Sonntag, 9. Mai 2021

Weniger Juristerei bitte

In dem Wochenend-Streitgespräch über die Corona-Maßnahmen zwischen Georg Mascolo und Heribert Prantl, also zwei Journalisten, die ich üblicherweise beide sehr schätze, trat Letzterer nicht ganz als der Querdenker-affine Nörgler auf, wie man es schon befürchten musste.

Prantl ist schließlich kein Idiot, sondern ein hochgebildeter Mann mit ausgeprägter sozialer Verantwortung.

Aber die rein juristische Attitüde, mit der man eine Megakrise a posteriori beurteilt, erscheint mir simplifiziert.

[…..] SZ: Wie hätten Sie denn den Kampf gegen das Virus organisiert?

Prantl: Die Ausgangssperren halte ich für verfassungswidrig. Sie sind weder geeignet noch erforderlich noch verhältnismäßig.

SZ: Studien zeigen, dass auch Ausgangssperren zu weniger Kontakten führen. Wie würden Sie für weniger Ansteckungen sorgen?

Prantl: Kontaktsperren und -regeln will ich klarer gefasst haben. Und es sollte der Autonomie der Menschen mehr vertraut werden. Das ist kein Plädoyer gegen Mund-Nasen-Schutz, es ist aber ein Plädoyer gegen detailbesessene Regeln. Ich sehe eine große Bereitschaft zum Mitmachen und zur Vernunft. […..]

Prantl: Absolut falsch war, wie alte Menschen und Schwerkranke in Alten- und Pflegeheimen in der ersten Phase der Pandemie isoliert worden sind. Ich habe erlebt, wie engste Angehörige, Kinder, Lebens- und Ehepartner nicht zu ihren todkranken Angehörigen durften, das war menschenunwürdig.

SZ: Aber Pflegeheime waren ja Todesfallen. Sobald das Virus hineingefunden hatte, starben viele Bewohner in kürzester Zeit. War Isolation nicht zwingend geboten?

Prantl: Man hätte Maßnahmen ergreifen müssen, die das Risiko minimieren. Da hätte es mehr Fantasie gebraucht. Meine Mutter ist gestorben, bevor die Pandemie losging, aber wenn man mich nicht zu ihr gelassen hätte - ich hätte bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. […..]

(SZ-Gespräch, 08.05.2021)

Meine Mutter starb auch vor der Pandemie und allein die Vorstellung, daß ich sie nicht hätte besuchen können im Krankenhaus, um ihr beizustehen, verdreifacht meinen Pulsschlag. Das was den Angehörigen durch Corona angetan wurde, ist extrem grausam.

Andererseits verblüfft mich schon, wie Prantl, der sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat und dazu in Talkshows ging, selbst ein Jahr später immer noch nichts Fundierteres sagen kann als „Maßnahmen ergreifen“ und „mehr Fantasie“.   Wer würde dem schon widersprechen; aber was soll das konkret bedeuten?

Es ist meiner Ansicht nach nicht sinnvoll in einer Pandemie auf Juristen zu vertrauen. Prantl, der ehemalige Richter und Oberstaatanwalt ersehnt klärende Urteile durch das Bundesverfassungsgericht, beklagt wie langsam die Männer und Frauen in den roten Roben arbeiteten.

Es erinnert mich an die despektierlichen Sprüche über Jurastudenten aus meiner Studienzeit, die doch letztendlich nichts anderes als Bibelforscher wären, sich auf die Interpretation eines Buches konzentrierten, statt Lösungen für Probleme zu suchen. Bei Heribert Prantl klingt das so

[…..]Prantl: Ich warte seit Langem auf ein deutliches Wort aus Karlsruhe. Das hätte es schon geben können, als es um die Einschränkungen der Religionsfreiheit an Ostern vergangenen Jahres ging. Und in dieser Woche, bei der ablehnenden Entscheidung über die Ausgangssperren, hätte ich mir gewünscht, dass Karlsruhe die Menschen nicht auf das Hauptsacheverfahren vertröstet. Gewiss: Das ist das übliche Procedere im Eilverfahren, da lässt das Gericht die Dinge erst mal laufen. Aber es geht ja nicht um eine 08/15-Verordnung zum Lärmschutz bei Rasenmähern. Es geht um umfassende Grundrechtseingriffe. Da darf man nicht nach 08/15-Muster entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. […..]

