Gebildete Kolumnisten, die gut schreiben können, müssen nicht unbedingt meine Meinung vertreten, damit ich sie mag.
Gleichwohl schwingen meine Lieblinge tendenziell natürlich auf meiner Wellenlänge.
Es gab immer auch meine Stars, zu denen ich mich wie ein echter Fan-Boy verhielt und verhalte. Von ihnen lese, beziehungsweise sehe ich alles, was sie von sich geben; egal um welches Thema es geht. Beispiele sind Helmut Schmidt, Gräfin Dönhoff, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Egon Bahr, teilweise Wolf Biermann (1980-2000), Ingrid Matthäus-Maier, Michael Schmidt-Salomon, Klaus Bednarz, Volker Panzer, Marcel Reich-Ranicki, Marc Pitzke, Freimut Duve, Rudolf Augstein, Walter Jens, Kurt Kister, Peter Glotz.
Im aktuellen SPIEGEL wurde ein Interview mit Jan Philipp Reemtsma geführt. Er gehört auch in diese Liga der Denker, die ich aufrichtig bewundere, so daß ich ganz selbstverständlich zuerst die entsprechende Seite des Hefts aufschlage.
Und er enttäuscht auch diesmal nicht.
[…..] SPIEGEL: Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober sehen wir in Deutschland erneut einen offensichtlichen Antisemitismus. Wie erklären Sie sich das?
Reemtsma: Ich mag das Gerede vom »Erklären« nicht. Es suggeriert, man könne irgendetwas hinter den Kulissen finden und dann sagen: »Ach ja, deshalb«. Man muss einfach sehen, dass der Antisemitismus die erfolgreichste Ideologie oder Obsession oder meinethalben auch Geisteskrankheit ist, die es in Europa gegeben hat und in die Welt gekommen ist. Er ist Folge der Karriere des Christentums, hat alle Veränderungen überstanden und ist auch dort erfolgreich geworden, wo die alten christlichen Obsessionen keine Rolle spielen.
SPIEGEL: Bleibt dennoch die Frage: Warum ist das so?
Reemtsma: Nicht warum, sondern: Was ist der Fall? Wer ein Antisemit ist, kann sich als Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft fühlen, die ein Ressentiment pflegt. Ein Antisemit fühlt sich nicht als ein »Ewiggestriger«, wie das dumme Wort heißt, sondern wie ein moderner Mensch, der etwas begriffen hat, was viele andere noch nicht begriffen haben. Und das genießt der Antisemit.
SPIEGEL: Ein Ressentiment ist eher ein Gefühl als eine Sache des Verstands.
Reemtsma: Ja, Sätze, die wie Argumente klingen, sind oft Ausdrucksformen von Affekten. Und man kann den Menschen Gefühle nicht ausreden. Man kann Menschen Verliebtheiten nicht ausreden und auch nicht ihren Hass. Man kann so etwas wie den Antisemitismus nur bekämpfen, ächten, verächtlich machen, Strafgesetze anwenden, wo das geht.
SPIEGEL: Bezogen auf den Nahostkonflikt gehen in der postkolonialen Bewegung zurzeit zwei Sätze um: »Free Palestine from German guilt«. Und: »From the river to the sea, Palestine will be free«. Was halten Sie davon?
Reemtsma: Gerade der zweite Satz macht auf plakative Weise klar, dass die Leute, die ihn aussprechen, Israel von der Landkarte tilgen möchte. Das ist so irrsinnig, so pathologisch und bösartig, dass ich – obwohl es hermeneutische Maxime sein sollte, in bösen Dingen alles für möglich zu halten – davon doch überrascht war. Und der erste Satz zeigt den Wunsch, der deutschen Vergangenheit dadurch ledig zu werden.
SPIEGEL: Antisemitismus und die sogenannte Israelkritik gehen oft einher, aber das, was gemeinhin Israelkritik genannt wird, ist nicht automatisch antisemitisch. Wie bewerten Sie Israels Angriffe auf den Gazastreifen?
Reemtsma: Was ist eigentlich »Israelkritik«? Sagt man, wenn man die Erdoğan-Regierung kritisiert, »Türkeikritik«? Thema Gaza: Ich halte wenig von solchen Meinungsäußerungen. Wir hören zu viel davon, jeder fühlt sich berufen, irgendwas zu »meinen« und zu »bewerten«. Ich könnte sagen: Der wichtigste Schritt zu einem Frieden im Nahen Osten wäre die Verhaftung der Hamas-Führung und die Bereitschaft Ägyptens, Saudi-Arabiens und Jordaniens gewesen, Truppen zur Unterstützung von Israels Verteidigungskrieg in Gaza zu stellen. Nicht falsch, aber illusorisch. Und wenn ich das sage, ist es völlig belanglos. […..]
(JP Reemtsma, SPIEGEL 23.03.2024, s. 104ff)
Einige meiner Lieblinge, Heribert Prantl zum Beispiel, fangen im fortgeschrittenen Alter an zu spinnen. Das ist natürlich schmerzhaft, wenn man jemanden vorher über so viele Jahre bewunderte.
