Das heutige, schwäbische, teure Hauptstadt-Berlin kenne ich gar nicht. Aber in der Dekade ab ca 1985 war ich alle zwei, drei Wochen da und liebte die Stadt.
Ich übernachtete bei irgendwelchen Freunden, bzw Bekannten, die teilweise in absurd riesigen Wohnungen lebten, die einen Bruchteil der Hamburger Mieten kosteten. In den Stadtteilen, in denen ich mich rumtrieb, war es ungeheuer schmuddelig. Für Hamburger Verhältnisse geradezu verkommen. Häuserfassaden mit Einschusslöchern aus dem Endkampf des Zweiten Weltkrieges.
Ich wurde schon mit dem Mauerfall etwas nostalgisch, weil ich sofort begann, meine geliebte isolierte Insel West-Berlin zu vermissen. Diesen wundersamen isolierten Ort, zu dem man nur gelangte, indem man mit dem Auto 250km durch eine dystopische, graue, nach Zweitakter-Abgasen riechende Mondlandschaft fuhr und von furchteinflößenden Grenzern wegen seines US-amerikanischen Passes durchsucht wurde. In der eigenartigen Zwischenwelt Westberlins, die man immer noch bei Sven Regener nachlesen kann oder in Mark Reeders B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989, erleben darf, wirbelten Mark Reeder, Gudrun Gut, David Bowie, Iggy Pop, Annette Humpe, Blixa Bargeld, Nena, Nick Cave, Westbam, Joy Division, Zazie de Paris, Die Toten Hosen, Der wahre Heino, Einstürzende Neubauten, Die Ärzte, Die Unbekannten und Malaria! durch das Nachtleben.
Ich kannte fast niemanden, der einem „normalen“ Job nachging. Die Hälfte der Berliner war queer und mindestens 80% waren Künstler.
Ich vertrat damals offensiv die These, es gäbe keinen gebürtigen Berlin, die Stadt bestünde zu 100% aus Zugezogenen. Es war zu auffällig; je mehr einer Berlinerte, „icke“ sagte und inflationär den Plusquamperfekt einsetzte, desto sicherer stammte er aus der bayerischen und pfälzischen Provinz.
Kaum eine der urberlinerischen Ikonen hatte in Berlin das Licht der Welt erblickt. Gudrun Gut stammt aus Celle, Annette Humpe aus Hagen, Amanda Lear (mutmaßlich) aus Saigon, Rosa von Praunheim aus Riga, Sven Regener aus Bremen.
Das ist das Großartige an der Heterogenität Deutschlands und deswegen sollen sich die Lebensverhältnisse bitte niemals angleichen.
In einem kleinen katholischen bayerischen Bauerndorf geht es engstirnig, provinziell, geregelt und voller Vorurteile vor sich. Aber nicht jeder, der dort geboren wurde, ist auch so. Auch in einem konservativen Kaff werden Künstler, Schwule, Exzentriker, Atheisten und sonstige Nonkonformisten geboren. Die verlassen aber ihre kleine, enge Scholle, sobald sie können und ziehend beispielsweise ins Westberlin der 1980er Jahre. Dort treffen sie auf die internationale Musikszene und Wehrdienstmuffel aus Westdeutschland.
Deswegen stammten auch alle Berliner, die ich damals kennenlernte, aus anderen Städten und auffällig vielen Provinznestern – auch wenn sie das nicht gern zugaben.
Es ist ja schön, in Cloppenburg-Vechta zur Welt zu kommen, wenn man zum Rechtsaußen-Flügel der CDU gehört und leidenschaftlich gern Schweine züchtet. Dann hatte man Glück und kam genau dort zur Welt, wo man auch bleiben will. Andere gebürtige Cloppenburger verziehen sich aber spätestens nach dem Schulabschluss in die nächste Großstadt. Das Schöne daran: Die deutsche Binnenmigration funktioniert in beide Richtungen. Menschen, die in einer Millionenstadt geboren wurden, finden es möglicherweise irgendwann zu hektisch, zu teuer, zu anonym, zu laut, zu schmutzig. Auch sie können wegziehen und sich im Grünen, wo sich Hase und Igel Gute Nacht sagen, eine Bleibe suchen.
Das Stadtleben und das Dorfleben haben jeweils viele Vor- und Nachteile. Wer das beste von beiden Welten für sich in Anspruch nimmt, pendelt.
Meistens sind Pendler aber Stadt-Parasiten. Sie nutzen die Jobs und die gute Bezahlung in der Stadt, wollen aber dafür nicht die hohen Gebühren und Mieten zahlen und entsolidarisieren sich von ihren urbanen Kollegen in den Speckgürtel. Da Pendeln enormen Verkehr verursacht und massiv das Klima schädigt, sollten Pendler steuerlich schlechter gestellt werden. Kurioserweise werden sie stattdessen sogar drastisch steuerlich begünstigt. Just wurde erst die klimaschädigende Pendlerpauschale erhöht.
