Samstag, 2. September 2023

Soziale Fragen

In linkeren Kreisen macht man sich natürlich darüber lustig, wenn Reiche über ihre Belastungen jammern, weil sie trotz aller Abgaben und Steuern, finanziell noch wesentlich üppiger ausgestattet sind als Normalverdiener.

Anders als die konservative Legende von den Leistungsträgern, werden die meisten Steinreichen nicht durch harte Arbeit steinreich, sondern durch Erben und Chillen, während ihre Immobilien und Aktienpakete, im Vergleich zur Einkommensteuer der sprichwörtlichen krankenschwester, sehr niedrig besteuerte Dividenden abwerfen. Das ist natürlich unfair. Das sollte natürlich geändert werden. Das geht aber natürlich nicht, weil der Urnenpöbel stets so wählt, daß die Reichen- und Privatversicherten-Protektoren CDUCSUFDP an der Regierung beteiligt sein müssen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, daß Luxus und hoher Lebensstandard Stress bedeuten. Stress ist natürlich subjektiv. Der Supercar-Fan, der zwei Ferraris, aber nur eine Tiefgarage besitzt, wird gestresst sein von der Sorge um das Auto, das draußen der Witterung ausgesetzt ist, von Vögeln angekackt und womöglich von der Letzten Generation orange getüncht wird.

Hätte die ambulante Krankenpflegerin in Berlin-Wedding eine Tiefgarage, um nicht mehr jeden Abend mit ihrem Fiat Panda stundenlang auf Parkplatzsuche sein zu müssen, wäre das gar kein Stress.

Wer sich um seinen Besitz sorgt, hat Stress. Darüber kann man sich lustig machen, denn niemand braucht so einen Besitz, wie einen Ferrari oder eine Rolex oder eine Yacht.

Wenn man aber „Besitz“ allgemeiner versteht, nämlich sehr teure Dinge, die mit Fürsorge um andere Menschen (oder Tiere) verbunden sind, kommen wir in Graubereiche. Ein reicher Mensch mit hohen monatlichen Einkünften, gibt womöglich auch Abertausende Euro aus, um seiner dementen Mutter fürsorgliche Pflege zu bezahlen, das sensible Kind mit Therapie und Musikunterricht zu unterstützen, finanziert einen Gnadenhof, auf dem alte Pferde ihr Leben genießen können, ermöglicht zehn nepalesischen Waisen den Internatsbesuch, läßt schwule iranische Migranten kostenlos in seinen Wohnungen leben.

Es gibt viele teure – „luxuriöse“ – Ausgaben, um die man sich sorgen kann, für die man weiter genügend Geld haben will, ohne daß man ein raffgieriges Arschloch sein muss.

Zudem ist das, was wir als Luxus empfinden, einer Evolution unterworfen.

Meine frühere Nachbarin, Jahrgang 1914, freute sich bis ins hohe Alter jedes Mal, wenn sie ihre Waschmaschine anstellte, blieb glücklich einige Minuten davor sitzen, um zu bewundern, wie sie ihre Arbeit tut. Das klingt für 50 oder 70 Jahre später Geborene sehr eigenartig. Aber wer sich mal genau damit beschäftigt, wie ungeheuer zeitaufwändig und körperlich anstrengend es früher einmal war, Bettwäsche und Handtücher und Arbeitskleidung in großen Zubern auf Kohleöfen und ohne fließendes Wasser zu waschen, wird es verstehen, was für ein Wunder so eine Maschine ist, die einem alles abnimmt.

Vor 35 Jahren fand ich einen Anrufbeantworter sehr luxuriös, vor 25 Jahren, als ich mich analog in Internet einwählte und Verbindungsgeschwindigkeiten von 300 kB erreichte, war eine Flatrate luxuriös.

Jeder x-beliebige Deutsche des Jahres 2023 mit Smartphone-Flatrate ist aus Sicht des Menschen der Gerd-Schröder-Kanzlerschaft so, wie der Superreiche mit den zwei Ferraris.

Rechtspopulistische Hetzer behaupten noch heute, es sei ein Zeichen ungerechtfertigten Luxus‘, wenn Migranten überhaupt ein Klugtelefon besäßen.

