Weiß sie
wirklich, was sie tut“ fragt sich Harald Stutte heute ganz besorgt im Mopo-Leitartikel.
Weiß sie wirklich, was sie
tut?
Gemeint
ist natürlich Angela Merkel, die sonst so Tatenlose, die nach Stuttes Ansicht
offenbar die Grenzen zu Deutschland geöffnet hat, ohne zu wissen, was dann auf
uns zukommt.
In
dem Hauptartikel auf der nächsten Seite erklärt der Morgenpostredakteur, daß nun
alle gegen die Kanzlerin wären, aber sie dafür heiße Favoritin auf den
Friedensnobelpreis wäre. Das schließt Stutte aus den Aussagen Kristian Berg
Harpvikens – freilich ohne dessen Fehlerquote von 100% zu erwähnen.
Ein Wechselbad der Gefühle,
welches die Kanzlerin derzeit durchlebt. Ade „Willkommenskultur“, heftiger
Unmut über Angela Merkels Flüchtlingspolitik entlädt sich derzeit in Union und
SPD. Gleichzeitig starrt die Welt gebannt nach Oslo, wo am Freitag der
Friedensnobelpreisträger verlesen wird. Heißeste Kandidatin: Angela Merkel...
[…] Bayerns Regierungschef Horst Seehofer (CSU)
bekräftigte nochmals, die Kanzlerin habe einen Fehler begangen, als sie die
Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen ließ. Ein Sog sei so
entstanden. Seehofer: „Mehr geht nicht mehr.“ […] Empörung daheim, Zuspruch weltweit: Auf der Shortlist von Kristian Berg
Harpviken, Direktor des Osloer Friedensforschungsinstituts Prio, stehen die
Favoriten für den diesjährigen Friedensnobelpreis, dessen Träger am Freitag
verlesen wird. Ganz oben: Angela Merkel. Würdigen möchte man ihren Friedenskurs
in der Ukraine – und die liberale Flüchtlingspolitik.
(Harald
Stutte Mopo, 05.10.15)
Stuttes
Prämissen sind allesamt falsch. Ob Merkel auf den Nobelpreis schielt, weiß
vermutlich niemand genau.
Ich
meine aber nicht, daß das ernsthaft eine Rolle in ihren Überlegungen spielt,
denn dann hätte sie sich nicht über Monate und Jahre stumm verhalten und
achselzuckend zugesehen, wie Hunderte Asylbewerberheime abgefackelt werden,
dann hätte sie nicht wie entfesselt Waffen exportiert und in der EU auf die
vollkommen schwachsinnige und menschenfeindliche Dublin-Regelung bestanden.
Merkel
ist selbstverständlich keine Menschenfreundin, die sich von übergeordneten
moralischen Impulsen leiten lässt.
Sie
ist eben nicht mit Herzblut für die Flüchtlinge engagiert, sonst hätte sie
schon vor einem Jahr Thomas de Maizière gefeuert, die xenophoben Töne der
Sachsen-CDU unterbunden und vor Allem hätte sie dann längst gehandelt, wo es
notwendig ist: Sprachkurse, Unterkünfte, medizinische Betreuung. Das alles ist nie passiert, weil sich
Merkel eben nicht für die flüchtenden Menschen interessiert.
In
seinem Meinungsartikel orakelt Stutte nun drauf los, die Realität drohe Merkels
moralischen Anspruch auszuhebeln.
Ein bisschen wird sich die Kanzlerin wie der Zauberlehrling fühlen, der die
Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Nur dass es sich – anders als in
Goethes Gedicht – um Menschen handelt, die bei uns eine neue Heimat suchen.
Merkel droht auf fatale Weise zum Opfer der Unvereinbarkeit von Anspruch und
Wirklichkeit zu werden.
Was für ein sagenhafter Unsinn.
Merkel wird schlicht und ergreifend erkannt haben, daß
Seehofer, de Maizière und Co, die von Begrenzung und Zäunen und Schlagstöcken
phantasieren, in Wahrheit keine Lösungen haben.
Wenn Zäune erhöht und mit Nato-Draht verstärkt werden,
denken verzweifelte Syrer eben nicht: „Na gut, dann gehen wir eben wieder
zurück nach Homs und lassen uns vom IS massakrieren“.