Die Binnenmigration kann die Vor- und Nachteile eines Ortes verschieben. Das „Arm, aber Sexy“-Berlin, in dem eine Wohnung fast nichts kostete, jeder sich ein riesiges Atelier leistete und das Leben generell extrem billig war, ist zu einem miserabel verwaltetem Moloch mutiert, in dem die explodierenden Mieten, sich von den viel langsamer steigenden Löhnen entkoppelt haben. Ein eher ungeeignetes Pflaster für finanzschwache junge Lebenskünstler aus aller Welt.
Hamburg funktioniert politisch viel besser, hat ein viel höheres Prokopfeinkommen, als Berlin. Aber seit den 1980ern, als Hamburgs Bevölkerung auf 1,5 bis 1,6 Millionen Menschen gesunken war, haben wird eine halbe Million mehr Menschen gewonnen und kratzen an der 2-Millionenmarke. Wenn man auf derselben Fläche die Einwohner um ein Drittel vermehrt, muss man die Stadt massiv verändern. Daher fühlt es sich so an, als ob man auf einer Baustelle lebt. Es ist immer Stau und wenn man in eine eigentlich vertraute Gegend möchte, die man aber nicht jeden Tag sieht, erkennt man nichts wieder, weil überall neue Gebäude stehen und sich die Straßen veränderten.
Aber noch scheint die Attraktivität Hamburgs nicht gekippt zu sein; es wächst weiterhin, hat weiter Zuzugsdruck und ein stark überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum.
Ebenfalls stabil ist der Trend in Ossistan. In den dunkeldeutschen Problembundesländern wurde enorm viel investiert, die Infrastruktur ist sehr gut, die niedrigen Lebensunterhaltskosten sind ein Standortvorteil; die ausgedünnte Bevölkerung führt zu Leerstand bei den Vermietern. Das Mieter-Schlaraffenland. Wer sich um eine Wohnung bewirbt, wird mit Kusshand genommen und bekommt sie das erste Vierteljahr als Bonus mietfrei. Finanziell betrachtet, spricht also sehr viel dafür, nach Thüringen oder Sachsen-Anhalt zu ziehen.
Leider überkompensieren die Nachteile die finanziellen Argumente. Es wimmelt dort nämlich von unangenehmen Klischee-Jammerossis, die AfD wählen, keinerlei Sinn für bürgerliches Engagement entwickelt haben, sich mit Vorliebe rechtsextremen Schwurbelideen verschreiben und ihre chronische Untervögelung kurieren, indem sie irgendjemanden verprügeln.
„Der geborene Ossi“ ist aber nicht generell schlecht. So wie im erzkatholischen Bayern-Kaff auch nette Menschen geboren werden (die dann nach dem Abi nach Berlin ziehen), kommen auch in Sachsen oder Meckpomm engagierte liberale vorbildliche Menschen zur Welt. Einige wenige, wie der 1987 in Greifswald geborene Benjamin Fredrich, bleiben dort und gründen 2015 das großartige Katapult-Magazin, dessen Abonnent der ersten Stunde ich bin.
Die Mehrheit der vernünftigen Ossis sucht aber schon das Weite, bevor sie Twens werden. Insbesondere junge Frauen, die sich das Ehemann-Potential in Ossi-Käffern angucken und dabei auf „die Ritters aus Köthen“-Typen stoßen, bleiben natürlich nicht dort. Daher gibt es in Ossistan nicht nur einen generellen Bevölkerungsunterschuss, sondern in erster Linie zu wenig junge Leute und in zweiter Linie zu wenig Frauen, so daß die hormonell eskalierenden Teen- und Twen-Jungs des Ostens, immer frustrierter werden, sich Maximilian-Krahs Tiktok-Datingtipps ansehen, zu sexuell frustrierten Incels mutieren, damit noch abschreckender auf Frauen wirken, die umso dringender rüber in den Westen machen. Ein Teufelskreis.
Während im Westen Kita-Plätze hart umkämpfte Mangelware sind, werden sie in Ossistan gleich mangels Nachfrage geschlossen.
[…] Im Osten Deutschlands schließen die ersten Kindergärten, Erzieherinnen müssen um ihre Jobs bangen. Der Geburtenrückgang kommt mit größerer Wucht als erwartet. Er könnte bald auch für Familien im Westen Folgen haben.
Kita-Krise, Kita-Kollaps – für Eltern, vor allem im Westen Deutschlands, waren diese Schlagworte in den vergangenen Jahren gelebte Realität. Da sah man sich in Großstädten genötigt, schon mit Babybauch zum Tag der offenen Tür der Kita zu gehen und ein handgeschriebenes Bewerbungsschreiben einzureichen, nur um dann monatelang zu bangen, ob man auch wirklich einen der raren Plätze ergattert.
