Montag, 5. Oktober 2015

Der Boulevard



Weiß sie wirklich, was sie tut“ fragt sich Harald Stutte heute ganz besorgt im Mopo-Leitartikel.
Weiß sie wirklich, was sie tut?

Gemeint ist natürlich Angela Merkel, die sonst so Tatenlose, die nach Stuttes Ansicht offenbar die Grenzen zu Deutschland geöffnet hat, ohne zu wissen, was dann auf uns zukommt.

In dem Hauptartikel auf der nächsten Seite erklärt der Morgenpostredakteur, daß nun alle gegen die Kanzlerin wären, aber sie dafür heiße Favoritin auf den Friedensnobelpreis wäre. Das schließt Stutte aus den Aussagen Kristian Berg Harpvikens – freilich ohne dessen Fehlerquote von 100% zu erwähnen.

Ein Wechselbad der Gefühle, welches die Kanzlerin derzeit durchlebt. Ade „Willkommenskultur“, heftiger Unmut über Angela Merkels Flüchtlingspolitik entlädt sich derzeit in Union und SPD. Gleichzeitig starrt die Welt gebannt nach Oslo, wo am Freitag der Friedensnobelpreisträger verlesen wird. Heißeste Kandidatin: Angela Merkel...
[…] Bayerns Regierungschef Horst Seehofer (CSU) bekräftigte nochmals, die Kanzlerin habe einen Fehler begangen, als sie die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen ließ. Ein Sog sei so entstanden. Seehofer: „Mehr geht nicht mehr.“ […] Empörung daheim, Zuspruch weltweit: Auf der Shortlist von Kristian Berg Harpviken, Direktor des Osloer Friedensforschungsinstituts Prio, stehen die Favoriten für den diesjährigen Friedensnobelpreis, dessen Träger am Freitag verlesen wird. Ganz oben: Angela Merkel. Würdigen möchte man ihren Friedenskurs in der Ukraine – und die liberale Flüchtlingspolitik.
(Harald Stutte Mopo, 05.10.15)

Stuttes Prämissen sind allesamt falsch. Ob Merkel auf den Nobelpreis schielt, weiß vermutlich niemand genau.
Ich meine aber nicht, daß das ernsthaft eine Rolle in ihren Überlegungen spielt, denn dann hätte sie sich nicht über Monate und Jahre stumm verhalten und achselzuckend zugesehen, wie Hunderte Asylbewerberheime abgefackelt werden, dann hätte sie nicht wie entfesselt Waffen exportiert und in der EU auf die vollkommen schwachsinnige und menschenfeindliche Dublin-Regelung bestanden.
Merkel ist selbstverständlich keine Menschenfreundin, die sich von übergeordneten moralischen Impulsen leiten lässt.
Sie ist eben nicht mit Herzblut für die Flüchtlinge engagiert, sonst hätte sie schon vor einem Jahr Thomas de Maizière gefeuert, die xenophoben Töne der Sachsen-CDU unterbunden und vor Allem hätte sie dann längst gehandelt, wo es notwendig ist: Sprachkurse, Unterkünfte, medizinische Betreuung. Das alles ist nie passiert, weil sich Merkel eben nicht für die flüchtenden Menschen interessiert.

In seinem Meinungsartikel orakelt Stutte nun drauf los, die Realität drohe Merkels moralischen Anspruch auszuhebeln.

Ein bisschen wird sich die Kanzlerin wie der Zauberlehrling fühlen, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird. Nur dass es sich – anders als in Goethes Gedicht – um Menschen handelt, die bei uns eine neue Heimat suchen. Merkel droht auf fatale Weise zum Opfer der Unvereinbarkeit von Anspruch und Wirklichkeit zu werden.

