, die in historischen Fluten versinkt. Nicht noch radikalere antidemokratische Mobs. Nicht noch mehr Lügen. Nicht noch eine weitere Front. Man möchte Grund unter den Füßen spüren, das, worauf sich stehen, worauf sich verlassen lässt, dass es nicht auch noch einem entzogen oder zerstört wird. Man möchte die sozialen, ethisch-kulturellen Strukturen unangetastet und gefestigt wissen, all das, was verbindet und schützt. Am Abend denkst du: Schlimmer kann es nicht werden. Aber am nächsten Morgen sagt das Leben freudig: Doch, kann es. Die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten im November könnten so einen nächsten Morgen präsentieren. Unter dem Albdruck gerät das Gefühl für Zeit verloren. Die Krisen der vergangenen Jahre haben sich so miteinander verbunden und verwickelt, dass es mir oft nicht gelingt, meine Erinnerung in eine genaue chronologische Ordnung zu bringen. Alles ist verdichtet zu einer großen Unruhe. Langsam geht es an die zuversichtliche Substanz. Es zehrt am Reservoir an zivilgesellschaftlicher Gefasstheit, mit dem sonst politische oder soziale Schrecken aufgefangen und ausbalanciert werden. Die Abfolge aus Corona-Pandemie, russischem Angriffskrieg in der Ukraine, dem 7. Oktober und der entgrenzten Gewalt im Nahen Osten. Und schließlich antidemokratische, autoritäre, neonationalistische Bewegungen und Figuren, die systematisch und radikal Europa und die USA verwandeln wollen. Was von den Prinzipien des Rechtsstaats, dem Minderheitenschutz, den Normen der internationalen Ordnung und dem Klimaschutz danach noch bleiben wird, lässt sich nicht mehr sagen. [….]