Nun droht sich der Trend umzukehren: Bald könnte es in Deutschland zu wenige Kinder für zu viele Kitas geben – mit ebenfalls dramatischen Folgen für Familien, aber auch für Länder und Kommunen. In ersten ostdeutschen Bundesländern und in Berlin ist von einem „Kita-Sterben“ die Rede. Dort müssen inzwischen Gruppen oder auch ganze Kindergärten schließen, weil ihnen die Kinder fehlen. […] So erging es diesen Sommer zum Beispiel den Eltern in Magdeburg-Buckau, die ihre Kinder bisher in der Kita St. Norbert betreut wussten. Im Frühsommer kamen Gerüchte auf, dass die Kita im Innenhof der St.-Norbert-Kirche unweit der Elbe schließe. Schon seit einiger Zeit ist sie nicht mehr ausgelastet. Rund 70 Kinder hätten in St. Norbert betreut werden können, besucht wurde die Kita zuletzt von 35 Kindern. Aus Sicht des Trägers, des Bistums Magdeburg, war eine Zusammenlegung mit der ebenfalls nur zu 60 Prozent ausgelasteten Kita St. Sebastian im benachbarten Stadtteil die beste Lösung. Allerdings mit der Folge, dass die Eltern nun mitunter einen drei Kilometer längeren Weg bis zur Kita haben und acht Mitarbeiterinnen gekündigt wurde. […] Auch die Kita „Käferwiese“ mit Platz für 229 Kinder war zuletzt nur mit 67 Kindern ausgelastet. Auch sie wird vom Träger, der privatwirtschaftlichen Independent-Living-Stiftung, zum Jahresende geschlossen. Die Schließung von Kita-Gruppen und ganzen Kindergärten betrifft weite Teile Sachsen-Anhalts. Die Geburtenrate in dem Bundesland sank im vergangenen Jahr das achte Mal in Folge, laut Statistischem Landesamt wurden 2024 nur 12 526 Kinder in Sachsen-Anhalt geboren, Tiefstand seit der Wiedervereinigung. […]
677 000 Kinder wurden 2024 in Deutschland geboren, rund 100 000 weniger als noch fünf Jahre zuvor. Weil es in Ostdeutschland bisher quasi eine Vollversorgung mit Kita-Plätzen gab, wird der Geburtenrückgang dort nun unmittelbar spürbar. Im Westen hingegen mildert der Rückgang der Geburtenzahlen zunächst vielerorts den Mangel an Betreuungsplätzen ab. […]
[….] Die Bevölkerung der ostdeutschen Bundesländer1 ist seit der Wiedervereinigung stark zurückgegangen. Seit 1990 verringerte sich die Zahl der Einwohner*innen um insgesamt 2,2 Mio. Personen (vgl. Tabelle 1). Das entspricht einem Rückgang um 15 %. Besonders gravierend war die Entwicklung in Thüringen (– 18 %) und Sachsen-Anhalt (– 24 %). Brandenburg konnte dagegen seinen Bevölkerungsstand weitgehend konstant halten (– 2 %).
Vor allem in den Jahren vor 2011 verringerte sich die Bevölkerungszahl in den ostdeutschen Bundesländern. Der Rückgang der weiblichen Bevölkerung lag dabei deutlich über jenem der männlichen.
Vor allem in den Jahren zwischen 1990 und 2010 ging die Bevölkerung der ostdeutschen Flächenländer zurück. In diesem Zeitraum verzeichnete Ostdeutschland 85 % (– 1,9 Mio. Personen) des gesamten Bevölkerungsrückgangs nach der Wiedervereinigung. Auch in den anderen Bundesländern betrug der Rückgang zwischen 80 % und 90 % des gesamten Bevölkerungsverlustes (vgl. Tabelle 1). Eine Ausnahme bildete Brandenburg, dessen Bevölkerungszahl im Jahr 2010/2011 seinen Tiefpunkt erreichte. In den vergangenen Jahren konnte es jedoch einen Teil des ursprünglichen Rückgangs kompensieren. In den anderen Bundesländern waren die Bevölkerungszahlen seit 2011 nahezu konstant und sanken nur noch leicht.
Deutliche Unterschiede gibt es im Geschlechtervergleich. Der Rückgang der weiblichen Bevölkerung war größer als jener der männlichen Bevölkerung. Insgesamt waren 61 % des gesamten Bevölkerungsrückgangs auf Frauen zurückzuführen. Einem Rückgang von 1,4 Millionen Frauen stand ein Rückgang von 0,9 Millionen Männern gegenüber. Während die männliche Bevölkerung in Ostdeutschland zwischen 1990 und 2019 um 12 % zurückging, betrug der Rückgang bei den Frauen 18 %. [….]
Es wäre angebracht, aufgrund der schrumpfenden Ossi-Bestände, die Vertreter der Ost-Bundeländer im Bundesrat zu kürzen. Weniger Macht für die AfD, wenn Höcke und Co demnächst in die Staatskanzleien einziehen.