Die Sache mit der nicht nur zulässigen, sondern auch gebotenen Israel-Kritik versus unzulässiger Antisemitismus, habe ich mehrfach in diesem Blog auseinander klamüstert. Selbstverständlich muss man auch als Deutscher, der Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges geboren wurde, besonders sensibel gegenüber Israel sein. Die heute lebenden Deutschen sind nicht Schuld am Holocaust, aber sie tragen Verantwortung dafür, die Vergangenheit zu kennen und sie nicht zu wiederholen.
Eine Aufgabe, an der weite Teile der AfD-affinen C-Politiker gerade scheitern.
Es gibt leider heute gleichzeitig zu viel und zu wenig Aufmerksamkeit für Antisemitismus.
Einerseits nehmen Übergriffe und Gewalt gegen Israelis und jüdische Einrichtungen in Deutschland stark zu, ohne daß wir auch nur annähernd genügend für die Opfer sorgen. Man kann kaum irgendwo in Deutschland mit Kippa oder Schläfenlocken spazieren gehen, ohne Beschimpfungen oder physische Attacken zu riskieren. Eine einzige Schande, die nicht hinnehmbar ist.
Andererseits wird durchaus zu oft „Antisemitismus“ geschrien, wenn es um völlig legitime Kritik an politischen Vorhängen geht. An der Spitze derjenigen, die falsche Anschuldigungen machen, steht der Israelische Ministerpräsident, der höchst unverschämt Kritik an seiner Politik in Gaza oder dem Westjordanland, als unzulässigen Antisemitismus abschmettert.
PANORAMA beschäftigte sich am 13.11.2025 vorbildlich mit dem Thema.
[…..] Anmoderation Anja Reschke:
"Es gibt kaum ein Thema, über das sich in Deutschland so schwer offen sprechen lässt, wie über den Nahost-Konflikt. Kann man das Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober verurteilen und gleichzeitig erschüttert sein über das Leid in Gaza? Kann man verstehen, dass Israelis permanent in ihrer Existenz bedroht sind und trotzdem das Vorgehen der israelischen Regierung kritisieren? Man erlebt, wie erbittert Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt werden. Deshalb schweigen die meisten. Über den zunehmenden Antisemitismus, den Juden täglich in Deutschland erleben. Und so fühlen sich Juden im Stich gelassen. Gleichzeitig gibt es so gut wie keine Debatte über die Verbrechen im Gazastreifen. Denn auf keinen Fall möchte man ja als Antisemit gelten. Aber dieses Schweigen schadet. Es ist Zeit, die Diskussion zu führen.
Eigentlich interessiert sich der jüdische Gastronom Nir Rosenfeld für vegane Küche. Vor 22 Jahren kam er aus Israel nach Deutschland. Doch in den letzten zwei Jahren muss sich der Frankfurter immer mehr mit etwas anderem befassen: antisemitischen Anfeindungen.
O-Ton Nir Rosenfeld, Jüdischer Gastronom:
"Wenn man ja traut sich in die Öffentlichkeit zu gehen, als Jude, mit Davidstern, Kippa, die israelische Fahne hier, da wird 100% was passieren. 100%. Da wirst du entweder beleidigt, wirst beschimpft, wirst du bespuckt. Da kommt meine Frau nach Hause und zittert den ganzen Tag, weil jemand gesagt hat, ihr scheiß Juden, euer Tag wird kommen.
Nach allen bekannten Zählungen haben antisemitische Straftaten in den letzten zwei Jahren stark zugenommen. Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen, körperliche Angriffe auf Jüdinnen und Juden. Anschläge auf Synagogen. Laut Bundeskriminalamt kommen die meisten Täter aus dem rechten Milieu. Gleichzeitig gab es einen starken Anstieg bei den Tätern, die das BKA unter "ausländische Ideologie" fasst. Antisemitismus ist in Deutschland wieder zu einer großen Bedrohung geworden. "Antisemitismus" ist aber auch ein schwerer Vorwurf, der missbraucht werden kann. Wurde er in den vergangenen Monaten manchmal zu schnell erhoben? Etwa, um Kritik abzuwehren? Berlinale 2024. Bei dem Filmfestival geht es auch um Israel und Gaza. Es fallen harte Worte in Richtung Israel. Etwa: "Genozid" - also Völkermord. Die Reaktion von einigen: sehr empört - der Vorwurf sei klar antisemitisch:
Welt TV (27.02.2024):
"Der Skandal um die antisemitischen Äußerungen wirft weiter dunkle Schatten auf das Filmfestival.
Dorothee Bär, CSU (Bundestag, 22.03.2024):
"Einen Antisemitismus-Skandal der den nächsten jagt. [….]
Heute fühle ich mich genötigt, doch noch einmal das leidige Thema „Eurovision Song Contest“ anzusprechen. Unangenehmerweise; denn weder mag ich diese Art von Musik, noch gucke ich diese nationalistisch gehypte Show.