(SZ-Gespräch, 08.05.2021)

Zunächst China, dann Italien, Österreich, Spanien, Frankreich; später die USA GB, dann Brasilien und schließlich das Massensterben in Indien schufen aber extremen Handlungsdruck. Man kann nicht die Welt erst mal auf Eis legen, bis die Staatsrechtler in Ruhe ausdiskutiert haben, wie man ein Buch von 1949 juristisch interpretiert, als es noch keine Globalisierung und soziale Medien gab.

Ich bin weit entfernt davon die Ministerpräsidentenkonferenz oder gar die katastrophal versagenden Bundesminister Seehofer, Altmaier, Spahn oder Karliczek zu verteidigen.
Aber alle waren in einer sehr schwierigen Lage, für die sie keine Blaupause hatten. Auch das ist ihnen zum Vorwurf zu machen, denn seit vielen Jahren warnen internationale Organisationen und Virologen vor so einer Pandemie. Unter anderem die Gates-Foundation, die wahrlich genug Mittel hat, um auf sich aufmerksam zu machen.

Allein, es wurde überall ignoriert, es gab keine ausreichenden Lager mit Schutzkleidung, keine Pläne für Massenimpfungen, keinerlei Idee wie man das Bildungssystem ohne Präsenzunterricht gestalten könnte. Der drastische Personalmangel in medizinischen und Pflegeeinrichtungen war ebenfalls lange bekannt, ohne daß die Gesundheitsminister Bahr, Gröhe oder Spahn irgendetwas daran geändert hätten.

 Seit 2007 erwähne ich immer mal wieder die Myriaden Todesfälle durch MRSA-Infektionen in Krankenhäusern, die mit einem vernünftigen Hygienekonzept nahezu vollständig vermeidbar wären.   Man könnte abendfüllend aufzählen, was alles versäumt wurde und ganze Schuld-Gebirge verschieben.   Das ändert aber nichts an dem extremen Handlungsbedarf, der Anfang 2020 auf die Gesellschaft und Politiker aller Nationen einbrach.

Nach fast anderthalb Jahren gibt es aber immerhin einige Erkenntnisse.

Länder wie Neuseeland, Israel oder Taiwan, die sehr schnell und sehr drastisch durchgriffen, ohne Monate lang juristische Grundsatzfragen zu diskutieren, kamen nicht nur mit viel weniger Todesfällen durch die Pandemie, sondern können inzwischen wieder ein Leben wie zuvor führen. Das gilt nicht nur für kleine Länder, sondern auch für die 1,4 Milliarden-Nation China.

Dort wo aber zunächst beschwichtigt und ignoriert wurde, wo man aus falscher Rücksicht auf ökonomische Interessen vor drastischen Pandemie-Maßnahmen zurückschreckte, wurde es apokalyptisch. England, USA, Brasilien, Indien.

Modi, Trump und Bolsonaro haben sich jeweils hunderttausende Tote auf die Fahnen zu schreiben.

In Brasilien und Indien sterben jeden Tag über 4.000 Menschen an Covid19 und die Dunkelziffer ist gigantisch.     Am Ganges geht das Holz aus, um die vielen Leichen zu verbrennen.

 Wir können auch über Deutschland etwas lernen.

Die allererste Reaktion mit Lockdown und Abstandregeln war richtig, die Infektionszahlen waren geringer als in vergleichbaren Nationen. Aber daraus zogen Spahn und Co den fatalen Fehlschluss, das Problem wäre quasi erledigt, man könne sich nun gemütlich zurücklehnen und den Sommer 2020 genießen, ohne sich um lästige Dinge wie Virusmutationen, Impfstrategien, Digitalisierung der Schulen, Impfnachweise, Personalausstattungen in Pflegeheimen, Aluhüte, Querdenker zu kümmern.

