Samstag, 26. Juni 2021

Im Impfzentrum

Sollte man rückblickend auf fast anderthalb Jahre deutsche Corona-Politik einen charakterisierenden Oberbegriff finden, muss man von „Chaos“ sprechen.

Es gab so viel Unvernunft, landespolitische Egoismen, mangelnde Voraussicht und immer wieder Fassungslosigkeit, weil Spahns Gesundheitsministerium von Entwicklungen völlig überrascht wurde, die sich seit Monaten ankündigten. Impfstrategie, Vakzinbeschaffung, Maskenverteilung, Corona-App, Teststrategie, Impfnachweis.

Peter Tschentscher und Karl Lauterbach waren neben einigen Virologen, wie  Christian Drosten, die einzigen Menschen, die immer den Überblick behielten und jederzeit klare Auskünfte geben konnten.

Deutschland wäre sehr wahrscheinlich mit deutlich weniger Toten durch die Pandemie bekommen, wenn 2018 im Kampf um die Besetzung des Gesundheitsministeriums der Zweikampf Spahn vs Lauterbach anders ausgegangen wäre.

Leider entschied Merkel klar gegen Kompetenz und für Parteibuch.

Sechs Monate nach den ersten Impfungen in Deutschland, schwand meine Hoffnung eine Impfdosis abzubekommen. Zunächst war ich viel zu jung und als sich in der Priorisierung die Altersgrenze in meine Richtung verschob, war ich plötzlich zu alt, weil Jens Spahn Millionen Vakzin-Dosen für Jugendliche zurückhielt und die die Impfpriorisierung aufhob.

Ich passte nicht in eine der vielen Ausnahmeregelungen, die mich berechtigt hätten, frühzeitig geimpft zu werden, war als Privatpatient ohnehin benachteiligt, weil sich die Impfzentren an den Patientenlisten der kassenärztlichen Vereinigung orientierten und habe als Medizinmuffel auch keinen Hausarzt, der mich großzügig vorziehen würde.

Routiniert wählte ich täglich die Impfhotline an, klicke mich durch die Online-Terminvergabe, um stets zu erfahren, es gäbe keine Slots mehr.

Wäre ich Verschwörungstheoretiker, würde ich an dieser Stelle vermutlich spekulieren, ob Spahn seine eigenen ewigen Irrtümer statthabend, in den Bund-Länder-Konferenzen auf einen stets Recht behaltenden Tschentscher treffend, nun aus Groll, die Hamburger extra knapp hält mit BionTech-Lieferungen.

Letzte Woche erreichte aber eine Großlieferung mit 52.000 Vakzin-Dosen die Hansestadt. Die Impfpriorisierung wurde aber wegen des bisherigen Serum-Mangels beibehalten. Das zentrale Impfzentrum akzeptiert Menschen, die älter als 60 sind (da passe ich noch nicht hinein).

Liest man aber die derzeitigen Kriterien für die Impfberechtigungen in Hamburg genau durch, findet man doch allerlei medizinische Regelungen, die auch unter 60-Jährigen den ersehnten Pieks ermöglichen.

Oh Wunder, auch für mich spuckte das Impfzentrum in den Messehallen einen Termin aus. Und, zweite Überraschung, alles war leicht verständlich, funktionierte einwandfrei. In wenigen Schritten bekam ich Gewissheit über die Art des Vakzins, den Hersteller, Termin und Berechtigungsnachweise.

Heute war es dann soweit.

Ein zentrales Impfzentrum für eine Zwei-Millionenstadt mit überraschenden zusätzlichen 52.000 Terminen!
Das konnte ja was werden! Wo zum Teufel würde man parken können? Muß ich die Zeit, die ich vermutlich anstehen würde einkalkulieren, um zu der bestellten Uhrzeit auch an der Nadel zu sein, oder reicht es pünktlich auf dem Gelände zu erscheinen?
Ich machte mich auf einiges gefasst, sah mich schon im Geiste in der schwülen Sonne nach Stunden in der Schlange kollabieren.

In meine große Tasche steckte ich nicht nur meine Aktenmappe, mit jedem auch noch so weithergeholten Papier über meine Versicherung, Krankengeschichte, Impfterminisierung. Dazu zwei Flaschen Wasser, Traubenzucker, eine Zeitschrift und ein noch nicht angefangenes Buch, ein extra T-Shirt, Desinfektionsmittel. Und ich kam früh an, so rechtzeitig, daß ich auch weit weg parken könnte und mir einen genauen Überblick über die Logistik verschaffen konnte.

Mit allem hätte ich gerechnet; nur nicht mit dem wie es wirklich lief.

Schon einige Straßen vor der „Lagerstraße“, in der das Impfzentrum liegt, tauchten unübersehbare riesige Hinweisschilder mit überdimensionalen Pfeilen auf.

