Dienstag, 14. Juni 2016

Außenpolitische Werte

Als Joschka Fischer deutscher Außenminister und Vizekanzler (1998-2005) war, sinnierte er über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.
Immerhin war das dem einzigen vollständig säkular organisierten muslimischen Land der Welt seit Jahrzehnten versprochen worden.
Fischer, einer der wenigen verbliebenen engagierten Pro-Europäer wog die Vor- und Nachteile ab und kam zu einer 51%:49%-Entscheidung für einen türkischen EU-Beitritt.

Ich glaube immer noch, daß der Schritt damals absolut richtig gewesen wäre.
Recep Tayyip Erdoğan, von 1994 bis 1998 Oberbürgermeister Istanbuls und ab März 2003 Ministerpräsident der Türkei hatte zunächst einmal ganz im Sinne Brüssels sein Land ökonomisch liberalisiert und dadurch ein enormes Wirtschaftswachstum generiert.
Im Rapidtempo wurden die Türken immer wohlhabender.
Seit Jahren gehen mehr deutsch-türkische Akademiker nach Istanbul, als Türken nach Deutschland kommen.
Die Entfaltungsmöglichkeiten in der boomenden, multikulturellen 14-Millionen-Stadt sind gewaltig. Das Türkische Wirtschaftswachstum lag in den Nuller Jahren stets zwischen sechs und zehn Prozent. Zahlen, von denen Deutschland nur träumen kann.
Zahlen, die man kennen muß, um zu verstehen wieso heute so viele Türken Erdoğan immer noch zujubeln.
Hypothetische Geschichte ist letztendlich sinnlos, aber ich vermute, daß sich eine vor zehn Jahren in die EU integrierte Türkei mit einem als ebenbürtig empfundenen Ministerpräsidenten nie in die Richtung 2016 entwickelt hätte, wie wir sie jetzt kennen.
Ohne Visumzwang herumreisende Türken, die mit allen anderen europäischen Staaten verflochtene starke türkische Wirtschaft hätte das Land europäischer gemacht.
Erdoğan hätte womöglich nie seinen offensichtlichen Minderwertigkeitskomplex entwickelt und überkompensieren müssen. Vielleicht wäre er längst abgewählt, weil eine konservative AKP in einer europäisierten Türkei keine Mehrheiten mehr bekommen hätte. Möglicherweise hätte sich Erdoğans Partei auch á la Merkel-CDU in die Mitte bewegt und wäre nie so radikal geworden.
Ein in die EU-Abläufe eingebundener türkischer Regierungschef hätte unter Umständen auch schon vor fünf Jahren vermocht seine Kollegen auf das gewaltige syrische Flüchtlingsdrama aufmerksam zu machen.
Es ist gar vorstellbar, daß Europa längst gemeinsame Lösungen erarbeitet hätte, weil man nicht fünf Jahre die Augen hätte davor zukneifen können, daß das EU-Land Türkei ganz allein 2,5 bis 3 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufnimmt.

Hätte, hätte, Fahrradkette.

Es kam alles anders und ich kenne Joschka Fischers derzeitige Analyse pro und contra EU-Beitritt der Türkei nicht. Aber ich vermute sehr stark, daß er nicht mehr 51%:49% für einen Beitritt plädiert, sondern daß er dafür eher eine 1%:99%-Chance sieht.

Ich bin kein Freund von ideologischer Außenpolitik.
Gerade die zwangsdemokratisierte Bundesrepublik Deutschland hat nicht das moralische Recht China, Russland oder der Türkei mit dem Zeigefinger zu kommen.
Demokratische Werte sollte Deutschland vorwiegend innerhalb seiner Wertegemeinschaften anmahnen.
Ich erwarte nicht, daß Merkel den Chinesen diktiert demokratisch zu werden, aber bezüglich Amerikas sieht das anders aus, weil die Vereinigten Staaten selbst auf demokratische Werte pochen und ein enger Alliierter sind.
Die Kanzlerin darf also nicht zu amerikanischen Folterlagern, Guantanamo, NSA-Bespitzelung, Todesstrafe und Snowden-Bedrohungen schweigen.
Sie darf auch nicht devot zusehen, wie in Polen und Ungarn die Demokratie, Pressefreiheit und Gewaltenteilung sukzessive abgeschafft werden.

Wäre die Türkei EU-Mitglied, hätten Merkel und die anderen EU-Regierungschefs sich Präsident Erdoğan längst zur Brust nehmen müssen.

Die Türkei ist aber ein Land, das insbesondere durch Merkels strikte Ablehnung von der EU ausgeschlossen ist, das sie offiziell als so minderwertig einstufte, daß es maximal zu einer „privilegierten Partnerschaft“ tauge; sicher ein Grund für Erdoğans Zorn und Radikalisierung.
 Verletzte Eitelkeit.

Die Türkei ist aber nicht irgendein Land, sondern ein NATO-Partner, ein bedeutender Handelspartner, ein Land zu dem millionenfache private Beziehungen bestehen und, für Merkel entscheidend: die Türkei ist ihr Schlüssel zum „Flüchtlingsproblem“.

Merkel soll nicht als Oberlehrerin agieren und muß wohl auch Ankara ein bißchen schmeicheln.