Aber durch die vielen Boykotte wegen der erneuten Teilnahme Israels, wird das Thema ein Politisches: Island, Spanien, Irland, Slowenien und die Niederlande sagten bisher aus Protest gegen das Vorgehen Israels im Gaza-Krieg ihre Teilnahme ab. Weitere Länder werden folgen.
Es stellt sich hier eine grundsätzliche Frage: Was können ein berühmter Dirigent, ein Klaviervirtuose, ein Leichtathlet, ein Schlagsänger, ein Fußballer dafür, in Israel geboren worden zu sein? Sind die individuell aufgrund des Zufalls ihrer Staatsbürgerschaft für die Untaten der Israelischen Regierung zu bestrafen?
Ich meine, nein.
(….) Das dürfte wohl das einzige sein,
das ich dieses Jahr über den ESC lese: Kann die israelische Sängerin Yuval
Raphael sich in Europa frei bewegen und in der Schweiz auftreten? 2024 in Malmö
musste Eden Golan wegen massiver Todesdrohungen in ihr Hotelzimmer weggesperrt
werden und wurde angeblich vom israelischen Geheimdienst geschützt. So viel zur
Freiheit in Europa.
Offenbar hofft man in Jerusalem, den grässlichen Bildern, die es letztes Jahr in Schweden gab, zu entgehen, indem man eine Vertreterin aussuchte, die eindeutig selbst ein tragisches Opfer ist.
[….] Mit der Nominierung Raphaels wurde versucht, das alles etwas abzukühlen. Gleichzeitig ist es aber eben auch sie, die den Nahostkonflikt als Person auf die Bühne trägt. Denn sie ist eine Überlebende des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023. Mit Freunden feierte sie an diesem Tag auf dem Nova-Festival, als aus dem Gazastreifen Raketen nach Israel geschossen wurden und Hunderte Terroristen begannen, auf dem Festival und in den umliegenden Kibbuzim wahllos Menschen zu ermorden und zu entführen. Raphael und ihre Freunde versuchten, erst mit dem Auto zu fliehen, versteckten sich dann aber doch in einem Bunker am Straßenrand, der eigentlich gegen Luftangriffe schützen soll. Dort fanden die Hamas-Terroristen sie. Sie feuerten in die Menge, warfen Granaten in den Bunker. Immer wieder. Raphael überlebte verletzt als eine der wenigen, unter den Leichen versteckt. Noch immer habe sie Schrapnelle in ihrem Körper, erzählt sie in Interviews. Womöglich sollte mit ihrer Teilnahme am ESC den Kritikern die Angriffsfläche genommen werden. Denn jede Kritik an Israel müsste sich dann auch mit dem Angriff der Hamas auseinandersetzen. [….]
(Nicolas Freund, SZ, 17.05.2025)
Aber abgesehen von Raphaels persönlichem Martyrium; auch wenn sie keinerlei Bezug zum Hamas-Massaker hätte: Es ist die Paradedefinition von Antisemitismus, einer Person, wegen ihres Jüdisch-Seins zu drohen und sie aufgrund ihrer zufälligen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu verurteilen. Hier verschwimmt alles: Judentum, Israel, Gaza, Netanyahu-Regierung, Ethnie, Religion.
Marcel Reich-Ranicki, 1920 im polnischen Włocławek geboren, hatte einen säkularen polnischen Vater (David Reich) und eine deutsche Mutter (Helene Auerbach). Er besuchte die deutsche Schule in Polen und zog 1929 mit seinen Eltern als kleines Kind nach Berlin. 1938 deportierte man ihn nach Polen, ab 1958 lebte er wieder dauerhaft in Deutschland. Eine Verbindung zu Israel hatte er gar nicht. Reich-Ranicki gehörte aber auch nicht zur jüdischen Religion, weil er immer Atheist war.
„Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott. […] Ich kenne keinen. Hab ihn nie gekannt. Nie in meinen Leben!“
(MRR)
Kein Israeli, kein Angehöriger des Judentums und dennoch zweifellos Jude, obwohl es gar keine „menschlichen Rassen“ gibt. Er gehörte nicht zu der Ethnie, nicht zu der Religion und nicht zu dem Nationalstaat (Israel), empfand sich aber eindeutig als Jude. Die Beispiele Marcel und Teofila Reich-Ranicki zeigen die Perfidie des Antisemitismus: Aufgrund nicht existenter, ausgedachter Zugehörigkeiten, wurden ihre gesamten Familien, ihre Eltern, alle Geschwister, alle Verwandte ermordet.
Yuval Raphael ist genauso wenig für den Gazakrieg und die Netanyahu-Regierung verantwortlich, wie Annalena Baerbock für Adolf Hitler oder ich für Donald Trump.
