Die Einschaltquoten der Wahlsendungen sacken ab und in den sozialen Medien herrscht der allgemeine Tenor, man habe nun wirklich genug vom Wahlkampf.
Stolz erklärt der Urnenpöbel, sich gar nicht mehr mit dem Thema zu beschäftigen.
Wieder einmal sehe ich die Sache radikal anders als die
übergroße Mehrheit. Ich finde es großartig.
In 72 Jahren Bundesrepublik wurde bei einer Bundestagswahl nur ein einziges mal
eine Bundesregierung vollständig abgewählt. Das war 1998, als CDU, CSU und FDP
den Karren so tief in den Sumpf gefahren hatten, daß selbst die konservativen
Deutschen nach 16 Jahren nicht noch mal Helmut Kohl wählen wollten. Zudem stand
mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer eine außerordentlich attraktive
Alternative zur Wahl; beide waren begnadete Wahlkämpfer.
Bei allen anderen Bundestagswahlen trauten sich die teutonischen Hasenfüße keinen vollständigen Wechsel zu wählen, holten immer mindestens eine Partei aus der vorherigen Regierungskoalition in die neue Regierung. Kontinuität ist ein deutscher Fetisch.
Kontinuität muss nicht schlecht sein, wenn man zufällig einen guten Amtsinhaber (Schmidt, Schröder) hat, der sich schon ein paar Jahre bewährt hat.
Wenn es aber schon 14 oder 16 Jahren waren (Adenauer, Kohl, Merkel), die Kanzlerpartei programmatisch vollständig so ausgewrungen ist, daß noch nicht mal der Kanzlerkandidat auf Nachfrage irgendwelche Punkte nennen kann, weswegen man ihn wählen sollte, darf man nicht auf Kontinuität setzen.
Ich habe keine eindeutige Meinung zum Thema Amtszeitbegrenzung. Sie wäre besonders in autokratischen Staaten wichtig, Belarus oder Iran. In echten Demokratien kann es auch zu Katastrophen führen, wenn ein guter, agiler, junger Präsident wie Bill Clinton durch GWB ersetzt wird. Eine dritte Obama-Amtszeit wäre unter Garantie besser als Trump gewesen.
Angela Merkel ließ nicht etwa in den letzten Amtsjahren nach, sondern zeigte von Beginn an nie die Verve und den Einsatz, die Probleme, die sie teilweise immerhin benannte, dann auch anzupacken.
Klimakanzlerin nannte sie sich 2007, ließ dann das Thema sang- und klanglos fallen. Genauso war es beim Thema Beziehungen zu Russland, EU-Reform, Bildungssystem, gemeinsame Sicherheitspolitik, Asylsystem, Türkei und Afghanistan. Sie sprach das alles mal an, sah aber bald große Probleme und Widerstände auf sich zukommen, also ließ sie die Themen wieder fallen, duckte sich weg.
Wäre sie nach zwei Amtsjahren zum Verzicht gezwungen worden, hätten wir möglicherweise 2013 Peer Steinbrück als Kanzler bekommen und der ist keiner, der Konfrontationen ausweicht oder Probleme liegen lässt.
Immerhin, das muss ich Merkel lassen, ist sie nicht ganz so egoman-vertunnelblickt, wie Helmut Kohl, der sich nach 16 Jahren als Bundeskanzler für so großartig hielt, daß er nicht zu ersetzen wäre. Das stellte sich für die SPD als Glück heraus; Schröder hatte 1998 gegen Kohl bessere Chancen als er gegen Schäuble gehabt hätte.
Merkel ist nun nach 72 Jahren Bundesrepublik die erste Kanzlerin, die unbesiegt aus dem Amt geht. Einen Wahlkampf ohne einen kandidierenden Amtsinhaber gab es zuletzt 1949. Das beschert uns einen sehr neuen und spannenden Wahlkampf, der aufgrund des volatileren Wähler-Verhaltens auch noch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Regierungskoalition ergeben wird, die es ebenfalls in 72 Jahren noch nie gab.
Es gibt weitere Kuriositäten.
Ausgerechnet der legendär geschlossene Kanzlerwahlverein CDU/CSU, dessen Mitglieder obrigkeitshöriger als die aller anderen Parteien sind, hadert mit dem eigenen Kandidaten.
Vorgestern besuchte Armin Laschet das Bundesland Hamburg, in dem die CDU zuletzt 11% erreichte und dessen Landesvorsitzender Ploß nicht nur ein strammer Rechtsaußen ist, sondern der beim Kampf um den Parteivorsitz intensiv für Merz und beim Kampf um die Kanzlerkandidatur intensiv für Söder warb. Ploß kann Laschet nicht ausstehen und umgekehrt scheint es ähnlich zu sein. Der Hamburger CDU ist der eigene Kanzlerkandidat so peinlich, daß er nirgends plakatiert wird.
