Sascha Lobo mausert sich immer mehr zu einem meiner Lieblings-Kolumnisten. Der Mann ist ernst zu nehmen und ist ein begabter Stilist.
Kolumnisten verändern sich. Bis vor zehn Jahren mochte ich Jens Bergers „Spiegelfechter“, las auch interessiert die „Nachdenkseiten“ des SPD-Vordenkers Albrecht Müller, als Berger dorthin wechselte. Die 2003 gegründeten Nachdenkseiten, waren zunächst ein Gegenprojekt zur Arbeitgeber-Lobbypropaganda der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, klärte über ökonomische Zusammenhänge auf. Ab 2013/2014 drifteten Müller und Co aber immer mehr in verschwörungstheoretische Wahnwelten ab, verbreiten inzwischen Covidiotie und Putin-Propaganda.
Als Außenministerin Baerbock am 01.03.2022 vor der UN den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt, poltern die Nachdenkseiten im schönsten Lafontainisch.
[….] Wer so redet und das noch mit patziger Gestik unterstreicht, sollte tunlichst die politische Bühne verlassen, weil damit sämtliche Gesprächsfäden mit der anderen Seite gekappt sind und sich Diplomatie selbst ad absurdum führt. Anstatt mit Contenance und Besonnenheit bei strikter Abwägung des gesprochenen Wortes unbedingt auf Deeskalation hinzuwirken! Zudem: So viel überbordender Zynismus und aufgeplusterte Doppelmoral/Heuchelei waren noch nie. [….]
Es folgt die klassische Whataboutism-Rechtfertigung für Putin: Die USA haben noch Schlimmeres getan und das haben wir auch nicht kritisiert.
[….] Kein kritisches Sterbenswörtchen dieses Kalibers ward jemals aus dem Munde hochrangiger deutscher Politiker und Diplomaten zu vernehmen, als US-amerikanische „Friedenskrieger” weitaus zerstörerische Aggressionen gegen Afghanistan, Irak, Syrien, Somalia, Libyen, Jemen u.a. entfesselten. In diesen „Friedenskriegen“ wurde alles „umgepflügt“, was sich den Besatzern in den Weg stellte. Von „humanitären Korridoren“ war nicht einmal die Rede. Ganz im Gegenteil: Es wurden Streubomben mit verheerender Wirkung für Mensch und Natur eingesetzt, denen zynische Militärstrategen den Namen „Gänseblümchenschneider“ verpasst hatten. Da hätten eine kleine Fatimah oder ein kleiner Hassan noch so laut schreien können; keiner hätte diese Hilferufe auch nur hören wollen! [….]
Nun, der Autor Reiner Werning biegt sich das Verhalten der „hochrangigen deutschen Politiker“ zurecht. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer waren hochrangig und lautstarke Gegner des US-amerikanischen Einmarsches in den Irak. Gleichwohl ist wahr: Die USA, der Westen, die NATO haben schwerste völkerrechtswidrige Aggressionen begangen und humanitäre Katastrophen ausgelöst.
Das heißt aber nur, daß beispielsweise der Krieg gegen den Irak von 2003 AUCH falsch war und nicht etwa, daß dadurch der Krieg gegen die Ukraine richtig wird.
Whataboutism fühlt sich gut an, scheint in einem argumentativen Disput schwer zu wiegen. Gerade deswegen ist Wladimir Putin ein Meister des Whataboutism, führt diese Punkte stets kenntnisreich an: Das verfehlt nie seine Wirkung.
[….] Merkel ärgerte sich, wenn der Westen sich anfällig für Kritik machte, zum Beispiel beim Militäreinsatz in Libyen. So gab man Putin die Chance, sich zu beschweren, dass der Westen an ihm kritisiere, was man sich selbst erlaube. Putin ließ keinen Anlass zur Klage aus, zeigte sich oft über Details bestens informiert und vermochte Merkel gelegentlich argumentativ in Verlegenheit zu bringen. Womöglich war gerade ein gewisser Scharfsinn des russischen Präsidenten ein Grund dafür, dass die Pragmatikerin, die Rationalistin Merkel sich eines nicht vorstellen konnte: dass Wladimir Putin sich in eine Welt des Wahns hineinsteigern – und letztlich sogar die Zukunft seines Landes aufs Spiel setzen würde. [….]
