Donnerstag, 8. August 2019

Helikopter-Generation



Natürlich ist es eine unentschuldbare Schande, wenn in Deutschland Kinder so hungrig oder so ermüdet zum Schulunterricht erscheinen, daß sie gar nicht mitmachen können.
Lehrer berichten immer wieder von solchen Fällen, es scheint also zu stimmen.
Eine andere Frage ist, ob das deutsche Sozialsystem so löcherig ist, daß blanke finanzielle Not die Eltern dazu zwingt ihre Kinder hungern zu lassen.
Vermutlich ist eher Unvermögen der Eltern verantwortlich; was natürlich für die Kinder noch schlimmer ist und die Frage aufwirft wieso Jugendämter in diesem steinreichen Staat personell immer noch so schlecht ausgestattet sind, daß sie nicht eingreifen, bevor solche Zustände ausbrechen.

Natürlich denke ich an die Schulerzählung meiner Elterngeneration, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geboren tatsächlich hungern musste. Aber selbst als alle staatlichen Strukturen zerstört waren, gab es für jeden Schüler täglich einen Löffel Lebertran von der Lehrerin, um den Fett- und Vitamin-Haushalt aufrecht zu erhalten. Mal abgesehen davon, daß das Zeug so grauenvoll schmeckt, daß meine Mutter noch viele Dekaden später würgen musste beim Gedanken daran, ist es offenbar möglich mit fast gar keinen finanziellen Mitteln Kinder staatlich zu ernähren.

Wieso müssen CSU-Werbefiguren wie die unsägliche Uschi Glas im steinreichen Bayern tatsächlich mit privaten Mittel dafür sorgen, daß durch ihr Projekt „Brotzeit für Kinder“ 7.500 bayerische Grundschüler nicht mit knurrenden Magen in der Schule sitzen?

In Deutschland gibt es aber inzwischen nicht nur solche klar zu definierenden Missstände, sondern auch gleichzeitig das diametrale Gegenteil als Problem.
Kinder und Jugendliche, die noch als Studenten von ihren überfürsorglichen Eltern zur Uni gebracht werden, die bis sie 30 sind zu Hause wohnen und denen ihre Mütter auch später noch den ganzen Haushalt führen.

Meine Friseurin, die wie alle Handwerksmeister verzweifelt nach Mitarbeitern sucht, lockte Anfang des Jahres eine neue Kraft aus einem Kaff nahe Hildesheim nach Hamburg.
Die Hildesheimerin, 22, seit zwei Jahren Friseurgesellin, war selbstverständlich nicht in der Lage allein eine Wohnung in Hamburg zu finden. Ihre Chefin musste alle Beziehungen spielen lassen, damit die Hildesheimerin hier in das gemachte Nest plumpste. Wunderschöne sonnige Wohnung mit neuem Bad und Küche, großer Balkon und Tiefgarage, die frisch renoviert nur auf ihren Einzug wartete.
Natürlich konnte sie nicht allein aus Hildesheim herkommen, weil sie keinen Führerschein hatte und die Bahn nicht nehmen wollte, da sie sich in Hamburg nichts auskannte. Mami brachte sie mit dem Auto.
In den ersten drei Monaten arbeitete sie insgesamt dreieinhalb Wochen. Den Rest der Zeit nahm sie sich frei, weil sie unter Heimweh litt und dieses ganze „Arbeiten“ ihr generell zu anstrengend war. Dann auch noch gleich viereinhalb Tage die Woche (Friseure sind in Hamburg Sonntag und Montag geschlossen).
Zudem musste sie auch noch mit dem Bus einige Stationen zur Arbeit fahren, während sie in Hildesheim doch genau über dem Laden gewohnt hätte.
Unzumutbar das Ganze. Eigenartigerweise war ihre Chefin auch nicht wirklich zufrieden mit einer Mitarbeiterin, die ca eine Woche pro Monat arbeitet.
Ihr Vermieter (ein Jahr Kündigungsfrist) ließ sie früher aus dem Vertrag, war bereit einen Nachfolger zu suchen. Das gestaltete sich aber schwierig, da Madame bereits wieder zu Hause bei Muttern in Hildesheim chillte und nicht einsehen wollte, daß sie einem Mietnachfolger auch mal Zugang zu der Wohnung gewähren müsste, wenn sie schon kulanterweise neun Monate eher aus dem Vertrag gelassen wurde.
Inzwischen sitzt der Vermieter auf drei Monaten unbezahlten Strom- und Wasserrechnungen. Die 22-Jährige Hildesheimerin wußte gar nicht, daß man sich bei Versorgern anmelden muss. Um sowas hätten sich immer ihre Eltern gekümmert.