Was für ein sagenhafter Unsinn.
Merkel wird schlicht und ergreifend erkannt haben, daß Seehofer, de Maizière und Co, die von Begrenzung und Zäunen und Schlagstöcken phantasieren, in Wahrheit keine Lösungen haben.
Wenn Zäune erhöht und mit Nato-Draht verstärkt werden, denken verzweifelte Syrer eben nicht: „Na gut, dann gehen wir eben wieder zurück nach Homs und lassen uns vom IS massakrieren“.
Nein, sie fliehen trotzdem um ihr Leben. Mehr Grenzwälle bedeuten lediglich mehr Verletzte und mehr Schlepper.
Es ist technisch gar nicht möglich um ganz Deutschland eine Mauer wie um die DDR zu bauen.
Außerdem hat Merkel keine Grenzen geöffnet. Die Grenzen waren ja auf und schließen durfte sie sie gar nicht.
Seehofer hat in Bayern (sporadische) Grenzkontrollen eingeführt und ist furchtbar stolz drauf.
Das ist aber nur Augenwischerei. Denn durchgelassen werden Flüchtlinge trotzdem; sie dürfen gar nicht abgefangen werden.

Merkel hat keine weitergehenden Interessen an Flüchtlingen. Sie ist viel zu spießig dazu, um sich wie Jakob Augstein ein bunteres Deutschland zu wünschen.

[…] Warum brauchen wir Einwanderung? Doch nicht wegen der Wirtschaft. Sondern weil Deutschland alt und müde wird. Ohne Einwanderer versinkt dieses Land im Schlaf.
[…] Die Zahlen sind eindeutig: In Deutschland leben heute rund 45 Millionen erwerbsfähige Menschen. Ohne Zuwanderung werden es im Jahr 2050 noch 29 Millionen sein. Die Kräfte der Demografie sind so radikal wie die der Migration. Darum wird sich Deutschland verändern. Und niemand kann das aufhalten. Es gibt kein Bleiberecht in der Vergangenheit. Auch nicht für die Angstvollen und die Angstmacher, die Strobls, Seehofers, Söders.
[…] Aber Deutschland braucht die Migranten nicht nur, weil die Kräfte der Wirtschaft erlahmen. Es erlahmen auch die der Kultur. Das Deutschland des Botho Strauß, in dem sich wohl auch die Strobls, Seehofers, Söders wohlfühlen würden, wäre eine Geisterbahn. Ein Land der Alten und Versehrten. Der Furchtsamen und Mutlosen.
Dieses Land sucht sein Heil nicht in der Zukunft, sondern in der Reha-Klinik. Es ringt nicht mehr mit dem Schicksal, sondern nur noch mit dem Rollator - wahlweise ausgerüstet mit Korb und Stockhalter oder mit gepolsterter Unterarmauflage. Die letzten Fragen drehen sich darum, ob man sich beim Treppenlift für den Sitz-, Plattform- oder Hublift entscheidet. Und der einzige Weg, um den es geht, ist der ins nächste Sanitätshaus. […]

Merkel ist auch viel zu indolent und desinteressiert, um so ein großartiges Plädoyer wider den Fremdenhass wie Ralf Stegner zu formulieren.

