Heute bin ich spazieren gegangen. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Der größte Parkfriedhof dieser Erde und außerdem auch der schönste Park Hamburgs, der glücklicherweise wegen des Friedhofscharakters nicht von kreischenden Teenager, Grillfanatikern und Hobbysportlern missbraucht wird.
Normalerweise gehe ich da regelmäßig hin. In den letzten vier Monaten war es aber nicht möglich, weil es kontinuierlich viel zu heiß für mich war.
Obwohl dort eine Armee aus Friedhofsgärtnern die Flora wässert, war gegen den knochentrockenen hanseatischen Sahara-Sommer mit bis zu 40,1°C im Schatten (am 20.07.2022 in Hamburg-Neuwiedenthal) nicht anzukommen.
Die Natur präsentiert sich braun in braun, die verzweifelten Laubbäume warfen schon im Juli ihre vertrockneten Blätter ab und sogar das stabile Efeu wickelt sich nur noch in totem graubraun um die Baumstämme.
Ich glaube, ich kann zukünftig nur in Deutschland überleben, wenn ich meine Lebenssituation so verändere, daß ich mit einer leistungsstarken Klima-Anlage die gesamte Wohnung auf jede beliebige Temperatur runterkühlen kann. Bei meinem amerikanischen Verwandten in L.A. herrschen heute 42°C.
Ich frage am Telefon gar nicht mehr „wie haltet Ihr das bloß aus?“, denn sie leiden kaum darunter, da ohnehin alles eiskalt gemacht wird. Das Haus, die eigene Wohnung, Autos, Bahnen, Busse, Büros, Restaurants, Geschäfte, Parkhäuser, Garagen.
Der gewöhnliche Ami geht auch nicht zu Fuß und erlebt die 42°C höchsten für die wenigen Sekunden, die es braucht, um aus dem Autos auszusteigen und dann wieder ein Geschäft zu betreten. In den asiatischen schwülheißen Supermetropolen wie Singapur oder HongKong oder Macao ist es noch abartiger. Da werden Hotels und Einkaufszentren derartig gekühlt, daß sie Passanten innen ihre teuerste Pelzmode vorführen können. Kalte Räume sind ein Statussymbol.
Und jeder, der in Deutschland im Sommer schon einmal Besuch aus den USA hatte, kennt die geschockten Gesichter seiner Amifreunde, wenn sie erzählen, sie hätten unglaublicherweise in einem Bus gesessen, in dem die Klimaanlange nicht ging. Selbst in einfachsten Hotels wird die Rezeption bei über 20°C Raumtemperatur angerufen „AC isn’t working“. Daß es gar keine Klimaanlage gibt, liegt außerhalb der Vorstellungskraft der USAner.
Ami-Vlogger, die schon länger in Deutschland leben, berichten mit einer Mischung aus Grusel und Faszination von dieser deutschen Eigenart „auf Kipp“. Mit dieser kuriosen mechanischen Fenster-Einstellung, die in den Staaten unbekannt ist, könne man nachts, bei kühleren Temperaturen eine Luftzirkulation bewirken, um sein Zimmer abzukühlen.
Aber erstens hilft „auf Kipp“ auch nicht, wenn man bei ständigen Tropennächten in einem nicht isolierten Gebäude lebt und zweitens bin ich nun einmal US-Amerikaner und brauche ein kühles Schlafzimmer. Das ist offenbar genetisch.
Andererseits bin ich schon so eingedeutscht, daß ich in der Lage bin, weiter als bis zu meiner Nasenspitze zu denken. Amerikaner bewerten die Güte ihrer Regierung weitgehend danach, ob Benzin und Strom lächerlich billig sind.
Steigen die Preise an den Zapfsäulen, sind Biden und die Demokraten bei den nächsten Wahlen chancenlos. Obwohl viele Amerikaner sogar begreifen, daß der US-Präsident nicht willkürlich die Benzinpreise bestimmen kann. Dennoch werben sämtliche linken und liberalen Pundits für Biden mit dem Argument, wie billig das „gasoline“ wieder sei.
Die Erkenntnis, daß Benzin- und Strompreise aus Umweltschutz- und Klimaschutzgründen HOCH sein sollten, damit man WENIGER verbraucht, gibt es noch gar nicht.
Auch die Ampel scheint diesen Zusammenhang zu vergessen und trachtet nur noch danach mit Geldgeschenken (Tankrabatt!) den Benzinverbrauch zu verbilligen und damit zu fördern. Das ist aber Politik, um den Klimawandel zu beschleunigen und nicht zu verlangsamen.
