Diejenigen, die immer so selbstverständlich wissen, daß man
heutzutage keine klassischen Periodika wie „SPIEGEL“ oder „Süddeutsche Zeitung“
mehr benötigt, sind diejenigen, die keine solchen Abonnements haben, die
Artikel nicht lesen und dennoch genau beurteilen wollen, was in den Recherchen steht,
die sie gar nicht kennen.
Es gibt aber Themen, die man sogar ausschließlich offline
erreicht, wie beispielsweise die Berichterstattung über den Pell-Prozess in
Australien.
Andererseits sind da die Megaskandale wie die Panama-Papers,
über die man selbstverständlich auch online lesen kann, aber deren Details
exklusiv in epischer Breite in der Süddeutschen abgedruckt werden.
SPIEGEL-Verachter mögen grundsätzlich über politische Beratertätigkeiten
informiert sein, aber sie können das perfide generalstabsmäßige Vorgehen der
großen internationalen Beraterfirmen nicht so gut beurteilen wie die Leser der
aktuellen Titelgeschichte „Die fünfte Gewalt.“
Ich rate jedem, sich das aktuelle Heft, SPIEGEL Nr.5,
26.01.2019 zuzulegen, um genau zu studieren, wie und wo mit welchen Absichten
Staat und Regierung beraten werden. Hinter den beschrieben skandalösen
Zuständen verbirgt sich aber das toxisch-staatsverachtende FDP-Denken, welches
seit den frühen 1980er Jahren die Handlungsfähigkeit unseres Landes
unterminiert.
Die Möllemanns und Westerwelles und Lindners und
Wirtschaftslobbyisten haben unseren Staat inzwischen weitgehend zersetzt, indem
der Bevölkerung und Presse flächendeckend eingeimpft wurde der Staat müsse sich
zurückziehen. Er wäre „aufgebläht“. Deregulierungs- und
Entbürokratisierungsbeauftragte wurden bestimmt, der „verschlankte Staat
gefordert“, Ministerien zu grotesken Superministerien fusioniert, systematisch
Beamte entlassen. Ex-MP Edmund Stoiber sollte in Brüssel als Leiter einer
EU-Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau Strukturen straffen und Personal in Rente
schicken.
Nachdem im Bundesinnenministerium die McKinsey-Berater eingefallen
waren, wurde so viele Stellen gestrichen, daß es nur noch rudimentäre
Arbeitsfähigkeit gab. Schon in der schwarzgelben Koalitionszeit (2009 bis 2013)
bat das BamF die Minister Thomas de Maizière und Hans-Peter Friedrich dringend
um Stellenaufstockung. De Maizière lehnte das bis in den Sommer 2015
kategorisch ab und bekam dann was er bekommen musste. Chaos und völlig
überforderte Behörden.
[….] Das Bamf wird von einer reinen Asylbehörde zum zentralen Nadelöhr
für Ausländerfragen in Deutschland. Es ist der Ort, an dem sich die Flüchtlingskrise
zuerst bemerkbar macht. Ab 2013 beginnen die Zahlen bei der Registrierung
von Asylbewerbern zu explodieren. Das Amt müsste nun schnell reagieren,
es müsste Personal einstellen, die IT anpassen, neue Arbeitsabläufe
schaffen. Es passiert: fast nichts. 2015 steht das Bamf vor dem Kollaps,
durch den anschwellenden Andrang der Flüchtlinge und die Untätigkeit
der Politik.
»Es gab in den operativen Kernprozessen des Bamf keine
funktionsfähigen Abläufe«, so heißt es in einer Verschlusssache der
Bundesregierung aus dem Jahr 2017, die auf 45 Seiten die Zustände im
Bamf rückblickend als »desolat« analysiert. Die Führungskräfte werden
als »hilflos« und »überfordert« beschrieben. [….]
(SPIEGEL 5/19)
Brüderle, Rösler und Westerwelle haben es geschafft dem Volk
einzureden, es wäre vorteilhaft möglichst wenige Minister und wenige Ministeriale
zu haben, es wäre wünschenswert Ortsämter und Justizbehörden personell
auszuquetschen.