Geschlossene Pflegeheime gäbe es nie wieder, verkündete Spahn noch im September 2020.   Das war ein dramatischer Fehlschluss, der sich bitter rächte und Zehntausende Tote in Deutschland forderte.

[…..]  Mascolo: "Go hard, go early", handle entschieden und schnell - diese Strategie hat etwa in Neuseeland bislang gut funktioniert, zugegeben auf einer Insel. Eine Strategie, die übrigens auch schonender für die Grundrechte sein kann. Die Einschränkungen sind gravierend, aber vergleichsweise kurz. Die Kanzlerin hat etwas Ähnliches im vergangenen Herbst versucht. Ohne Erfolg - aber mit dem mahnenden Satz: "Wir müssen auch dafür einstehen, was wir nicht schaffen." Seither taumelten wir mit der denkbar schlechtesten Strategie durch die Krise: Wir machten nicht richtig auf, aber auch nicht wirklich zu. Wir haben einen Lockdown, der hohe Fallzahlen produziert, enorme soziale und wirtschaftliche Folgen, aber er ist nicht effektiv.   […..]  Im Frühjahr 2020 haben sich Teile der Medien auf das Narrativ "Wir sind Pandemie-Weltmeister" eingelassen, daraus entstand ein übertriebenes Selbstbewusstsein. Im Sommer habe ich keine machtvolle Berichterstattung vernommen, die gefragt hat, ob wir gut auf Herbst und Winter vorbereitet sind. Und heute? Es hat lange gedauert, bis wir uns endlich mit der Frage beschäftigten, wie es um die Impfstoffversorgung in den ärmeren Ländern der Welt steht. Es ist eine der größten Gerechtigkeitsfragen unserer Zeit.  […..] 

(SZ-Gespräch, 08.05.2021)

Es ist immer noch keine Zeit für juristische Zankereien.

Mit Long-Covid, der bewußten Inkaufnahme immer neuer Sars-CoV-II-Mutationen in den armen Ländern (weil wir Reichen ihnen die Vakzine vorenthalten), sowie das ungelöste Problem der Impfverweigerer, die mutmaßlich eine Herdenimmunität verhindern, stehen genügend Mega-Aufgaben vor uns, um die politische Klasse rund um die Uhr zu beschäftigen.

Von Umfragen irritierte Laien und bedenkentragende Juristen sind für den weiteren Verlauf der Pandemiebekämpfung kontraproduktiv.

Herr Prantl räumt ein, ebenfalls gehört zu werden und in Talkshows geladen zu werden, aber leider bei weitem nicht so oft wie Prof. Lauterbach.    Dabei wäre es so wichtig die Coronapolitik-kritischen Stimmen eben nicht der AfD und den Aluhüten zu überlassen, argumentiert die Edelfeder.

Aber er verschweigt dabei eine Kleinigkeit: Brinkmann, Drosten und Lauterbach sind Epidemiologen. Sie sind Forscher und Fachleute der „Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung und den sozialen Folgen von Epidemien, zeittypischen Massenerkrankungen und Zivilisationsschäden“.

Sie alle sind sicher im Stoff, beschäftigen sich intensiv mit den weltweiten Forschungsergebnissen zum Thema.

Prantl verbrachte in seinem Leben keine einzige Stunde in einem medizinischen Labor oder einer Vorlesung über Virologie.   Deswegen ist er auch weniger relevant für die akute Situation, in der das Massensterben weiter geht und die nächste Mutation möglicherweise unseren Impfschutz aushebelt.

Unter den politisch Handelnden brauchen wir mehr Tschentschers, die sich trauen zu handeln und weniger juristische Bedenkenträger oder Wahlkämpfer.