Es ist also politisch alles andere, als trivial, einzuschätzen, wie viel Geld vom Einkommen ein Bürger behalten darf; wie viel er in welcher Situation dazu bekommen soll, damit es gerecht vor sich geht. Was man als viel, zu viel oder als wenig empfindet, ist immer relativ.

[….]  Verglichen mit dem Elend in Burundi, in Malawi oder in Sierra Leone sind die deutschen Armen komfortabel ausgestattet. Aber daraus ergibt sich das besonders Bittere für die Bedürftigen in Deutschland: Sie haben die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren. Das hat sich bei der Debatte um die Kindergrundsicherung gezeigt. Das Ergebnis dieser Debatte ist ärmlich: Der Betrag, der für diese Sicherung nach langem Hin und Her in der Ampelkoalition ausgegeben werden soll, verhöhnt den Namen "Grundsicherung" - es sind 2,4 Milliarden. Damit wird gesichert, dass alles so bleibt, wie es ist: Die armen Kinder bleiben am Rand der Gesellschaft. Jedes vierte bis fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut und oder in Armutsnähe. Diese Kinder sind und bleiben ausgeschlossen aus einer Welt, die sich nur den einigermaßen Situierten entfaltet. Ihre Armut ist ihr Gefängnis. Die Geldbeträge, die nun für Kindergrundsicherung ausgegeben werden sollen, reichen für die Gefängnisverwaltung. Sie reichen nicht für gesunde Ernährung; sie reichen nicht für Bildung, die diesen Namen verdient, nicht für schulische Bildung, nicht für kulturelle Bildung, nicht für politische Bildung. Sie reichen nicht dafür, soziale Ungleichheiten auch nur ansatzweise auszugleichen. Aber: Die Ampelkoalition ist damit zufrieden. Die FDP propagiert gar, eine weitere "Umverteilung" dürfe es nicht geben. [….] FDP-Finanzminister Christian Lindner triumphiert, weil er sein "Wachstumschancengesetz" mit vielfältigen Steuererleichterungen für die Wirtschaft durchgesetzt und dafür die Kindergrundsicherung radikal gestutzt hat. Er verkennt, dass die Kindergrundsicherung zu den Wirtschaftswachstumschancen gehört. Gute Arbeitsplätze und eine kreative Wirtschaft setzen gute Schulabschlüsse und qualifizierte Bildung voraus. Ein gutes Kindergrundsicherungsgesetz ist daher zugleich ein Wachstumschancengesetz und ein Demokratiestärkungsgesetz. […..]

(Heribert Prantl, SZ, 02.09.2023)

Kinderkriegen ist meines Erachtens grundsätzlich egoistisch. Es ist natürlich Unsinn, sich vor dem Aussterben einer Nation zu fürchten. Schließlich ist die Welt hoffnungslos überbevölkert. 10.000 bis 20.000 Kinder verhungern jeden Tag auf der Welt.

Wer Kinder liebt und sich bereit fühlt 20 oder 30 Jahre lang Verantwortung zu tragen, sollte doch bitte ein Kind nehmen, das schon da ist. Modell Philip Rösler.

Das Kinderkriegen wird aber generell in der Menschheit völlig falsch gesteuert. Angeblich ist Homo Sapiens die einzige Tierart, die antizyklisch Nachkommen produziert: Je schlechter die Bedingungen, mehr Hunger, weniger Chancen, desto mehr Blagen setzen sie in die Welt. Je reicher und gebildeter, desto weniger Kinder.

Das gilt global betrachtet – höchste Geburtenraten in der Sahelzone und Gaza, niedrigste Geburtenraten im steinreichen Japan und Deutschland – als auch national: Je höher die Bildung und das Einkommen einer Frau, desto eher ist sie kinderlos.

Rein ökonomisch betrachtet, bekommen also die falschen Deutschen Kinder. Diejenigen, die Kindern die besten Chancen bieten könnten, bleiben kinderlos. Je prekärer und bildungsferner, desto mehr Blagen werden produziert.

Auch das ist politisch sehr heikel, weil das eine (Bildung) unter Umständen das andere (Kinderlosigkeit) bedingt. Wir kennen auch so einen Zusammenhang aus dem US-Biblebelt: Je dümmer und religiöser, desto weniger Wissen über Verhütung und Familienplanung, desto mehr Teenagerschwangerschaften und mehr Kinder, die in Armut und mit Gewalt aufwachsen.