Meinen sie die Belastungsgrenze der Kinder, Frauen und Männer aus Syrien, die vor den Mörderbanden des IS, den Fassbomben Assads oder Al Kaida fliehen? Oder die Belastungsgrenzen der Menschen, die aus ihrer ganz persönlichen Hölle des Irak, Afghanistans oder Eritreas oder aus Pakistan fliehen? Oder die Belastungsgrenzen derer, die ihre Kinder vor dem Hungertod bewahren wollen, während wir unsere billigen Lebensmittel wegschmeißen? Oder vielleicht die Belastungsgrenzen derer, die aus Gegenden fliehen, in die wir unsere todbringenden Waffen liefern? Oder vielleicht die aus Ländern, mit denen wir enge Verbündete sind, obwohl sie Frauen unterdrücken, Kinder arbeiten lassen , Kritiker auspeitschen, steinigen oder anderswie barbarisch hinrichten? Nein, mir scheint, wir meinen andere Belastungsgrenzen!
[…] Was ist der Ausweg? Weg mit dem Individualrecht auf Asyl? Niemals! Diese Lehre aus der Nazidiktatur sollten wir doch gezogen haben, dass dieses Verfassungsgebot niemals mehr angetastet werden darf.
Oder die Genfer Konvention für Kriegsflüchtlinge ignorieren? Und das nach dem blutigen 20.Jahrhundert, an dem wir Deutschen Kriegsschuld und Vernichtungswahn zu verantworten hatten - doch wohl nicht wirklich!
[…] Meine Belastungsgrenze ist da, wo die CSU den Diktatorenlehrling Orban zu Orientierungszwecken einlädt. Da, wo deutsche Konservative mehr Grenzzäune fordern über Waffengebrauch an den Grenzen bramarbasieren, von angeblichen Anreizen unserer sozialen Hängematte für vom Schicksal gepeinigte Menschen in Elendsregionen schwafeln.
Meine Belastungsgrenze ist da, wo der unselige Thilo Sarrazin mit dem österreichischen Rechtsausleger Strache gegen die Wiener SPÖ auftritt. Wann verlässt der endlich die SPD, deren Werte er durch seinen literarischen Müll mit Füßen tritt?
[…] Angstmacherei, Ressentiment, Stammtischgeschwätz lösen kein einziges Problem, beschwören aber zahlreiche neue herauf.
Meine Belastungsgrenze ist auch erreicht, wenn hunderte Anschläge rechter Hohlköpfe und Gewalttäter auf Flüchtlingsunterkünfte kaum noch mehr als ein Schulterzucken auslösen.
Zeit für Haltung! Zeit für Besonnenheit in Wort und Tat! Zeit für praktische Tatkraft! Wir sind nicht in den fünfziger Jahren, wo sich im kriegszerstörten Schleswig-Holstein die Bevölkerung durch Flüchtlinge verdoppelt hat.
Wir sind 2015 im größten und wohlhabendsten Deutschland, das es je gab. Das ist also zu schaffen mit Vernunft - ohne Naivität und sicher nur gemeinsam!
Die Belastungsgrenze für den politischen Quark von Rechts - die ist allerdings erreicht!

Merkel ist lediglich realistisch genug, um zu wissen, daß eine Grenzschließung nicht nur nichts bringt, sondern die Situation massiv verschlimmern würde. Das ist keine Lösung.

Harald Stutte gibt seiner unsinnigen Deutung von der Menschenfreundin Merkel allerdings noch einen weiteren Spin, der so schwachsinnig ist, daß ich zunächst dachte Titanic oder den Postillon zu lesen.

Der Anspruch, das war ein zutiefst christliches Prinzip, dem die Pfarrerstochter fast schon reflexhaft nachgab: Menschen in Not zu helfen! Die Wirklichkeit, das sind finanzielle und organisatorische Grenzen, an die Kommunal- und Landespolitiker stoßen.
[…] Die Bundesregierung ist in der Bringschuld: Sie muss zeigen, dass sie Herr der Lage ist. Und im Falle der Überstrapazierung den Flüchtlingsstrom umleiten. Oder sogar vorrübergehend stoppen.

Chapeau – so einen Unsinn liest man selten.
Gerade die C-Parteien hetzen am meisten gegen Flüchtlinge; ein christliches Prinzip gibt es nicht; schon gar nicht lässt sich Merkel wieder die Vernunft zu großen Wohltaten verleiten. Im Gegenteil – ihre Entscheidungen für den Irakkrieg, den Waffenexport und wider die Freiheitsrechte zeigen immer, daß sie bloß so rechts agiert, wie es ihren Wählern gefällt. Niemals würde sie aus christlicher Überzeugung ihren amerikanischen Freunden Folterlager und Todesstrafe auszureden versuchen.

Und schon gar nicht reagiert Merkel jemals reflexhaft. Im Gegenteil. Monatelang ließ sie tatenlos alles laufen.
Sie weiß nur, daß es mit Grenzanlagen, Niederknüppeln von Frauen und Kindern noch viel schlimmer wird.
Und im Gegensatz zu Stutte scheint sie immerhin auch zu verstehen, daß man den „Flüchtlingsstrom“ eben gerade nicht auf Knopfdruck umleiten (Wohin auch???) oder gar stoppen (Und was passiert dann mit den Menschen??) kann.

Stutte, setzen, sechs!