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon Bahr 2013 vor Schülern in der Ebert-Gedenkstätte Heidelberg)

Für einen Anbiederungskurs, wie ihn Merkel insbesondere gegenüber der USA fährt und damit schon zum Duckmäusertum-Gespött wurde, gibt es aber Grenzen.

Die Grenze war schon durch Erdoğans Verhalten gegenüber dem Daesh-Gebiet weit überschritten: Kurden bombardieren und IS-Kämpfer passieren lassen.
Die Grenze war erst recht überschritten mit Erdoğans gewalttätigem Vorgehen gegen unabhängige Journalisten, gegen friedliche Protestanten in Istanbul.
Die Grenze längst hinter sich gelassen hatte Erdoğan mit seiner Wut auf Extra3 und Jan Böhmermann.

Der ultimative Tiefpunkt war erreicht, als Merkel vor ihm zu Kreuze kroch und die Ermittlungen nach §103 in Auftrag gab, nachdem sie Böhmermann schon vorverurteilt hatte und seinen satirischen Text als „bewusst verletzend“ einordnete.

Inzwischen radikalisiert sich der türkische Präsident täglich weiter.
Er bedroht direkt elf deutsche Bundestagsabgeordnete, die nun unter Polizeischutz stehen und vom Auswärtigen Amt die Anweisung erhielten nicht mehr in die Türkei zu reisen.
Merkel ließ dazu nur müde von Seibert erklären sie habe kein „Verständnis“ dafür.

Frau Kanzlerin, so geht es nicht!
Längst wären ein paar Machtworte fällig gewesen wider des sich zum Despoten entwickelnden Erdoğans.
Wenn dieser Mensch deutsche Parlamentarier und ihre Familien bedroht, muß sich die Kanzlerin unmissverständlich mit ihrer ganzen Autorität vor diese stellen.

[…] Elf türkischstämmige Abgeordnete des deutschen Bundestages werden seit der Armenien-Resolution massiv angefeindet. Nun hat das Auswärtige Amt Präsident Erdogan scharf kritisiert.
Das Auswärtige Amt hat sich mit einem Schreiben an die elf türkischstämmigen Abgeordneten gewandt, die nach der Armenien-Resolution des Bundestags massiv angefeindet werden.
Die "Kritik, Schmähungen, ja Bedrohungen" gegen die Abgeordneten seien "inakzeptabel", so das Ministerium. Man habe dem Geschäftsträger der türkischen Botschaft in Berlin "das Unverständnis der Bundesregierung über die verbalen Angriffe des türkischen Staatspräsidenten ausgedrückt", heißt es in dem Schreiben. […]

Ich weiß nicht sicher was Erdoğan antreibt, ich vermute er ist tatsächlich ein Fall für den Psychiater.
Er leidet offensichtlich unter Morbus Westerwellitis in verschärfter Form, changiert also nur noch zwischen beleidigen und beleidigt sein.

Das größere Problem ist für mich aber die offensichtlich erpresste Kanzlerin, die nicht mehr ihrem Amtseid entsprechend handelt, sondern Erdoğan zu Füßen liegt.

Angela Merkel, die bis heute dafür sorgt, daß Schwule und Lesben nicht dieselben Rechte wie andere Deutsche bekommen, widerspricht auch in dieser Causa natürlich nicht türkischer Hetze.

Die türkische Zeitung "Yeni Akit" verhöhnt nach dem Massaker in Orlando mit 50 Toten die Opfer des Anschlags. In einer schwulenfeindlichen Überschrift bezeichnet die Redaktion die Menschen in dem Nachtclub als pervers.
[…] "Sapkın eşcinsellerin gittiği barda ölü sayısı 50'ye çıktı!" - schreibt das Blatt am Sonntag. "Die Zahl der Toten in der Bar, in die perverse Schwule gehen, steigt auf 50!"
Wie "Daily Mail" berichtet, soll die Zeitung enge Verbindungen zum türkischen Präsidenten Recep Erdogn haben (62) und in der Vergangenheit bereits öfter mit hasserfüllten Artikeln gegen Juden, Armenier und Christen aufgefallen sein.
(MoPo24, 14.06.16)


Dazu fand ich diesen schönen Facebook-Kommentar:

Verdammt nochmal, dann stimmen Sie endlich der "Ehe für alle" / Adoptionsrecht zu, und reden hier nicht so geschwollen vom toleranten Deutschland! Unerträglich. Unsere Kanzlerin bringt ja nicht einmal das Wort Homosexuell, geschweige denn LGBTIQ über ihre Lippen! Sie hält sich vage wie immer. Damit raubt sie nicht nur den Opfern deren mögliche Identität, sondern sie neutralisiert den Anschlag zu einem, wenngleich entsetzlichen, unpersonalisierten Terror. Politiker die nicht den Mut haben das Unaussprechliche auszusprechen sind nicht mehr zeitgemäß. Es wäre interessant hier das Kanadische Oberhaupt zu hören. Der US Präsident jedenfalls hat das Kind beim Namen genannt, und damit den Opfern allemal alle Ehre erwiesen. Das deutsche Duckmäusertum ist mir ein Graus.
(FB 13.06.2016)