[…..] Sie könnten jetzt zusammenstehen und nach all dem Ärger noch mal ihre Kräfte mobilisieren. Die Machtkämpfe ruhen lassen und nach vorne schauen auf die Bundestagswahl. Schließlich sind es nur noch wenige Tage bis dahin. Doch was macht die CDU? Übt sich lieber weiter in Selbstzerfleischung. Auf offener Bühne leben die Wahlkampf-Protagonisten ihre Eitelkeiten und Befindlichkeiten aus – subtil vielleicht und doch deutlich erkennbar für den Beobachter. Da behandelt Kanzlerkandidat Armin Laschet Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß schon mal wie Luft – der wiederum schafft es nicht einmal für wenige Minuten, glaubhaft Euphorie für seinen Frontmann vorzugaukeln. Die CDU ist zum Wahlkampfende völlig am Ende, das ist auch beim Laschet-Besuch in Hamburg deutlich geworden. Angela Merkel hinterlässt nach ihren 16 Jahren Kanzlerschaft eine Truppe ohne Kompass und ohne Teamgeist. Die Union ist im Wahlkampf 2021 intern endgültig zum Haifischbecken geworden. Und obwohl es neun Tage vor der Wahl so knapp ist, ahnt man: Das wird nix mehr für Armin Laschet und die Christdemokraten. Denn selbst in den eigenen Reihen haben ihn einige doch längst aufgegeben. Kaum ein Wort zu Christoph Ploß. Keine warme Begrüßung, kein Wort zur Politik des jungen Parteikollegen von der Elbe. Als Armin Laschet um kurz vor elf die Bühne betritt, würdigt er den Hamburger CDU-Chef keines Blickes. Wer sich die Misere der Christdemokraten im Rennen ums Kanzleramt gut eine Woche vor der Wahl noch einmal vor Augen führen will, der kann das an diesem Vormittag hier tun – in einem Hotel am Tierpark Hagenbeck. […..]
(Mopo, 16.09.2021)
Verglichen mit den CDU-Chaoten wirkten die Grünen Anfang des Jahres wie ein Hort des Disziplin, wurden in Umfragen so stark, daß Annalena Baerbock als Kanzlerin gehandelt wurde. Dann aber kam eine für den Zuschauer faszinierende Pannenserie, die alle demoskopischen Zahlen auf dem Kopf stellte. Die Spiegel-Titelgeschichte von heute:
[…..] So verpatzten die Grünen ihre Chance aufs Kanzleramt:
Die fatalen Fehler der Annalena Baerbock
Platz eins war möglich, dann kam der Absturz. Die Grünen haben mit ihrem schlampigen Wahlkampf den Sieg verspielt – und noch viel mehr. [….]
(DER SPIEGEL 38/2021, 17.09.2021)
Verkehrte Welt, nun ist es ausgerechnet die notorisch zerstrittene SPD, die geschlossen und diszipliniert hinter ihrem Kandidaten steht. Die vermeidlich so linken Kühnert, Esken und Nowabo werfen sich jeden Tag ins Zeug für Olaf Scholz. Es ist ein faszinierender Wahlkampf, der durchaus die Möglichkeit bietet, die CDUCSU in die Opposition zu schieben. Der größte Unsicherheitsfaktor sind die Grünen, die sich auch heute wieder heftig von der Linkspartei absetzen und demonstrativ mit der FDP kuscheln. Daher hoffe ich auf ein möglichst schwaches Grünen- und ein möglichst starkes SPD-Ergebnis. Umso schwerer wird es für Baerbock, den Wählerwillen als ein Votum für Laschet umzuinterpretieren.
Flöge die Union aus der Regierung, wird aber nicht nur spannend, wer die neuen Minister sein werden, sondern auch, wer der neue starke Mann in der CDU wird. Armin Laschet wird bei einem sehr schwachen Ergebnis, welches die CDU das Kanzleramt kostet, sicherlich den Sündenbock spielen müssen und mit Asche auf seinem Haupt in Rente gehen müssen. Schon jetzt wetzen sie in der CDU die Messer. Wer bekommt Brinkhaus‘ Job?
[…..] Denn ohne Kanzleramt und Ministersessel würde auf einen Schlag der Fraktionsvorsitz zum einzigen Posten von Wert. Offiziell ist das Thema tabu. Hinter vorgehaltener Hand nicht. Zwischen erster Prognose am Sonntag und dem Dienstagabend liegen nur 48 Stunden. Wer eine Niederlage für sich nutzen will, plant besser für den Fall der Fälle vor. [….]
(Robert Birnbaum, Tagesspiegel, 15.09.2021)
Und wer wird neuer Parteivorsitzender?
Merz, Röttgen und Spahn wollen gern, dürften aber alle an internen Widerständen scheitern.