FDP und INSM-Lobbyisten sind wie eine Autoimmunkrankheit
Deutschlands.
Nun sind (noch) die Kassen voll, aber es fehlen 50.000
Lehrer, in den Grundschulen bröckelt der Putz, Universitäten platzen aus den
Nähten, Jugendstraftäter warten Jahrelang auf ihren Prozess, weil es viel zu
wenig Richter und Staatsanwälte gibt, viele hundert Milliarden Euro Steuern
werden hinterzogen, weil keine Steuerfahnder da sind, 500 mit Haftbefehl
gesuchte Rechtsextreme laufen frei rum, weil die Zivilfahnder dafür keine Zeit
haben, die Straßen sind voller Schlaglöcher und die Brücken verfallen.
[….] Im Bereich des Bundes wurden allein in
den vergangenen zehn Jahren mehr als 50 000 Stellen abgebaut. Der Deutsche
Beamtenbund beklagt eine Personallücke von 200 000 Menschen im öffentlichen
Dienst. […..]
(DER
SPIEGEL, 5/19)
Und wenn irgendein Problem auf die Regierung zukommt, wie
dieses neumodische Hacken und Phishen - Seehofers Jungs sind im Jahr 2019 offenbar
völlig überrascht, daß es sowas gibt – schreit man gleich nach IT-Beratern.
Internet ist Neuland für die Bundesregierung; es gibt schlicht kein Fachwissen
dafür im Innenministerium.
Den Staat totzuschrumpfen ist eine Idee, die auch von
anderen geistigen Größen gefeiert wird.
[….] [Datenwissenschaftler Dhanurjay Patil] erzählte mir,
wie die Regierungsbeamten nach Trumps Sieg die Übergabe der Amtsgeschäfte
an ihre Nachfolger vorbereiteten. In den Behörden wurden aufwendige
Briefings präpariert, Meetings terminiert. Und dann kam niemand. Die Obama-Leute
saßen meist allein da, keine Trump-Gesandten weit und breit, nicht nach Tagen,
nicht nach Wochen. An den Institutionen dieses Staates, dem sie nun
plötzlich vorstand, hatte und hat diese Regierung schlicht kein Interesse.
[….] Es war schon immer ein Problem, dass Politiker
Wahlkampf machen mit dem Ruf nach einem schlankeren Staat. Sie stellen
sich als Kämpfer gegen den Verwaltungsdschungel dar, schon Reagan hat
das gemacht, die Bushs genauso. Allerdings war es bei früheren Präsidenten
so, dass sie, kaum waren sie im Weißen Haus, begriffen haben, wie wichtig
ihre Ministerien sind. Bei Trump ist es anders. Er glaubt tatsächlich,
dass der Staat nutzlos ist, er hat keine Ahnung, was seine Behörden tun,
und er will es auch nicht wissen. [….]
(Bestsellerautor Michael Lewis im SPIEGEL Nr 5/2019)
Es läge mir fern Angela Merkel mit Trump zu vergleichen. Das
hat niemand verdient.
Aber auch sie versteht nicht wozu eine Ministerialbürokratie
da sein kann.
Üblicherweise wird ihre „Schlanker Staat“-Obsession auf
schlechte Erfahrungen in der DDR zurückgeführt. Ich halte das aber für eine arg
simple Deutung und glaube einfach es entspricht ihrem phlegmatischen Naturell
sich nicht allzu sehr den Kopf über die Zukunft zu zerbrechen.
(…..) Das strategische Denken ist im Kanzleramt
längst abgeschafft.
Das beklagen interessanterweise
in erster Linie konservative Medien.
Es folgte der Herausgeber der
stramm konservativen F.A.Z. Frank Schirrmacher.
Bürgerliche Werte: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“
Im bürgerlichen Lager werden die Zweifel immer größer, ob man richtig
gelegen hat, ein ganzes Leben lang. Gerade zeigt sich in Echtzeit, dass die
Annahmen der größten Gegner zuzutreffen scheinen.