In diese Sicht der Dinge passen auch die durch die Presse wabernden Schweinefleischgeschichten, die von der AfD hochgejazzt auf die Titelseiten der Zeitungen schwappen.
Da wagen es ein oder zwei private Kitas Schweinefleisch von der Speisekarte zu nehmen und sofort droht der Untergang Deutschland. Neoptismus-Günther ist damit sogar Ministerpräsident in Kiel geworden. Im Wahlkampf hatte seine Partei rechtspopulistisch für Schweinefleischpflicht in Kantinen plädiert.
(Ein interessanter Move für eine Christenpartei, die damit an islamophobe Gefühle appelliert, aber gleichzeitig auch antisemitisch agiert.)

[….]  Deutsches Kind, das eine Woche kein Schweinefleisch gegessen hat, spricht plötzlich arabisch
Duisburg (dpo) - Sind das die ersten Folgen falsch verstandener Toleranz? Nachdem es durch ein tragisches Versehen eine Woche lang kein Schweinefleisch gegessen hatte, sprach ein vierjähriges deutsches Mädchen aus Duisburg heute plötzlich arabisch. Die Eltern des Kindes waren fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es in der Kita regelmäßig mit Schweinefleisch versorgt wird.
"Uns ist schon seit Tagen aufgefallen, dass ihr Deutsch immer schlechter wird, wussten aber nicht, woran es liegt", erzählt die Mutter der kleinen Mia (4), während sie sicherheitshalber eine Bifi isst. "Normalerweise bekommt sie bei uns ja auch regelmäßig Schweinefleisch, aber in den letzten sieben, acht Tagen war sie immer so satt vom Kita-Mittagessen und wir waren viel unterwegs."
Heute Morgen dann der Schock. Nach dem Aufstehen sagte das Kind plötzlich " ما الذي يحدث؟ لماذا أتحدث فجأة بشكل مختلف؟"
Für Ernährungswissenschaftler Horst Dreffler ist das kein Wunder: "Schweinefleisch ist tief im deutschen Genom verwurzelt. Führt man dem Organismus nicht regelmäßig ausreichende Mengen Schweinefleisch zu, verliert er sein Deutschsein." [….]  Auf ihre Tochter will sie künftig besonders achtgeben: "So ein Risiko gehe ich nicht noch einmal ein", erklärt sie. "Ab sofort gibt es zum Frühstück immer Schweinemedaillons statt Cornflakes." [….]

Abgesehen vom völligen Irrsinn der AfD sind diese abstrusen Überlegungen zur Fütterung von Kleinkindern auch willkommener Anlass, um an meine eigene Schulzeit zu denken.

Fundstück auf Facebook von heute
 Ein Blick auf die Homepage meines alten Gymnasiums offenbart Erstaunliches:

Cafeteria, Oberstufenmensa, Aufenthaltsräume, Computerräume, Kantine.
Es wirkt auf mich eher wie das Programm eines Kurbades.
Vor 40 Jahren in der Prä-Pillenknick-Ära, gab es so viele Klassen, daß nie Räume frei waren. Wir mussten bei jedem Wetter in den Pausen und Freistunden draußen stehen, wo man sich im Winter zitternd an seiner Zigarette festhielt. Als Oberstufenschüler hatte ich teilweise bis zu 15 Freistunden die Woche, weil wir Älteren unsere Kurse um die Jüngeren herumlegen mussten. Immer Nullte Stunde, dann zwischendurch einige Stunden verteilt und wieder 7., 8. und 9. Stunde.
Selbstverständlich gab es GAR NICHTS ZU ESSEN!
Gelegentlich haben einige Mütter organisiert, daß die Unterstufenschüler "Schulmilch" in der Pausenhalle holen konnte. Einen Becher Milch für die Jüngsten.
Alle anderen mussten, wenn sie denn Hunger hatten und nichts von zu Hause mitgebracht hatten, heimlich und verbotenerweise zu dem nächsten BOLLE-Supermarkt (ca 800 m weg) laufen. Die große Tüte Chips für 90 Pfennig. Gern legten wir für eine Flasche FABER-Sekt zusammen (3,99 DM); aber so viel Geld hatte man nicht immer und soff zur Not auch den fiesen Rosé-Verschnitt aus dem Brick für 1,99 DM.
Das war aber nicht ganz ungefährlich, weil die Lehrer kontrollierten, ob man das Schulgelände verließ. Durch das Schultor konnte man daher nicht, sondern musste abenteuerliche Schleichwege durch die Gebüsche nehmen und über Zäune klettern. Das konnte heftig Ärger geben.
Als Oberstufenschüler durfte man während der Freistunden weg. Wir fuhren mit dem Bus 15 Minuten zum nächsten Einkaufszentrum okkupierten das schäbige in dunkelbraunem Cord-Stoff gestaltete Kaufhof-Café. Leider herrschte Verzehrpflicht. Man musste aber etwas kaufen, sonst flog man raus. Das Billigste war Automatencafé für DM 1,10,-
Daran hielt man sich dann zwei, drei Stunden fest.
"Pausenbrot" war natürlich "uncool". Nur die größten Schuldeppen brachten sich was von zu Hause mit. Ein Mädchen hatte stets eine Tupperdose dabei, aus der sie geschälte Wurzeln und halbe frische Paprikas fischte. Der Gedanke an „gesundes Essen" ar aber noch nicht populär, also lachten wir sie als „Bauernmädel“ aus, hielten und an Chips und Billigfusel fest.
Gefrühstückt habe ich nie; das tue ich bis heute nicht.
Als generell unsportlicher Mensch muss ich aber auch dazu sagen, daß wir in Ermangelung von Computern, Smartphones und ähnlichen technischen Schnickschnacks, sowie Eltern, die nicht gewillt waren rund um die Uhr Chauffeur zu spielen, dahingehend verwildert waren, daß wir alle Wege zu Fuß oder per Fahrrad (ohne Helm!) absolvierten, generell sehr viel Zeit draußen verbrachten.
Daher war auch die Erfindung von Fitnessstudios noch nicht nötig. Es brauchte keine Spezialläden, um Muskeln für Bildschirm-affine Blagen zu generieren.
Ohnehin liefen ja alle ständig draußen rum.
Ich erinnere mich nicht an wirklich dicke Mitschüler.
Ich erinnere mich auch nicht an Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Allerdings waren die Begriffe „Gluten“ oder „Lactoseintoleranz“ ebenfalls noch nicht erfunden. Wir fraßen alles.

Es gibt keinen Grund Alkohol- und Tabakkonsum für Jugendliche zu idealisieren. Ich wünschte, ich wäre damals schlau genug gewesen auf die Idee zu kommen, daß meine Deutschlehrerin tatsächlich Recht haben könnte, wenn sie stets mit erhobenen Zeigefinger „Sargnägel, das sind alles Sargnägel“ skandierte, als sie uns rauchen sah.
Aufklärung über gesunde Ernährung ist natürlich richtig.
Aber hyperprotektives Verhalten der Eltern, die ihre Brut vor absolut jeder Gefahr bewahren wollen und jedes einzelne in Kitas servierte Nahrungsmittelmolekül persönlich kennenlernen wollen, generieren damit lebensunfähige Kinder.
Als Antinatalist habe ich leicht reden; ich muss mich ja nicht um eigene Blagen sorgen, aber ich freunde mich immer mehr mit den alten konservativen Sprüchen an, daß Kinder eben auch mal in den Dreck fallen müssen. Nicht immer ist der bequemste Weg der Beste.