Whataboutism kann den gegnerischen Diskutanten also erst mal ausknocken, obwohl er keinerlei Rechtfertigung bietet, sondern nur dem anderen dessen Überheblichkeit nehmen kann. Die Nachdenkseiten vertreten sogar einen Whataboutism 2.0, indem sie nicht nur die Aufzählung westlicher Missetaten abspulen, sondern auch ihre Stoßrichtung festlegen. Mit großer verbaler Verve und Häme wenden sie sich gegen Annalena Baerbock, der man kaum vorwerfen kann, persönlich für den Afghanistankrieg oder den Bundeswehreinsatz in Mali verantwortlich zu sein. Die Attacke auf Baerbock fällt so ausführlich aus, daß man Putin ganz vergisst. Der russische Präsident wird nämlich gar nicht kritisiert. Damit verlassen die Nachdenkseiten aber das seriöse Lager.
Man kann, darf und soll auf NATO-Gräuel hinweisen. Man darf aber nicht zu russischen, oder arabischen Gräueln schweigen.
Der eingangs schon gelobte Sascha Lobo legt hingegen seine Finger in unsere eigenen Wunden, ohne dabei sein Koordinatensystem zu verschieben und klar zu benennen, was falsch und richtig ist.
Beim Thema Ukraine-Krieg und der Frage, wie man mit dem Putin vom März 2022 umzugehen hat, richtet sich sein Furor allerdings für meinen Geschmack zu sehr auf die Putin-Versteher, die er wirklich verachtet.
[…..] Der Begriff »Putin-Versteher« ist dabei spätestens seit der Krim-Annexion eine arge Verharmlosung, denn es muss Putin-Propagandist heißen. Zur Nationalbigotterie gehört auch, dass Putins Kommunikationsfußtruppen immer so taten, als müsse man dem heutigen russischen Diktator alles durchgehen lassen, sonst sei man Kriegstreiber. Und jetzt sind sie schwer geschockt, erklären, wir alle hätten uns geirrt, das habe man alles nicht wissen können. Auch abseits von Putinisten wie Klaus von Dohnanyi, Matthias Platzeck oder Gerhard Schröder gibt es Leute, die ansonsten höchste moralische Maßstäbe an alle anlegen, in diesem Fall genau das aber bisher leider leider versäumt haben, zum Beispiel die Grüne Legende Hans-Christian Ströbele. [….]
Klaus von Dohnanyi einen Putinisten zu nennen, ist bösartig und falsch. Niemals behauptete Dohnanyi, man solle Putin einfach alles durchgehen lassen. Ja, der fast 94-Jährige ehemalige Hamburger Bürgermeister hat sich, wie fast alle Politiker und Journalisten geirrt, als er annahm, Putin werde die Ukraine schon nicht angreifen.
Er hat aber Putins Politik nicht gerechtfertigt, nicht unterstützt und außerdem war er der Erste, der diese Fehleinschätzung unumwunden zugab – und zwar eine Woche vorher, ausgerechnet im SPIEGEL, für den auch Lobo schreibt.
[….] Klaus von Dohnanyi hat sich in der Einschätzung von Putins Plänen schwer geirrt. Doch er ist nicht der Einzige. Sein Irrtum ist nur auffällig, weil er ihn so frisch festgehalten hat, zwischen zwei Buchdeckeln. [….] Auch im intellektuellen Milieu jenseits der SPD gab es Irrtümer. Doch als der SPIEGEL bei mehreren Leuten aus diesem Milieu anfragte, ob sie sich dazu äußern wollten, lehnten sie ab. [….] Klaus von Dohnanyi ist bereit zu einem Gespräch. [….] »Natürlich habe ich mich geirrt«, sagt er dann am Telefon, »daran gibt es doch keinen Zweifel. Ich hatte angenommen, dass Putin es schon aus eigenem Interesse bei einer Drohung belässt, dass er den letzten Schritt nicht gehen würde, aber es ist anders gekommen.« Und wenn man ihn fragt, warum es ihm im Vergleich zu anderen leichterfalle, diesen Irrtum zuzugeben, sagt er nüchtern: »Also das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Mir geht es letztlich immer darum, den Versuch zu machen, die Wirklichkeit zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen. Und wenn man sich über die Realität getäuscht hat, dann gehört doch auch das zur Realität dazu.« Aber das ändere nichts an den beiden Aussagen, die ihm am wichtigsten seien: »Putin hat den Krieg verbrecherisch begonnen. Und der Westen hat nicht alles getan, was er hätte tun können, um das vielleicht noch zu verhindern. Das sind meine beiden Positionen. Und bei denen bleibe ich.« [….] Wie er sich gefühlt habe am 24. Februar und ob diese Gefühle denn zu vergleichen seien mit jenen bei anderen politischen Ereignissen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor fast 77 Jahren? »Es gibt kein zweites Ereignis in dieser ganzen Zeit, das mich so ins Mark getroffen hat, wie der russische Einmarsch in die Ukraine. Ich schlafe schlecht und bin in einer depressiven Stimmung. Alles hat sich verändert seit dem 24. Februar.« [….] Am Ende des Telefonats sagt Dohnanyi dann noch: »Was mit mir passiert, ist nicht mehr relevant. Ich bin 93 Jahre alt. Aber ich denke an all die vielen jungen Leute, die ihr Leben vor sich haben und nun betroffen werden von einem völlig unnötigen und verhinderbaren Krieg.« […..]