Das zutiefst bürgerliche Manager-Magazin
empört sich in der aktuellen Ausgabe über die totale Denkfaulheit und
intellektuelle Unterbesetzung des Merkel’schen Kanzleramtes.
Wie die Merkel-Regierung Politik simuliert
Strategische Fragen werden geräuschlos verwaltet - bestenfalls. Der
Euro? Eine Großbaustelle ohne Bauplan. Die Energiewende? Ein Projekt mit
desaströsem Vollzugsdefizit. Die drohende Vergreisung der Gesellschaft? Die
alles umwälzende Digitalisierung der Wirtschaft? Themen für "Gipfel"
genannte Konferenzen, mit denen die Merkel-Regierung Politik zu simulieren
pflegt - schöne Bilder, keine Folgen.
[….] Im
Kern plagen das Kanzleramt zwei Defizite: ein personelles und ein
strukturelles. Zum einen mangelt es an straffer Leitung; dem Amt fehlt Führung
an der Spitze, auch wichtige Abteilungen waren schon stärker besetzt.
Zum anderen ist die Organisation der Regierung überholt: Nach wie vor
dominiert das Ressortprinzip. Gemäß Grundgesetz ist die Regierungsgewalt
geteilt zwischen den Ministerien. Das Kanzleramt soll kontrollieren und
koordinieren. Doch in einer Zeit, in der viele Probleme Ressortgrenzen
sprengen, steigt zwangsläufig die Bedeutung der Zentrale.
So erscheint das Merkel-Amt als real existierendes Paradoxon: An der
Spitze steht eine Kanzlerin mit Richtlinienkompetenz, die aber, wenn irgend
möglich, keine Richtlinien vorgibt. Ihr assistiert ein Kanzleramtschef, der
Konflikte ausräumen und Entscheidungen beschleunigen soll, stattdessen aber
Streit schürt und Beschlüsse ausbremst.
[…] Der eigentliche Hebel einer
Kanzlerschaft besteht in der Deutungshoheit. Wirkmächtig agieren kann der
Regierungschef, wenn er Strategien formuliert - indem er Volk und Welt eine
Idee davon vermittelt, wohin man gemeinsam will, und diese Idee dann
konkretisiert. Verfassungsrechtler nennen das Richtlinienkompetenz.
Im Zentrum der Macht herrscht inhaltliche Leere
Ideen? Konzepte? Strategien? All das ist Merkels Sache nicht. Im
Zentrum der Macht herrscht eine bedrückende inhaltliche Leere.
Das beklagen auch Topentscheider des Regierungsapparats selbst, die die
Stiftung Neue Verantwortung kürzlich befragen ließ. Um in einem immer
unsichereren Umfeld managen zu können und den Ereignissen seltener
hinterherzurennen - "vor die Lage" zu kommen, wie Ministeriale das
nennen -, wünschen sich die meisten Befragten mehr strategisches Denken und
mehr Koordination.
Der bürgerlich-Intellektuelle
CICERO beklagt währenddessen den Jubeljournalismus, der unkritische Merkelbelobigungen
abliefert.
Wird es problematisch, leugnet
Merkel die Realität und gibt „Es geht uns gut“-Parolen aus. (….)
Nicht nur die strategischen Abteilungen im Bundeskanzleramt
müssten umgehend wieder aufgebaut werden.
Alle Regierungsbehörden sollten gewaltige Mengen gut
bezahlter kluger Mitarbeiter einstellen.
[….] Natürlich, sagt [Frank Jürgen] Weise, sei der deutsche
Staat prinzipiell von großer Leistungsfähigkeit mit hervorragenden
Fachkräften, »aber der Druck zur Verbesserung entsteht nur noch durch Krise«.
Ein großer Unterschied zur Privatwirtschaft, wo Unternehmen gegensteuern,
wenn kein Geld mehr verdient wird oder Kunden sich beschweren. Dem Staat
fehle also »die Motivation zur Innovation«, sagt Weise. Nach neuen
Ideen werde nur gesucht, wenn etwas richtig schiefgehe. Was aber, wenn
immer schnellerer Fortschritt, eine sich viel schneller wandelnde Welt,
eigentlich ständige Anpassung und Innovation erfordert?
