Als
hätte Gott mein Plädoyer wider die heute gültige allgemeine Demokratie
gelesen und noch mal ein perfektes Beispiel für das Nichtfunktionieren eines
Wahlprozesses geben wollen.
Mehr Evet-Stimmen in der Türkei. Hayir liegt hinten, wird wohl hinten
bleiben.
Selbstverständlich
kann ich nicht sagen, wie seriös ausgezählt wurde.
Man muß
kein Verschwörungstheoretiker sein, um Verfälschungen des Ergebnisses zu
mutmaßen.
Recep
Tayyip Erdoğan hielt sich bis zum Schluss nicht an die Regeln, wie sein
verbotener Wahlkampf bei der heutigen Stimmabgabe zeigt.
[….] Erdogan
erklärte, rund 25 Millionen Türken hätten bei dem Referendum mit "Ja"
gestimmt, Damit lägen die Befürworter um 1,3 Millionen Stimmen vor den
"Nein"-Sagern. Nun werde das Land die wichtigste Reform in seiner
Geschichte angehen. Jeder sollte die Entscheidung der türkischen Nation
respektieren, sagt er weiter. Das gelte vor allem für die türkischen
Verbündeten.
Zuvor war bereits
Ministerpräsident Binali Yildirim vor Unterstützer des Ja-Lagers in Ankara
getreten. "Das Präsidialsystem ist nach nicht-offiziellen Ergebnissen mit
einem Ja-Votum bestätigt worden", sagte er. Staatsmedien berichteten, nach
Auszählung von 99 Prozent der Stimmen liege das Ja-Lager bei 51,3 Prozent. [….]
Für eine
theoretische Beurteilung des Wahlprozesses ist das Ergebnis aber irrelevant.
Wäre es
51:49 gegen Erdoğan ausgegangen, hätte das zwar erhebliche politische
Konsequenzen gehabt, aber es hieße dennoch, daß rund die Hälfte der Bürger eine
Entscheidung trafen, die man im Besitz der Fakten und mit Vernunft nicht träfe.
In den
USA bekam Hillary Clinton am 08.11.2016 bekanntlich 48%, während Konkurrent
Blöd mit drei Millionen Stimmen weniger bei 46% landete.
Das
anachronistische Wahlsystem verzerrte das Ergebnis grotesk. Aber kenntnisreiche
und rationale Wähler hätten nicht so entschieden, daß Trump überhaupt die
Vorwahlen gewonnen hätte.
Nun
haben also die Türken demokratisch die Demokratie überwunden.
Wir
müssen also die Demokratie (nämlich
unsere derzeitigen Abstimmungsverfahren) überwinden, um nicht irgendwann die
Demokratie ganz zu überwinden – und dann in einer Autokratie zu landen.
Auf dem
Weg ist die Türkei jetzt zweifellos.
Unterdrückung
der Opposition, Verfolgung von Intellektuellen, Verhaftungswellen,
Gleichschaltung der Medien.
Mit der
neuen Verfassung wird die Gewaltenteilung auf weite Strecken überwunden.
Der
Präsident wird gleichzeitig Regierungschef, kann Gesetze erlassen, das
Parlament auflösen und Richter bestimmen.
Ich sage
das ganz ohne Häme und halte das in keiner Weise für ein spezifisch türkisches
Phänomen.
Auch in
Russland, sowie den EU-Staaten Ungarn und Polen wird gerade die Demokratie
demontiert. Sogar die USA zeigt Anzeichen für die Errichtung einer
Kleptokratie, die einige Aspekte der Gewaltenteilung (unabhängige Justiz)
vernachlässigt und Grundsätze wie Transparenz, Pressefreiheit und
Minderheitenschutz zunehmend ignoriert.
Trump
kann das alles machen, weil er durch die bisher geltenden Abstimmungsverfahren
in der Lage war/ist insbesondere durch soziale Medien die Wähler so zu manipulieren,
daß er gewählt wurde.
Selbstverständlich
wirkt es sich auf das Urteilsvermögen wählender Amerikaner aus, wenn sie
allgemein anerkannte Medien und Fakten nicht mehr registrieren, sondern
ausschließlich in einer Welt aus FOX News, Trump-Tweets und Breitbart leben.
Wer rund
um die Uhr hört, daß Hillary Clinton das pure Böse ist, daß sie Kinder töten
läßt und als islamische Kommunistin Amerika zerstören will, wählt sie nicht.
Ein
idealer Wähler hinterfragt den Wahrheitsgehalt aller seiner Informationen,
checkt gegen, achtet auf Originalquellen und liest keineswegs nur das, was ihm
gefällt, sondern immer auch die anderen Meinungen dazu.
Dieser Idealwähler
ist aber in der Minderheit und befindet sich Dank Facebook und Twitter sogar in
einer schwindenden Minderheit.
Zudem
sind Wähler als fühlende Menschen generell Stimmungen ausgesetzt.
Wer
hätte kein Verständnis dafür, daß Türken, die über Generationen stiefmütterlich in Deutschland behandelt werden,
die Undankbarkeit und Ungerechtigkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft
erleben, die sogar zunehmend als Angriffsobjekt islamfeindlicher rechter Populisten
missbraucht werden, daß diese Türken geschmeichelt sind von einem türkischen
Präsidenten, der sie ernst nimmt, auf sie zugeht, sie für wichtig erklärt.
Ich halte
es dennoch für objektiv falsch, daß so viele Türken in Deutschland ein „Evet“
abgaben, aber ich bin nicht völlig verständnislos.
Menschen
müssen nicht böse sein, um schlechte Entscheidungen zu treffen. Sie müssen
dafür noch nicht mal dumm sein.
Eine
miese Entscheidungsgrundlage reicht durchaus.
Das kann
man unter anderen auch im neuen Couchsurfing-Buch über Russen lernen.
(aus Stephan Orth „Couchsurfing
Russland“, s.131)
Und die
Türken?
Die haben jetzt den Salat.
Die haben jetzt den Salat.
[….]
Warum wurde von regierungsnahen
türkischen Zeitungen frühzeitig ein Sieg des Ja-Lagers gemeldet, obwohl noch
längst nicht alle Stimmen ausgezählt waren? Und obwohl das Ergebnis so knapp
ist? Wieso lässt die Wahlkommission Stimmzettel gelten, denen der erforderliche
Stempel fehlt? Gab es also Wahlbetrug?
Das Referendum in der
Türkei über das umstrittene Präsidialsystem zeigt, wie gespalten das Land ist.
Und wie immer glaubt Recep Tayyip Erdogan sich im Recht, er sieht sich trotz
aller Bedenken am Ziel: Nach seiner Ansicht hat er die Abstimmung gewonnen.
Zwar stellen die beiden größten Oppositionsparteien, die CHP und die HDP, das
Ergebnis in Frage, verlangen eine Neuauszählung und wollen die unzulässigen
Stimmzettel nicht gelten lassen. Doch Erdogan interessiert das nicht. [….]