Ich bleibe dabei: Putin zu verstehen ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns alle hätten viel intensiver widmen müssen.
So viel Whataboutism muss sein: Diejenigen, die jetzt wie Lobo auf die Putin-Versteher eindreschen, haben den Kreml auch nicht besser verstanden und in den Jahren zuvor dementsprechend verlangt, von der Leyens oder AKKs Verteidigungsetat um 100 Milliarden Euro zu erhöhen oder massiv Waffen in die Ukraine zu liefern.
2022 können wir sicher sagen, daß die 16 Jahre Merkelsche Russland-Politik, aber auch europäische und US-amerikanische Russland-Politik fatal enden. Die Politik war falsch, weil sie Russland eben weder einhegte, noch einschüchterte und wir nun einen heißen Krieg mitten in Europa führen. Obamas Großspurigkeit war eine Katastrophe.
[….] Die Kanzlerin machte sich nie Illusionen über Putin. Immer wieder berichtete sie, wie sehr ihn der Zerfall der Sowjetunion getroffen habe, dass er sein Land zu alter Größe führen wolle und dass es nicht hilfreich gewesen sei, als Präsident Obama von Russland als einer „Regionalmacht“ sprach. [….]
Die von demokratischen Instagramern gebastelten Obama-star-down-Putin-Memes, die #44s maskulines Auftreten von 2014 feiern, zeugen von grenzenloser politischer Naivität. In diesem Punkt bin ich ganz Frau Merkels Meinung. Sich über den Führer einer Supermacht zu mokieren, ihn öffentlich lächerlich zu machen, ist kontraproduktiv.
Wir alle hätten uns Mühe geben müssen, Putin besser zu verstehen. Verständnis ist eine gute Sache, ein notwendige Sache und bedeutet schließlich nicht, Putins Ansichten und Motive zu teilen.
Wir können aber nicht sicher sagen, was richtig gewesen wäre. Viel mehr Rücksichtnahme auf den Kreml oder viel mehr Härte. Beides hätte vielleicht schon früher zur Katastrophe geführt. Beides hätte vielleicht die Katastrophe verhindert.
[….] Angela Merkel fand sich nun [2014 während der Krimbesetzung –T.] in einer für die deutsche Debatte über die Russlandpolitik typischen Situation wieder: Die eine Lehre besagte, die Kanzlerin hätte sehen müssen, dass ein Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine für Moskau eine Provokation bedeute. Sollte heißen: Es wurde zu wenig Rücksicht auf Putin genommen. Die andere Schule besagte, weil Merkel 2008 eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die Nato verhinderte, habe Putin die Krim besetzen können. Sollte heißen: Es wurde zu viel Rücksicht auf Moskau genommen. Merkels Verantwortung war ein kleinster gemeinsame Nenner für viele Kritiker, selbst wenn sie sonst komplett entgegengesetzter Meinung waren. [….]
Niemand kann das „Was-wäre-wenn“-Spiel seriös beantworten.
Ich neige aber dazu, daß zunächst die „zu wenig Rücksicht“-These stimmte. Den 2000/2001-Putin hätte man womöglich in Nato und EU einbinden können, ihn auf einen demokratischen Pfad führen können, wenn man ihn weniger ignoriert und gedemütigt hätte. Aber schon der 2014ner Putin war ein ganz anderer, der nicht mehr einzuhegen war und die EU vermutlich verachtete. Vielleicht kippte die Situation dann in das andere Extrem, die „zu viel Rücksicht“-Phase, aus der Putin den Schluß zog, der Westen wäre schwach, habe Idioten in der Führungsspitze und er können ihnen beliebig auf der Nase rumtanzen.