Nein, sie fliehen trotzdem um ihr Leben. Mehr
Grenzwälle bedeuten lediglich mehr Verletzte und mehr Schlepper.
Es ist technisch gar nicht möglich um ganz Deutschland
eine Mauer wie um die DDR zu bauen.
Außerdem hat Merkel keine Grenzen geöffnet. Die
Grenzen waren ja auf und schließen durfte sie sie gar nicht.
Seehofer hat in Bayern (sporadische) Grenzkontrollen eingeführt und ist furchtbar
stolz drauf.
Das ist aber nur Augenwischerei. Denn
durchgelassen werden Flüchtlinge trotzdem; sie dürfen gar nicht abgefangen
werden.
Merkel hat keine weitergehenden Interessen an
Flüchtlingen. Sie ist viel zu spießig dazu, um sich wie Jakob Augstein ein bunteres
Deutschland zu wünschen.
[…] Warum brauchen wir Einwanderung? Doch nicht wegen der
Wirtschaft. Sondern weil Deutschland alt und müde wird. Ohne Einwanderer
versinkt dieses Land im Schlaf.
[…] Die Zahlen sind eindeutig: In Deutschland leben heute
rund 45 Millionen erwerbsfähige Menschen. Ohne Zuwanderung werden es im Jahr
2050 noch 29 Millionen sein. Die Kräfte der Demografie sind so radikal wie die
der Migration. Darum wird sich Deutschland verändern. Und niemand kann das
aufhalten. Es gibt kein Bleiberecht in der Vergangenheit. Auch nicht für die
Angstvollen und die Angstmacher, die Strobls, Seehofers, Söders.
[…] Aber Deutschland braucht die Migranten nicht nur, weil
die Kräfte der Wirtschaft erlahmen. Es erlahmen auch die der Kultur. Das
Deutschland des Botho Strauß, in dem sich wohl auch die Strobls, Seehofers,
Söders wohlfühlen würden, wäre eine Geisterbahn. Ein Land der Alten und
Versehrten. Der Furchtsamen und Mutlosen.
Dieses Land sucht sein Heil nicht in der Zukunft, sondern in der
Reha-Klinik. Es ringt nicht mehr mit dem Schicksal, sondern nur noch mit dem
Rollator - wahlweise ausgerüstet mit Korb und Stockhalter oder mit gepolsterter
Unterarmauflage. Die letzten Fragen drehen sich darum, ob man sich beim
Treppenlift für den Sitz-, Plattform- oder Hublift entscheidet. Und der einzige
Weg, um den es geht, ist der ins nächste Sanitätshaus. […]
Merkel ist auch viel zu indolent und desinteressiert,
um so ein großartiges Plädoyer wider den Fremdenhass wie Ralf Stegner zu
formulieren.
Meinen sie die Belastungsgrenze der Kinder, Frauen und Männer aus Syrien,
die vor den Mörderbanden des IS, den Fassbomben Assads oder Al Kaida fliehen?
Oder die Belastungsgrenzen der Menschen, die aus ihrer ganz persönlichen Hölle
des Irak, Afghanistans oder Eritreas oder aus Pakistan fliehen? Oder die
Belastungsgrenzen derer, die ihre Kinder vor dem Hungertod bewahren wollen,
während wir unsere billigen Lebensmittel wegschmeißen? Oder vielleicht die
Belastungsgrenzen derer, die aus Gegenden fliehen, in die wir unsere
todbringenden Waffen liefern? Oder vielleicht die aus Ländern, mit denen wir
enge Verbündete sind, obwohl sie Frauen unterdrücken, Kinder arbeiten lassen ,
Kritiker auspeitschen, steinigen oder anderswie barbarisch hinrichten? Nein,
mir scheint, wir meinen andere Belastungsgrenzen!
[…] Was ist der Ausweg? Weg mit dem Individualrecht auf
Asyl? Niemals! Diese Lehre aus der Nazidiktatur sollten wir doch gezogen haben,
dass dieses Verfassungsgebot niemals mehr angetastet werden darf.