Selbst ohne Brille und im tiefen Nebel wäre ich zielgenau zum Eingang gelotst worden. Es gibt ein paar hundert Meter entfernt einen riesigen kostenlosen Parkplatz und genau neben dem Haupteingang für die Faulen oder Lahmen einen weiteren Parkplatz, der fünf Euro kostet. Dort wird man von freundlichen Menschen empfangen, die einen persönlich zu seiner Parklücke eskortieren.

Vor der Nase hatte ich wieder diese Giganten-Wegweiser. Verirren völlig unmöglich.

Personal war im Überfluss vorhanden. Die Logistik erinnerte an Marathonstrecken; es gab Stationen, die einem frisches Wasser reichten, Sanitäter und eine Auswahl an Rollstühlen mit hilfsbereiten „Schiebern“ für den Fall, daß man sich den weiteren Fußweg nicht zutraute. Der perfekte Service; nur daß ich statt 42 km erst 30 m von meinem Auto hinter mir hatte.

Es gab überhaupt keine Schlangen und Staus, weil das Gelände derart großzügig ausgelegt ist, daß Dutzende Menschen gleichzeitig abgefertigt werden können.

Nicht eine Sekunde musste ich innehalten, um mich zu orientieren, stets lächelten mich freundliche bemaskete Menschen an, begrüßten mich und wiesen mir den Weg. Dazu gab es für diejenigen, die taub sind auch genügend Hinweisschilder wie zB „bitte Personalausweis bereit halten“ oder „gleich Impfberechtigung vorzeigen“.

Noch nie in meinem Leben habe ich bei einer offiziellen „Veranstaltung“ ausschließlich Freundlichkeit und Kompetenz erlebt. Und das in Deutschland.

Insgesamt hatte ich mit drei Ärzten zu tun. Zunächst ein sehr lustiger 55-Jähirger Kanadier, der meine Impfberechtigung überprüfte und mich aufgrund meines US-Passes gleich mit „Oh, Sie sind mein Nachbar“ begrüßte. Nr. Zwei war die Ärztin, die das Aufklärungsgespräch und die Anamnese durchführte, sowie die Impfbescheinigung ausstellte. Nummer Drei schließlich die Medizinerin, die mich piekste.

Überall war es peinlich sauber, gab es Sitzgelegenheiten und wurde Wasser angeboten. Ein Arzt übergab mich stets an den Nächsten, brachte mich persönlich genau dorthin, wo ich sein sollte.

Nach den 15 Minuten, die man nach dem Pieks noch warten muss, wurde ich von einer Mitarbeiterin in fließendem Englisch nach möglichen Auswirkungen gefragt. Sie hatte meinen Pass gesehen und man bemüht sich, die Impflinge in ihrer Sprache anzureden.

Beim Checkout-Schalter traf ich noch einen jungen Mann, den ich aus seinem früheren Job in einem Pflegeheim kenne, in dem ich auch regelmäßig bin. Er nahm sich gleich eine Viertelstunde frei, damit wir noch etwas quatschen konnten.

Ja, heute wäre wirklich nicht so viel los, da täglich 500 bis 1000 Termine verfallen. Impfberechtigte, die sich einen Termin beschaffen und dann nicht auftauchen, weil ihnen einfiel, daß sie am Wochenende lieber ausschlafen oder an die Ostsee fahren möchte. Urlaubssaison eben.

Sagenhaft, 95% der Weltbevölkerung würden mit Kusshand das Vakzin nehmen, haben aber keine Möglichkeit daran zu kommen, weil ihre Regierungen zu arm sind.

Wir werden hingegen kostenlos versorgt und sind dann auch noch zu bequem, um überhaupt zum Impftermin zu erscheinen.

Natürlich fragte ich ihn auch, wie es dazu kam, daß plötzlich 52.000 Impfdosen vorhanden sind.

Er zuckte nur die Achseln; die Hamburger wären vollständig von Spahn abhängig und hätten keinerlei Einfluss. Das sei jeden Tag eine Überraschung, wie viel Spahn springen ließe.

Da ich das in Presseberichten bisher so noch nie gelesen habe, möchte ich an dieser Stelle die Spitzenklasse-Organisation ausdrücklich loben.

Besonders hervorzuheben ist das Personal. Ich habe selten so viele freundliche, geduldige, höfliche Menschen getroffen.

Etwas rätselhaft ist für mich nur die Impfberechtigung für „Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben“.    Als +50er, der aber meist jünger geschätzt wird (so viel Eigenlob muss sein); hatte ich eigentlich abfällige Blicke von all den über 60-Jährigen befürchtet, die sich vielleicht fragten, wieso ich schon dran wäre.

Tatsächlich war ich aber deutlich der Älteste vor Ort. Die Hamburger Gerontenfraktion ist offensichtlich schon durch.