[….]
(Spiegel
Nr. 5/2019)
Wie konnte der Begriff „Ministeriale“ nur so negativ
konnotiert werden? Und wieso ließen Medien und Regierte diese Deutung von
Radikal-Neoliberalen zu?
Das „Ministerielle Seele“ wurde kaputt gespart. Die Besten gehen
heute in die Privatwirtschaft, wo man besser bezahlt und nach Leistung
(statt nach Dienstjahren) befördert wird. Die Verwaltung funktioniert nicht mehr.
Deutschland ist nun leider unfähig Großprojekte zu planen,
vorrausschauende Außenpolitik zu machen oder auch nur Baustellen bei einer
Straßensanierung zu koordinieren, daß nicht immer alle im Stau stehen.
(….) Wäre Merkel zu strategischem Denken fähig,
hätte Deutschland nicht in der letzten Dekade die außenpolitischen Beziehungen
so eingefroren, daß gemeinsames Handeln kaum noch möglich ist, könnte man
natürlich angesichts sich anbahnender menschlicher Superkatastrophen
vorausschauend handeln, Verhungernde und Kriegsflüchtlinge rechtszeitig
versorgen, bevor sie notgedrungen gen EU pilgern und im Mittelmeer ertrinken.
Schließlich fallen die Krisen
nicht vom Himmel sondern bahnen sich lange an.
Aber Merkels Strategie des
prinzipiellen Phlegmas, die scheinbar vom Wähler so geliebt wird, hilft da
leider gar nicht.
[….] "Die meisten Ereignisse sind Vorwegnahmen anderer Ereignisse, oder
Teile dieser Ereignisse." Ein Beispiel für diese Sorte Ereignis, das
andere Ereignisse vorwegnimmt, ist die Entscheidung des "World Food
Programme" (WFP) der Vereinten Nationen im Jahr 2015, die monatlichen
Zuschüsse zu den Lebensmittelkarten für syrische Flüchtlinge zu kürzen. Konnte
eine Flüchtlingsfamilie im Sommer 2014 noch Nahrungsmittel und Hygieneartikel im
Wert von rund 25 Dollar pro Mitglied mit ihrer Karte beziehen, war es ein Jahr
später nur noch die Hälfte. Dieses Ereignis war wiederum nur die Folge eines
anderen Ereignisses, nämlich der mangelnden Spendenbereitschaft internationaler
Geber, die trotz eindringlicher Bitten des WFP das nötige Geld nicht
aufbrachten und so das Budget immer weiter sinken ließen - bis eben die
Unterstützung für syrische Flüchtlinge gekürzt werden musste. Erst um ein
Drittel, dann noch einmal bis auf erbärmliche zwölf Dollar im Monat.
Die Ereignisse danach sind bekannt: Statt zu verhungern, wagten
syrische Familien zu Hunderttausenden den Aufbruch nach Europa. Anschließend
waren sich alle einig, dass es günstiger gewesen wäre, dieser verzweifelten
Fluchtbewegung zuvorzukommen. Alle waren sich auch einig, dass dieses Ereignis
hätte antizipiert und vermieden werden können, wenn die Hinweise des WFP auf
die drohende Katastrophe ernst genommen worden wäre. Bundeskanzlerin Angela
Merkel gestand bemerkenswert zerknirscht ein: "Hier haben wir alle
miteinander - und ich schließe mich da mit ein - nicht gesehen, dass die
internationalen Programme nicht ausreichend finanziert waren." [….]
Brüssel und Berlin werden aber
nicht nur von Paralyse und Apathie geplagt, sondern sind zudem auch noch
lernunfähig.
Dabei müßte Merkel nicht etwa
erst Sherpas aus ihrem eigenen Kanzleramt losschicken, um zu erfahren, wo in
der Welt das nächste Ungemach droht. (….)