Ja, natürlich will ich auch eine Power-Klimaanlage und so billigen Strom, daß ich sie 24/7 laufen lassen kann. Das würde mich enorm entspannen. Endlich wieder gut schlafen im Sommer. Keine Furcht vor dem nächsten, noch heißeren Sommer.
Leider denken aber viel zu viele Leute so und leider handeln viel zu viele Regierungen so, um das möglich zu machen. Klima-Anlagen verbrauchen so viel Energie, daß sich davon allein schon der Planet relevant weiter aufheizt.
[….] Klimaanlagen sorgen für Abkühlung an heißen Tagen, dabei verschlimmern sie die Erderwärmung. [….] Die Nachfrage nach Raumkühlern wächst - allein in Deutschland laut Statistischem Bundesamt zwischen 2019 und 2020 um 28 Prozent. Aus dem Mittelmeerraum oder den Vereinigten Staaten sind "A/Cs" (Air Conditioner) ohnehin kaum mehr wegzudenken. Mit fatalen Folgen für die Umwelt: Einer Schätzung des Internationalen Kälteinstituts (IIR) zufolge werden 20 Prozent des weltweit produzierten Stroms von Kühlschränken, Klimaanlagen und anderen Kälteaggregaten verbraucht, wodurch jährlich 2,3 Gigatonnen Kohlendioxid freigesetzt werden. Und die Geräte sind nicht nur Stromfresser: Der unbeabsichtigte Ausstoß von Fluorkohlenwasserstoffen, die als Kältemittel vor allem in Klimaanlagen in großen Mengen zum Einsatz kommen, ist für etwa vier Prozent der globalen Erwärmung verantwortlich. Diese sogenannten F-Gase, die eigentlich in einem geschlossenen Kreislauf zirkulieren, können wegen Undichtigkeit, bei Reparaturen oder bei der Entsorgung alter Kühlsysteme entweichen - und sind dann tausendfach klimaschädlicher als CO₂ [….] Es gebe Milliarden Kühlgeräte auf der Welt, die so viel klimaschädliche Gase emittieren "wie der Flug- und Schiffsverkehr zusammen", sagt Gottschall. Ein Drittel davon gehe auf fluorierte Kältemittel zurück, sodass selbst mit regenerativem Strom die herkömmliche Kühltechnologie nicht grün werde. Die Menschheit werde in Zukunft mehr Energie für Kühlung verbrauchen als fürs Heizen, sagt Gottschall. Der sich aufheizende Planet mache mehr Kühlung nötig, was wiederum die Erderwärmung vorantreibe. "Ein Teufelskreis." [….]
(Andreas Jäger, SZ, 05.09.2022)
We are doomed.
[….] Anstelle eines Gases, das durch einen Kompressor verflüssigt und später, nach Passieren eines Ventils, wieder gasförmig wird, wodurch es sich ausdehnt und der zu kühlenden Umgebung Wärme entzieht, könnten in zukünftigen Kreisläufen feste Kältemittel zum Einsatz kommen. So hat ein Team um Adam Slavney von der Universität Harvard kürzlich einen Prototypen vorgestellt, bei dem ein Perowskit das Kältemittel bildet. Perowskite sind mineralische Verbindungen aus drei chemischen Elementen. Wie von dem Materialwissenschaftler kürzlich auf der Konferenz der American Chemical Society präsentiert, beruht der Kühlzyklus der Erfindung auf dem sogenannten barokalorischen Effekt, einer druckinduzierten Temperaturänderung in Festkörpern. Bereits im Mai hatten Slavneys Team in Nature Communications über zwei Halogen-Perowskite berichtet, die wegen ihrer starken Wärmeänderung bei Druckeinfluss als geeignete Materialkandidaten ausgemacht wurden. Neben dem barokalorischen Effekt gibt es eine Reihe ähnlicher Mechanismen, die alle quantenphysikalischen Ursprungs sind und sich für Kühlung nutzen lassen. Ob elasto-, magneto- oder elektrokalorischer Effekt: Sie eint, dass sich die Entropie - das Maß für die Unordnung eines Systems - durch einen äußeren Einfluss verringert, zum Beispiel durch Druck, mechanische Spannung, sowie durch äußere magnetische oder elektrische Felder. [….]
(Andreas Jäger, SZ, 05.09.2022)