Nur noch übertroffen von dem Schmerz, den man fühlt, wenn die Idole final abreisen. Ich empfinde es als geradezu unerträglich, wenn derartig viel Wissen in einem Kopf, wie es bei Bahr, Schmidt, Jens oder Dönhoff der Fall war, für immer verloren gegangen ist.
Diese Menschen fehlen mir immer noch jeden Tag. Ich kenne etwas ähnliches auch aus dem privaten Umfeld. Es gab sogar in meiner Familie, in der längst abgereisten Vorgängergeneration, zwei hochintelligente Personen, deren Abwesenheit ich immer noch kam ertragen kann, weil ich den Zustand, sie nichts mehr fragen zu können, nicht aushalte.
In der publizistischen Szene gibt es, im Gegensatz zu meiner Familie, kontinuierlich Nachwuchs. Mitglieder der schreibenden Zunft, die zwar nicht über genau das enzyklopädische Wissen eines Walter Jens verfügen, nicht den Witz eines Reich-Ranicki haben oder mit globalpolitischen Analysen wie Bahr brillieren.
Die ganz anders sind, denen gegenüber ich aber auch in die Fanboy-Rolle geschlüpft bin und alles lese, das sie schreiben, jede Fernsehsendung angucke, in der sie auftreten.
Wenn ich überlege, wenn ich aus der jüngeren Generation so Reemtsmaesk genial finde, daß ich seine Artikel immer als erstes lesen würde, fällt mir etwas Überraschendes auf: Es sind alles Frauen!
· Die Spiegel-Autorin Anja Rützel, 51, mag in dieser Aufzählung überraschen, weil ihre Themen (Hunde, Trash-TV, britisches Königshaus und TakeThat) mich alle nicht interessieren, aber sie kann so brillant schreiben, so geistreiche Neologismen erfinden, daß es mir immer ein Riesenvergnügen ist, ihre Texte zu lesen, egal worum es geht.
· Die Schriftstellerin Karen Duve, 62, Tochter des brillanten Freimut Duve, legte 2014 mit „Warum die Sache schiefgeht“ einen Essay vor, für den ich ihr ewig dankbar sein werde.
· Spiegel-Kolumnistin, Germanistin, Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Ouassil, 39, brilliert mit jedem Text.
· Sachbuchautorin, Wirtschafts- und Finanzexpertin, sowie taz-Autorin Ulrike Herrmann, 60, ist ein Gewinn in jeder Talkshow. Ich empfehle dingend, alle ihre Artikel und Bücher zu lesen. Eine Dame, die sich kontinuierlich politisch weiterentwickelt, seit sie vor 40 Jahre bei der CDU (sic!)* anfing.
· Die wortmächtige schottische Schriftstellerin und Brexit-Gegnerin A.L. Kennedy, 58, berichtet regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung aus ihrer Heimat. Sie erinnert mich immer wieder, trotz der abstoßenden Figuren Johnson, Truss oder Sunak daran, wieso ich die Briten liebe.
· Die Hamburger Philosophin Carolin Emcke, 56, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016, halte ich für eine der intelligentesten Denkerinnen der Gegenwart. Es gibt keine Kolumne von ihr, die ich nicht aufheben möchte und fleißig weiterempfehle.
· Die deutsch-amerikanische Politologin und Analystin Cathryn Clüver Ashbrook, 48, ist unter anderem Expertin für transatlantische Außen- und Handelspolitik und als solche ein großer Erkenntnisgewinn für jede politische Diskussion.
· Die Münchnerin Anja Reschke, 51, seit 23 Jahren Panorama-Moderatorin, seit 2015 Leiterin der NDR-Abteilung Innenpolitik, brilliert mit ihrem Tagesthemen-Kommentaren und insbesondere dem Reschke-Fernsehen, das schon im Titel eine Anspielung auf ihren Status als Hassfigur bei den Nazis macht.
Während großartige Frauen in der politischen und publizistischen Szene zu Dönhoffs und Hamm-Brüchers Zeiten Exoten waren, fiel mir bis heute gar nicht auf, daß die große Mehrheit meiner Polit/Schreiber-Lieblinge heute Frauen sind.
Immerhin ein Fortschritt.
*[….] Ich glaube, ich war damals 20, als ich in die CDU
eingetreten bin. Mit 25 bin ich wieder ausgetreten. Der Hintergrund war,
dass ein Freund von mir, mit dem ich bis heute befreundet bin, bereits in
der CDU gewesen ist und eine wirklich gute Umweltpolitik gemacht hat.
Das spielte sich damals alles noch in Hamburg ab. Aber als ich die CDU
in Hamburg näher kennengelernt habe, blieb natürlich die Erkenntnis
nicht aus, dass eben ein Mensch noch keine Partei ausmacht. Also bin
ich wieder ausgetreten und viel später bei den Grünen eingetreten. Aber
es ist natürlich so, dass ich auch bei den Grünen nicht immer mit allem
einverstanden bin. Inzwischen habe ich eben gelernt, dass es die
Wunschpartei schlechthin nicht gibt. […..]