Dienstag, 22. März 2022

Was wir uns leisten können

Marcel Reich-Ranicki hatte Recht: Günter Grass wurde als Graphiker und Bildhauer unterschätzt; Bertolt Brecht nicht genügend als Lyriker gewürdigt.

Das Dilemma der Multitalentierten. Der als Dramatiker weltberühmte Brecht schrieb in der Ballade über die Frage "Wovon lebt der Mensch" (Dreigroschenoper 1928)

Macheath:  Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben,
Und Sünd und Missetat vermeiden kann,
Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben,
Dann könnt ihr reden, damit fängt es an.
Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt,
Das eine wisset ein für allemal,
Wie ihr es immer dreht, und wie ihr's immer schiebt,
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muss es möglich sein auch armen Leuten,
Vom grossen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.
Jenny:  Denn wovon lebt der Mensch?
Macheath:  Denn wovon lebt der Mensch?
Indem er stündlich, den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
Nur dadurch lebt der Mensch,
Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.
Chor:   Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein,
Der Mensch lebt nur von Missetat allein!

Das ist eine wirklich grandiose „Ballade“ und „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ wurde folgerichtig zu einer auch noch 100 Jahre später geläufigen Metapher.

Moral muss man sich erst einmal leisten können. Es ist erstaunlich, wie irrelevant die größten moralischen Prinzipien werden, wenn man hungert.

In Deutschland reicht allerdings schon das erste leiseste Magenknurren, um alle moralischen Grundsätze über Bord zu werfen.  Die fromme Christin Angela Merkel sorgte stets für Waffenexporte in Kriegs- und Krisengebiete. Unser Handel mit menschenrechtsverachtenden Regimen floriert – ob es nun das autokratische China, Putins Russland oder die Scharia-Monarchien vom Golf, die Schwule köpfen, sind: Um satt und zufrieden zu leben, gucken wir bei jeder Schweinerei weg, vergessen unsere Moral. Olympische Spiele in Peking, Fußball-WM in Katar – alles egal, wenn die Kasse klingelt.

Und so sieht der staunende Ampel-Wähler dieser Tage den Grünen Philosophen Robert Habeck, den langjährigen Parteichef, der von wertegeleiteter Außenpolitik sprechenden Grünen, am Golf mit Demokratie-verachtenden, frauenfeindlichen Homo-Killer-Potentaten, Verträge über den Import von Milliarden Kubikmeter klimakillenden Erdgases schließen.

Moralisch ist das sicher nicht und den deutschen Vizekanzler wird es kaum begeistern vor einem Mann wie Katars absoluten Herrscher Scheich Tamīm bin Hamad ath-Thānī buckeln zu müssen, aber die Deutschen wollen schließlich nicht weniger heizen oder weniger auf der Autobahn rasen.

Wenn Deutschland sich keine Moral leistet, nicht leisten will, kann die Ukraine sich tatsächlich keine Moral leisten.  Da geht es nicht darum, das Schlafzimmer wie gewohnt auf muckelige 25°C aufzuheizen, oder ob es für einen Porschebesitzer zumutbar ist auf der A7 auch mal langsamer als 200 km/h zu fahren.  Da geht es um Leben und Tod. Natürlich nicht nur. Denn wenn Leben den höchsten moralischen Stellenwert hätte, wäre eine ukrainische Kapitulation auch eine Option. Allerdings eine Option, die offenbar niemand in Kyiv will. Schon für das Aussprechen dieser Option holt man sich schwerste Shitstorms; wird von Jan Böhmermann aus moralischen Gründen massiv attackiert.

[….]  Warum wehrt die Ukraine sich denn überhaupt? Warum wollen die freien Ukrainer denn nicht unter fremder, diktatorischer Herrschaft leben? Warum geben die nicht einfach auf?

Dass solche hoffnungslos zwergenhaften Gedanken E R N S T H A F T in Köpfen herumschwirren gerade, ey! […]

(Jan Böhmermann, 16.03.2022)

Nach meinem moralischen Verständnis, ist es amoralisch, aus dem gemütlichen, sicheren Deutschland derartige Ratschläge an die Ukrainer zu erteilen.  Dennoch frage ich mich, wieso dieser Gedanke in der Ukraine selbst offenbar gar nicht auftaucht, wenn doch die offensichtliche Alternative Berge aus Myriaden Toten und zerstörte Städte sind.

Aber selbstverständlich obliegt es allein den Ukrainern, zB Wolodymyr Selenskyj, den Klitschko-Brüdern oder Botschafter Andrij Melnyk ihre Strategie zu bestimmen. Die Entscheidung, keinesfalls zu kapitulieren oder zu fliehen, ist gefallen.

Herr Melnyk kann sich auch keine moralischen Rücksichten leisten. Er muss alles nur Erdenkliche tun, um seinen Präsidenten und sein Land zu unterstützen; ihnen Unterstützung aus Deutschland zu organisieren.

Unterstützung, die schon lange in Milliardenhöhe jedes Jahr aus Berlin kommt.

Unterstützung, die aber nicht ausreicht, wenn 100.000 russische Soldaten im Land stehen und die Ukrainischen Städte zu Klump schießen.

Herrn Melnyks Frustration kann ich gut verstehen; absolut nachvollziehen, daß ihm unter diesem gewaltigen Druck, zusehen zu müssen, wie seine Heimat im Krieg untergeht, kaum möglich ist, formvollendet alle diplomatischen Feinheiten einzuhalten.

Nun ist Andrij Melnyk aber nicht nur Ukrainischer Botschafter, sondern zufällig auch noch ein Arschloch, der schon vor Kriegsbeginn so flegelhaft und undankbar agierte, daß er wenige Freunde behielt.