Ein Hepatitisgelber würde sagen: Die Falschen kriegen Kinder.

Das ist in dieser Pauschalität natürlich unzutreffend. Eine „Geringverdienerin“ kann durchaus ihre Kinder liebevoll erziehen, gesund ernähren und mit Bildung vertraut machen. Ein Steinreicher kann seine Kinder grausam behandeln und für das ganze Leben schädigen.

Dennoch bleiben statistisch betrachtet, die Chancen für das Kind besser, das in Reichtum geboren wird, privat krankenversichert ist, einen großen Garten zum Spielen hat und jedes Talent gefördert entfalten kann. Das ist aber gleichzeitig ungerecht gegenüber den armen Kindern und somit wieder ein politisches Problem. Damit sind wir wieder bei der FDP.

[….]  Am vergangenen Montag gaben die Bundesfamilienministerin Lisa Paus, der Bundesfinanzminister Christian Lindner und der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil eine Pressekonferenz zur Einigung bei der Kindergrundsicherung. Mit feierlichen Floskeln wurde dabei vor allem darum gerungen, eine schwache Entscheidung der Koalition als epochalen Erfolg zu verkaufen. [….]  Besonders kritikwürdig: das Novum, dass ein Unterhaltsvorschuss für Kinder nur gezahlt werden soll, wenn Alleinerziehende monatlich mindestens 600 Euro im Monat verdienen. Das war bis jetzt schon ohnehin der Fall, wenn die Kinder zwischen 12 und 17 Jahre alt waren, jetzt wurde das Alter auf sechs Jahre abgesenkt. Beim Unterhaltsvorschuss handelt es sich um einen Leistungsvorschuss in Situationen, in denen ein Elternteil seiner Zahlungsverpflichtung nicht nachkommt – wobei es sich statistisch betrachtet dabei so gut wie immer um den Vater handelt. Diese Streichung hilft nur dem Schuldner – schließlich könnte man ja auch diesen mehr in die Verantwortung nehmen – und schadet dem Kind, auch wenn Lindner diese neue Regelung als Motivationsmaßnahme verklärt:

»Wir stärken hier die Erwerbsbeteiligung. Wir wollen einerseits ja die materielle Situation Alleinerziehender verbessern, aber andererseits nicht zusätzliche Anreize geben, sich nicht um Arbeit zu bemühen. Es ist eine beklagenswerte Tatsache, dass die Erwerbsbeteiligung von Alleinerziehenden im vergangenen Jahrzehnt trotz des Ausbaus der Kinderbetreuungsinfrastruktur zurückgegangen ist. Also weniger Erwerbsbeteiligung bei Alleinerziehenden während des vergangenen Jahrzehnts. Und da dürfen wir kein Signal senden, das das verfestigt, sondern im Gegenteil: Wir geben hier einen Anreiz, ab Schuleintritt der Kinder, dass es eine Arbeit braucht.«

Ja, wer kennt sie nicht, diese arbeitsscheuen Alleinerziehenden, die sich lieber einen entspannten Lenz machen, als ihr Kleinkind 24/7 zu versorgen und einem richtigen, echten Beruf so mit Anstrengung und Produktivität nachzugehen! Vor allem bei dieser gesellschaftlichen Minderheit, die aus Erschöpfung und Schlafmangel gern mal schnell in die soziale Hängematte fällt, sind FDP-pädagogische »Anreize« auch subtiler, es klingt nicht nach der Gängelung, die sie darstellen.

Lindners Auslassungen über Alleinerziehende bei dieser Pressekonferenz vermitteln, dass dieser lächerliche Mythos rund um Soloeltern offenbar immer noch in männlichen Köpfen verankert ist. Und die Neuregelung der Kindergrundsicherung erweckt den Eindruck, dass vor allem die Sorgearbeit alleinerziehender Mütter im Vergleich zu richtiger Erwerbsarbeit volkswirtschaftlich weiterhin eher so als ein entspanntes Frauenhobby eingestuft wird. Das Märchen von der bequemen Leistungsbezieherin ist an sich schon Nonsens, aber zudem sind auch die von Lindner zitierten Zahlen, mit denen er die Entscheidung der Regierung begründet, falsch. [….]  

(Samira El Ouassil, 01.09.2023)