Menschen, die ihre
außerordentlich berechtigte Kritik an Bibis inzwischen offenkundig genozidalen
Krieg ausdrücken, indem sie einzelne Israelis und/oder Juden in Berlin, Malmö
oder Basel angreifen, gehört meine ganze Verachtung.
Das ist Antisemitismus! Und es ist ebenfalls antisemitisch zu behaupten, man
dürfe Israel nicht kritisieren, weil es die klassischen Stereotype aus der
Nazizeit bedient: Es gäbe mächtige internationale jüdische Seilschaften, die so
etwas verböten. (…)
Der weltberühmte Dirigent und Pianist Lahav Shani (*1989 in Jaffa), designierter Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, wurde im September wegen seines Passes vom Festival van Vlaanderen ausgeladen.
Der Stiftungsvorstand der Berliner Philharmoniker hat RECHT; genau das geht eben nicht, daß man einen Menschen aufgrund seiner zufälligen Zugehörigkeit zu einer ethnischen, sexuellen oder religiösen Gruppe bestraft.
Auch der Pianist Igor Levit hat die Ausladung scharf kritisiert. Im Interview mit den tagesthemen sagte er, er sei "wütend und erschüttert". Die Ausladung Shanis bezeichnete er als kollektive Bestrafung für das gesamte Orchester.
Ein Auftrittsverbot, weil Shani ein Jude ist, kann man niemals rechtfertigen!
Ich meine, man sollte überhaupt niemanden, wegen seines Passes von Sport- oder Kulturveranstaltungen ausschließen, sondern sich auf individuelles Fehlverhalten beschränken.
Während die Verbannung eines individuellen Künstlers/Wissenschaftlers/Sportlers tabu sein sollte, könnte man argumentieren, daß ein Fußballer als Mannschaftssportler des Nationalteams oder ein Sänger, der ausdrücklich beim ESC für sein Land antritt, immerhin bewußt entscheidet, sich als Nationalrepräsentant zur Verfügung zu stellen. Es gibt also eine gewisse Korrelation zu seiner Nationalität. Aber wieso tritt ein Türke, ein Russe, ein Iraner, ein Israeli, ein Amerikaner für sein Land bei den Weltmeisterschaften an? Weil er Erdo, Putin, Chamenei, Bibi, Trump ganz toll findet und den Regierungschef international gut aussehen lassen möchte?
Könnte es nicht auch das diametrale Gegenteil sein? Vielleicht will jemand gerade ein anderes, liberales Israel oder Russland repräsentieren.
Pauschale Urteile verbieten sich also. Daher tendiere ich nach wie vor eher dazu, jeden überall mitmachen zu lassen. Es sei denn, er/sie/es brüstet sich ausdrücklich mit dem Vorgehen seiner Regierung in Gaza, in der Ukraine oder dem homophoben Kurs der Mullahs.
Boykotte zu kritisieren, indem man selbst boykottiert, dürfte die dümmste Methode sein. Klar, daß sie aus dem Fritzekanzleramt kommt:
[….] Kulturstaatsminister Wolfram Weimer macht eine deutsche Teilnahme am kommenden Eurovision Song Contest 2026 von der Teilnahme Israels abhängig. "Sollte die EBU entscheiden, dass Israel nicht teilnehmen darf, sollte Deutschland auf eine Teilnahme verzichten", forderte Weimer. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) ist Organisatorin des ESC und entscheidet auf einer Generalversammlung an diesem Donnerstag und Freitag über einen möglichen Ausschluss Israels.
Er lobte den ESC als ein musikalisches Großereignis der europäischen Vielfalt und des kulturellen Austauschs. "Deshalb ist es bestürzend zu sehen, dass Künstlerinnen und Künstler in Europa ausgegrenzt werden, alleine weil sie Israelis, weil sie Juden sind", sagte der Kulturstaatsminister. "Dies widerspricht den europäischen Grundwerten und der Freiheit der Kunst zutiefst." [….] Auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte sich in der Vergangenheit für einen deutschen ESC-Verzicht ausgesprochen, sollte Israel nicht teilnehmen. [….]
Putin und Netanjahu werden beide mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Putin ist deswegen Paria und würde verhaftet, wenn er irgendwo in Westeuropa landete.
Für Bibi will der Sauerländer Simpel aber nicht dieselben Regeln anwenden. Den hofiert er und will ihn nicht, wie Putin, verhaften lassen.
Dasselbe Recht bei verschiedenen Personen mal anzuwenden und mal zu ignorieren, geht natürlich nicht. Damit macht Fritze Deutschland lächerlich.
Russische Sänger und Sängerinnen wurden seit 2022 wegen des Ukrainekrieges vom ESC ausgeschlossen.
Die dürfen nicht mehr mitsingen, weil sie zufällig Russen sind.
Wären Weimer und Merz auch nur halbwegs glaubwürdig, würden sie gleiches Recht für alle fordern: Entweder Russen und Israelis nehmen am ESC teil, oder keiner von beiden.