Montag, 5. August 2019

Angebot und Nachfrage


Das sind ja auch nur Ausländer, die da arbeiten“ beklagte sich eine Dame auf der Eigentümerversammlung über den Hausmeisterservice.
Eigentümerversammlungen sind ja mein neues Hobby; das macht einen Riesenspaß da hinzugehen und den alten Herren zu vertreten, um den ich mich kümmere.
Ich blickte die Hanseatin im Twinset strafend an und sogleich versicherte sie der Runde nun wirklich gar nichts gegen Ausländer zu haben, aber sie beobachte die immer ganz genau beim Treppenhausputzen und nachdem sie unter der Fußmatte gefeudelt hätten, legten sie diese oft ganz schief zurück.
Das müsse sie denen immer erklären, aber die verstünden ja meist gar kein Deutsch.
Stoisch-verzweifelte Blicke des Versammlungsleiters von der Hausverwalterfirma.
Nein, es gibt keine deutschen Treppenhausreinigungskräfte mehr. Nahezu alle Wohnungseigentümergemeinschaften möchten deutsche Putzkräfte/Hausmeister/Gärtner/Winterdienstler haben, aber die gäbe es nun mal nicht.
Es ist in Hamburg ohnehin fast unmöglich noch einen Reinigungsdienst für Treppenhäuser zu bekommen; er rate uns daher, es sich besser nicht mit diesen zu verscherzen, sonst müssten wir am Ende selbst putzen.

Die Wohnungseigentümer, die sich über die ausländischen Treppen-Putzkräfte und deren aufgrund des Zeitdrucks mangelhafte Ausführung echauffieren, sind übrigens Dieselben, die in den Jahren zuvor ständig Anträge einbrachten die bisherigen Hausmeisterfirma zu entlassen, weil die „ja viel zu teuer“ wären. Ob das nicht auch billiger ginge, nur mal eben das Treppenhaus durchzuwischen und die Briefkästen abzuseifen.

Gegenfrage: Würden SIE für neun Euro die Stunde Treppenhäuser putzen und sich dann auch noch von jedem einzelnen Bewohner anmeckern lassen, wenn das nicht schnell oder nicht gründlich genug ist?

Zum Abschied des alten Herren habe ich mich noch einmal länger mit der sibirischen Pflegerin des ambulanten Dienstes unterhalten.
Natasja hat Nerven aus Stahl, ist immer geduldig und freundlich.
Sie arbeitet bei der evangelischen Kirche; in dem Fall der Diakonie.
Den Job macht sie seit 1995, ist ausgebildete Krankenschwester und Altenpflegerin. Pro Tag hat sie 20 Patienten, für die sie jeden Tag – egal ob Sonntag oder Feiertag – kreuz und quer durch den alptraumhaften Hamburger Innenstadtverkehr rasen muss.
Einige Patienten sind schwerstpflegebedürftig, müssen im Bett gewaschen und mit Spritzen versorgt werden. Der Herr nach uns auf ihrer Tour ist ein ehemaliger Seniorpartner einer Rechtsanwaltskanzlei. Steinreich, lebt in einer großen Villa, sagt weder Bitte, noch Danke, begrüßt sie nicht. Sie muss ihm die Beine bandagieren und Thrombosespritzen geben.
Sofort beginnen kann sie aber nicht, weil er sie gern anherrscht „Du siehst doch, daß ich gerade ein Glas Rotwein trinke, in 15 Minuten habe ich Zeit!“
1.400,- bringt Natasja im Monat nach Hause.
Ihr weißrussischer Mann ist Kindergärtner in Norderstedt (nördlich von Hamburg) in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Kinder. 15 von ihnen betreut er tagsüber allein und verdient ungefähr das Gleiche wie seine Frau im Monat.
Familienleben gibt es aufgrund des Schichtdienstes wenig, die beiden Kinder sind 9 und 11 Jahre alt. Es erfordert viel Koordination und Planung bei zwei berufstätigen Eltern die Kinder aufzuziehen.
Die Vier wohnen in Reinbek, östlich von Hamburg. Natürlich nicht in Hamburg, weil es mit normalen Gehältern unmöglich ist zentral eine Wohnung für vier Personen zu finanzieren.
Abends sitzen sie zusammen und studieren Sonderangebote, fahren gezielt Discounter ab, um immer das Billigste zu erwischen.

Auch in der Seniorenresidenz im äußersten Westen Hamburgs, in der der von mir betreute Herr nun wohnt, sind die Pfleger in der Regel nicht von weißer Hautfarbe.
Ihr Monatsbruttogehalt beträgt ungefähr ein Viertel dessen, was der Grundpreis eines Zimmers in der Einrichtung kostet.

Ist es nicht außerordentlich eigenartig, daß Pflegekräfte knapp sind?
Wieso wollen sich nicht deutsche, studierte junge Menschen in so einen Beruf begeben, bei dem man ein Leben lang Knochenarbeit unter höchster psychischer Anspannung leistet und dann grandioserweise sogar über 1.000,- im Monat verdient?
Sehr eigenartig.