Aber das ist selbstverständlich Spekulation.
Es kann nicht darum gehen, wer wann Recht hatte, sondern die Frage muss heißen: Was tun wir jetzt? Wie kann der Krieg möglichst schnell beendet werden?
Die Sache wird tatsächlich durch die russischen militärischen Fehler und den enormen Ukrainischen Widerstand, mit dem niemand rechnete (ich auch nicht!) erschwert. Ich glaube, ein Wladimir Putin auf der militärischen Verliererstraße ist noch viel gefährlicher, wird sich gegen einen Gesichtsverlust vor der Weltöffentlichkeit wehren, indem er zu immer brutaleren Waffen greift. Das kann eigentlich niemand den Menschen in der Ukraine wünschen.
Aber es geht auch nicht darum Sympathien zu verteilen, sondern eine Lösung zu finden. Die kann es aber nur geben, wenn es einen Verhandlungsgegenstand gibt und wenn Putin als so rational betrachtet wird, daß man mit ihm verhandeln kann.
Je mehr Russland an den Rand gedrückt wird, je näher Putin an einer militärischen Niederlage steht, umso mehr verbietet es sich, ihn zusätzlich zu demütigen.
Ich halte die These von dem völlig einsamen Putin, der jeden in Russland gegen sich hat und nur ermordet werden müsse, für absurd. Man kann nicht das größte Land der Erde mit 145 Millionen Einwohnern im Alleingang gegen alle Mitarbeiter, Politiker und Minister regieren.
Deswegen halte ich es für naives Wunschdenken, darauf zu hoffen, Putin werde in den nächsten Tagen urplötzlich verschwunden sein – weggeputscht oder vergiftet. Der Mann wird uns mutmaßlich noch ein bißchen erhalten bleiben und wird sollten ihn unbedingt ernst nehmen und weiter versuchen zu verstehen.
Putin als „geisteskrank“ oder „unzurechnungsfähig“ abzukanzeln fühlt sich für den Moment gut an – wie Whataboutsim. Es wäre aber die schlechteste Alternative.
[….] Putin für wahnsinnig zu erklären, hilft dem Westen nicht weiter. Ist der Präsident Russlands verrückt? [….] Er handle "komplett irrational", ist sich deswegen auch der bisher eher durch Beschwichtigung aufgefallene SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sicher. Und von einem Verrückten ist ja bekanntlich alles zu erwarten. [….] Die Pathologisierung des russischen Präsidenten ist ein verbreitetes Manöver im aktuellen Streit um die angemessene Reaktion auf den Ukraine-Krieg. [….] Deutschland und Europa müssen die Sprache der Macht lernen, heißt es nun immer öfter. Aber wie spricht man diese Sprache eigentlich? Anzufangen wäre vielleicht bei einer angemessenen Einschätzung des potenziellen Feindes - aber gerade dieser Weg ist durch die Pathologisierung Putins verbaut. Denn wenn es stimmt, dass es sich beim Oberbefehlshaber über eine der größten Nuklearstreitkräfte der Welt um einen Verrückten handelt, der zudem intern keinerlei Beeinflussung unterliegt, bleiben nur noch zwei Handlungsmöglichkeiten: Man lässt ihn gewähren, selbst wenn er dereinst Polen angreifen würde, oder man schlägt schon jetzt zu, weil ein direkter Krieg zwischen der Nato und Russland sowieso unausweichlich ist. Alles oder nichts, Atomkrieg oder totale Kapitulation - die Unterstellung von Verrücktheit birgt die Gefahr, zu einem Erstschlag zu ermutigen, das heißt: dem Wahnsinn mit Wahnsinn zuvorzukommen. Indem die Pathologisierung dem Feind Rationalität schlechthin abspricht, verbannt sie jede realistische Suche nach weniger katastrophalen Handlungsmöglichkeiten in das Reich der Absurdität. [….]
Wenn Putin irre ist, bleibt uns nur die Wahl zwischen totaler Kapitulation und Atomkrieg.
Hoffen wir, daß sein Verstand noch funktioniert.