Oder die Genfer Konvention für Kriegsflüchtlinge ignorieren? Und das nach
dem blutigen 20.Jahrhundert, an dem wir Deutschen Kriegsschuld und
Vernichtungswahn zu verantworten hatten - doch wohl nicht wirklich!
[…] Meine Belastungsgrenze ist da, wo die CSU den
Diktatorenlehrling Orban zu Orientierungszwecken einlädt. Da, wo deutsche
Konservative mehr Grenzzäune fordern über Waffengebrauch an den Grenzen
bramarbasieren, von angeblichen Anreizen unserer sozialen Hängematte für vom
Schicksal gepeinigte Menschen in Elendsregionen schwafeln.
Meine Belastungsgrenze ist da, wo der unselige Thilo Sarrazin mit dem
österreichischen Rechtsausleger Strache gegen die Wiener SPÖ auftritt. Wann
verlässt der endlich die SPD, deren Werte er durch seinen literarischen Müll
mit Füßen tritt?
[…] Angstmacherei, Ressentiment, Stammtischgeschwätz lösen
kein einziges Problem, beschwören aber zahlreiche neue herauf.
Meine Belastungsgrenze ist auch erreicht, wenn hunderte Anschläge rechter
Hohlköpfe und Gewalttäter auf Flüchtlingsunterkünfte kaum noch mehr als ein
Schulterzucken auslösen.
Zeit für Haltung! Zeit für Besonnenheit in Wort und Tat! Zeit für
praktische Tatkraft! Wir sind nicht in den fünfziger Jahren, wo sich im
kriegszerstörten Schleswig-Holstein die Bevölkerung durch Flüchtlinge
verdoppelt hat.
Wir sind 2015 im größten und wohlhabendsten Deutschland, das es je gab. Das
ist also zu schaffen mit Vernunft - ohne Naivität und sicher nur gemeinsam!
Die Belastungsgrenze für den politischen Quark von Rechts - die ist
allerdings erreicht!
Merkel ist lediglich realistisch genug, um zu wissen,
daß eine Grenzschließung nicht nur nichts bringt, sondern die Situation massiv
verschlimmern würde. Das ist keine Lösung.
Harald Stutte gibt seiner unsinnigen Deutung von der
Menschenfreundin Merkel allerdings noch einen weiteren Spin, der so
schwachsinnig ist, daß ich zunächst dachte Titanic oder den Postillon zu lesen.
Der Anspruch, das war ein zutiefst christliches Prinzip, dem die
Pfarrerstochter fast schon reflexhaft nachgab: Menschen in Not zu helfen! Die
Wirklichkeit, das sind finanzielle und organisatorische Grenzen, an die Kommunal-
und Landespolitiker stoßen.
[…] Die
Bundesregierung ist in der Bringschuld: Sie muss zeigen, dass sie Herr der Lage
ist. Und im Falle der Überstrapazierung den Flüchtlingsstrom umleiten. Oder
sogar vorrübergehend stoppen.
Chapeau
– so einen Unsinn liest man selten.
Gerade
die C-Parteien hetzen am meisten gegen Flüchtlinge; ein christliches Prinzip
gibt es nicht; schon gar nicht lässt sich Merkel wieder die Vernunft zu großen
Wohltaten verleiten. Im Gegenteil – ihre Entscheidungen für den Irakkrieg, den
Waffenexport und wider die Freiheitsrechte zeigen immer, daß sie bloß so rechts
agiert, wie es ihren Wählern gefällt. Niemals würde sie aus christlicher
Überzeugung ihren amerikanischen Freunden Folterlager und Todesstrafe
auszureden versuchen.
Und
schon gar nicht reagiert Merkel jemals reflexhaft. Im Gegenteil. Monatelang
ließ sie tatenlos alles laufen.
Sie weiß
nur, daß es mit Grenzanlagen, Niederknüppeln von Frauen und Kindern noch viel
schlimmer wird.
Und im
Gegensatz zu Stutte scheint sie immerhin auch zu verstehen, daß man den „Flüchtlingsstrom“
eben gerade nicht auf Knopfdruck umleiten (Wohin auch???) oder gar stoppen (Und
was passiert dann mit den Menschen??) kann.
Stutte,
setzen, sechs!