Nastasja sagte, natürlich würde sie gern mehr verdienen, aber wichtiger wäre ihr die Anerkennung. Die Deutschen wollten eben nicht Altenpfleger, Kindergärtner oder Krankenschwester werden, weil Menschen in diesen Berufen keine Achtung erfahren.
Jeder wisse, das wäre ein Beruf, den niemand machen wolle und gucke sie auch dementsprechend mitleidig an.
Ein Loser-Job.
Ein Beruf, bei dem man wie Treppenhausputzkräfte auch noch mies von den Kunden behandelt wird.
Die neoliberale Gesellschaft Deutschlands funktioniert so. Es gibt eine neue Paria-Klasse von Billigarbeitern für die ein besonderes Arbeitsethos Voraussetzung ist.
Der durchschnittliche deutsche Langzeitarbeitslose steht dafür nicht auf, weil das Leben auf Hartz IV tatsächlich bequemer ist.
Dabei sind gerade Berufe im Pflegebereich eben keine unwichtigen Hiwi-Jobs, für die man unwillige Nörgler verdonnern kann.
Das sind im Gegenteil, sehr ehrenhafte, wichtige Berufe, die viel zu wenig Anerkennung erfahren.

[…..] Die Pflege, sagt Meyer, [renommierte Pflegewissenschaftlerin und Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für das Gesundheitswesen] mache es sich zu einfach. Über Jahre habe sich eine Jammerkultur aufgebaut. Wir können nicht anders, wir sind so unterbesetzt. "Aber das stimmt nicht immer", sagt Gabriele Meyer. Und erzählt von dem alten Mann aus Sachsen-Anhalt, der vor Kurzem in der Badewanne starb. Er wurde verbrüht, weil die beiden Pfleger rausgegangen sind und nicht merkten, dass kochend heißes Wasser in die Wanne lief, in die sie ihn gesetzt hatten. Ob sie den Hebel aus Versehen in die falsche Richtung gedreht haben oder der Mann selbst daran kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Er war dement, konnte sich nicht wehren, nicht rufen. "Einen alten Menschen beim Baden allein zu lassen, ist gegen jede pflegerische Vorschrift, das hat nichts mit Pflegenotstand zu tun", sagt Meyer. "Wenn ich nicht sicher ein Vollbad anbieten kann, dann mache ich es auch nicht."
Offensichtliche Fehler, Unterlassungen und schlechte Pflege können doch nicht mit Personalmangel erklärt werden, sagt Meyer. "Das würde ich als Angehöriger dieser Profession nicht auf mir sitzen lassen." […..]

Nastasja ist eine sehr ehrenwerte Person, aber man möge mir verzeihen, wenn ich zwar auch ihren Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung unterstütze, aber eben auch verlange, daß solche großartigen Menschen verdammt noch mal erheblich besser bezahlt werden.
Leider wollen die privaten Träger der Pflegeheime das gar nicht. Die meisten gehören zu Caritas und Diakonie und bei denen werden Mitarbeiter generell als Menschen zweiter Klasse behandelt. Sie dürfen weder streiken, noch Gewerkschaften gründen, noch einen Flächentarifvertrag bekommen und schon gar nicht dürfen sie schwul oder lesbisch sein.
Das Kirchenarbeitsrecht, das so vehement von all den politischen Frömmlern – AKK, Merkel, Brinkhaus, Kauder, Spahn, Nahles, Göring-Kirchentag, Käßmann – verteidigt wird, macht es möglich.

[….] Die Koalition der Unwilligen
 [….]  Das Ziel sind höhere Löhne in der Pflege, um die Branche attraktiver zu machen und so den Fachkräftemangel zu lindern. Das Problem ist, dass das Arbeitgeberlager letztlich keines ist. Die Causa Tarifvertrag scheidet es vielmehr in drei Gruppen mit widerstreitenden Interessen: die Unwilligen, die Willigen und die Kirchen. [….] Zu den Unwilligen gehört nicht nur Greiners AGVP, sondern auch der BPA-Arbeitgeberverband mit seinem Präsidenten Rainer Brüderle, dem ehemaligen FDP-Bundeswirtschaftsminister. [….] Zunächst aber muss noch final geklärt werden, wer überhaupt mit im Boot ist. Derzeit sind von den größeren Trägern nur die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Arbeiter-Samariter-Bund, die Diakonischen Dienstgeber in Niedersachsen, der Paritätische Gesamtverband und die Volkssolidarität Mitglied in der neuen BVAP, die mit Verdi verhandeln wird. Nicht dabei sind die beiden Arbeitgeberverbände der privaten Pflegeunternehmen, aber auch das Deutsche Rote Kreuz ist abgesprungen. "Unerklärlich", heißt es bei Verdi dazu, "bestürzend", sagt AWO-Geschäftsführer Gero Kettler. [….]
Eine wichtige Rolle werden am Ende die kirchlichen Träger spielen, bei denen fast ein Drittel der rund 765 000 Pflegebeschäftigten arbeitet. [….]  Diakonie und Caritas schließen in der Regel keine Tarifverträge ab und sind auch der neuen BVAP nicht beigetreten; für sie gilt das kirchliche Arbeitsrecht, der "dritte Weg". [….]