[….]  Melnyk, der im Jahr 2014 Botschafter wurde und davor als Generalkonsul der Ukraine in Hamburg tätig war, ist politisch nicht unumstritten. So erregte er 2015 den Unmut der Bundestags, als er seinen Besuch am Grab des Partisanenführers und NS-Kollaborateurs Stepan Bandera in München auf Twitter publik machte. Bandera, den Melnyk als „unseren Helden“ bezeichnete, war Politiker der ukrainischen Nationalisten OUN, arbeitete im Zweiten Weltkrieg mit der Wehrmacht zusammen und gilt überwiegend als Kriegsverbrecher. Der Grab-Besuch war auch Thema im Bundestag, weshalb SPD-Außenstaatssekretär Michael Roth gemäß Sitzungsprotokoll die Aktion wie folgt einordnete: „Der Bundesregierung ist ein Tweet des ukrainischen Botschafters bekannt, in dem er über seinen Besuch am Grab Banderas berichtet. Dem ukrainischen Botschafter ist unsere Position hierzu hinlänglich bekannt. Die Bundesregierung verurteilt die von der Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN, teilweise unter Leitung Banderas begangenen Verbrechen an polnischen, jüdischen und ukrainischen Zivilisten und Amtsträgern. Dabei ist sie sich bewusst, dass ein erheblicher Anteil an diesen Verbrechen in Kollaboration mit deutschen Besatzungstruppen begangen wurde.“  Im Januar 2022 fiel Melnyk zudem mit einem Nazi-Vergleich auf, wobei Äußerungen des ehemaligen Inspekteurs der Marine, Kay-Achim Schönbach, den Anlass stellten. [….] Melnyk hielt daraufhin den angebotenen Rücktritt Schönbachs für nicht ausreichend, sprach von einem „Schock“ in der ukrainischen Öffentlichkeit und zog einen Vergleich zur Zeit des Nationalsozialismus: „Die Ukrainer fühlten sich bei dieser herablassenden Attitüde unbewusst auch an die Schrecken der Nazi-Besatzung erinnert, als die Ukrainer als Untermenschen behandelt wurden.“ Gleichsam merkte er „deutsche Arroganz und Größenwahn“ bei einem der „hochrangigsten Köpfe der Bundeswehr“ an.  In den vergangenen Tagen nun hat es sich der Botschafter zur Aufgabe gemacht, auf Twitter für das ultranationalistische Regiment Asow in die Bresche zu springen. „Leute, liebe @tagesschau, lassen Sie doch endlich das Asow-Regiment in Ruhe. Bitte. Wie lange wollen Sie dieses russische Fake-Narrativ - jetzt mitten im russischen Vernichtungskrieg gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder in Mariupol - bedienen?“, schrieb er etwa am 19. März. [….]

(Frankfurter Rundschau, 22.03.2022)

Nach den Attacken des Ukrainischen Scharmachers auf Bundeskanzler Scholz, wurden erstmals seit dem 24.02.2022 kritische Worte über den derzeit ständig beklatschten Botschafter hörbar.

[….]  In der SPD wächst nach SPIEGEL-Informationen der Ärger über Vorwürfe des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, die Bundesregierung agiere gegenüber Russland zu weich. Aus Melnyks Sicht sei »immer alles zu wenig, zu wenig, zu wenig«, beklagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer Teilnehmern zufolge in einer Sitzung der Parlamentarischen Linken, der größten Strömung der Fraktion. »Melnyk kann nicht ständig die deutsche Politik desavouieren, das geht einfach nicht.« [….]

(SPON, 16.03.2022)

Nun fing sich aber Schäfer einen Shitstorm ein, musste zurückrudern, wurde von den Lokaljournalisten der Hamburger Morgenpost schwer attackiert, zu wenig Verständnis für die Notlage Melnyks aufzubringen.

Mich bringt das in eine moralische Zwickmühle. Einerseits sehe ich ihm in dieser besonderen Lage viel nach, das ich bei keinem anderen Diplomaten akzeptieren würde. Andererseits ist mir Melnyk aufgrund seiner faschistoiden Vorlieben und ständigen Beleidigungen so extrem unsympathisch, daß ich ihn am liebsten von Baerbock einbestellen und rügen lassen würde.

Nun ist meine persönliche extreme Abneigung gegen Melnyk glücklicherweise irrelevant. Ich gebe aber zu bedenken, daß er der Ukraine schadet, indem er in Deutschland so viel Porzellan zerschlägt. Ich habe jedenfalls bei meinen Spenden genau drauf geachtet, den Botschafter zu umgehen.

Selenskyjs Mann in Berlin pöbelt sich unterdessen weiter durch seine Tage, attackierte just den besonders ruhigen und seriösen von mir hochgeschätzten Finanzexperten Fabio de Masi.

   […..] Klappe halten!“ Ukraine-Botschafter beschimpft Hamburger Linken.  Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk blafft via Twitter den Hamburger Finanzexperten und früheren Bundestagsabgeordneten Fabio di Masi an, „lieber die linke Klappe zu halten.“ Hintergrund ist der Streit um das ukrainische Asow-Regiment, das mit Hakenkreuzfahnen posiert. [….]

(Mopo, 22.03.2022)

Muss sich de Masi das bieten lassen, nur weil Melnyk unter Druck steht?

Soviel Moral sollten wir uns in Deutschland leisten, daß wir auch einen schwer bedrängten Melnyk immerhin laut sagen, daß wir es nicht schätzen faschistische rechtsnationale Vereine zu fördern.