Politik ist gar nicht so
abstrakt, wie man immer denkt.
Es ist gar nicht egal wer
in welchen Kammern die Mehrheiten stellt.
Ich verstehe ja den
Impuls, den viele 2009 hatten:
„Westerwelle ist Außenminister? Krass!
Ich guck‘ mir nie wieder die Tagesschau an!“
Allerdings wird die
Realität eben nicht besser, wenn man die Augen fest vor ihr verschließt. Die
Deutschen sind nicht wie die Isländer vor das Parlament gezogen und haben dort
so lange demonstriert, bis der Hotelier-affine Lobbyhörige aus dem Amt gejagt
war.
Der hysterische Depp („Ich
bin nicht als Tourist in kurzen Hopsen hier!“ Stampf‘ mit dem Fuß auf. „Was ich
sage, das zählt!“) war tatsächlich vier Jahre deutscher Chefdiplomat und hat
entsprechend seiner politischen Fähigkeiten, das Ansehen des Landes schwer
ramponiert.
Daß vier Jahre die gelbe
Pest konkrete pekuniäre Konsequenzen haben, zeigte ich gestern anhand meines Krankenversicherungsstatus‘.
300 Euro mehr im Monat knöpfen mir nun die Milliardenschweren
Versicherungskonzerne ab – weil Schwarzgelb die Weichen
dafür stellt.
Und das ist noch eins der
kleinsten Probleme, die ich mit dieser Regierung habe. Außenpolitisch, kirchenpolitisch,
gesundheitspolitisch, Atom-politisch und bildungspolitisch sieht es noch weit
schlimmer aus.
Heute sprach ich mit einer
Altenpflegerin im ambulanten Pflegedienst eines Hamburger Innenstadtteils. Sie
übernimmt ununterbrochen die Nachtschicht, weil sie ihre Töchter im Altern von
sechs und acht Jahren morgens in die Schule bringen muß. Am Ende des Monats
erhält sie für diese psychisch sehr fordernde und physisch auszehrende
Tätigkeit brutto 1290 Euro und bekommt davon 930 Euro ausgezahlt.
Ihre Wohnungsmiete beträgt 600 Euro. Abzüglich
Strom, Telefon, etc ist spätestens um
den 15., 16., 17. herum das Geld alle und noch so viel Monat übrig.
Sie hätte mehr Geld im
Monat, wenn sie gar nicht arbeiten würde und rackert sich nur deswegen ab, weil
sie eine soziale Verpflichtung spürt das zu tun was getan werden muß.
Aber solche
geringverdienenden Pflegerinnen sind einem Daniel Bahr und einer Angela Merkel
eben vollkommen egal, während sie den Großkonzernen zu Hause und den internationalen
Banken die vom Steuerzahler aufgebrachten Milliarden zuschieben.
Das ist abartig und
pervers.
Das soll aber auch sofort
von den Grünen und der SPD abgeschafft werden, wenn sie an die Macht kommen.
Die Frage, die sich jeder
Wähler stellen muß, lautet also:
Kann ich es verantworten
mich so zu verhalten, daß diese Lobbypolitik weitergetrieben wird, während
Millionen Deutsche darunter leiden?
Will man mitschuldig sein
an der Ausgrenzung von Kindern mit Homoeltern, von Wählern mit migrantischen
Wurzeln und geringverdienenden Leiharbeiterinnen?
Wer nicht wählt oder sein
Kreuz bei Piraten oder Linken macht, sagt letztendlich „Ja zu Merkel!“.
Da kürzlich jemand fragte,
weswegen ich noch Geld für die ZEIT“ ausgebe, dem sei jetzt erwidert, daß es neben der frömmelnden „Glauben und Zweifeln“-Rubrik
noch andere Autoren gibt.
Zum Beispiel die geniale
Carolin Emcke, die im ZEIT-Magazin von heute Auskunft darüber gibt, weswegen
sie wählt.
Diese Wahlen sind Wahlen. Die These von
der Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit der Parteien und ihrer Programme ist
so hanebüchener Unfug, dass der Verdacht aufkommen kann, die Wahlkampfmanager
der CDU hätten sie in Umlauf gebracht. Wer den Status quo erhalten will,
braucht nur zu behaupten, diese Wahlen machten keinen Unterschied oder,
schlimmer noch: Wählen oder Nichtwählen mache keinen Unterschied. Das ist nicht
nur sachlich falsch, sondern auch politisch obszön.
Warum die Wahlen einen Unterschied
machen? Wenn Sie mehr Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen wollen, dann
sollten Sie CDU wählen. Das gibt es als Forderung nur bei der CDU. Da ist sie
unverwechselbar.
Wenn Sie keinerlei Lobbykontrolle
wollen, kein Lobbyregister, keine Parteispenden-Deckelung, dann sollten Sie CDU
oder FDP wählen. Diese Fragen tauchen in deren Programmen nicht auf. Wenn Sie
keinen flächendeckenden Mindestlohn wollen, dann sollten Sie FDP wählen. Da ist
sie keineswegs austauschbar. Wenn Sie etwas wollen, das so tut, als sei es ein
flächendeckender Mindestlohn, aber nur für tarifvertragslose Branchen und
Regionen gilt, dann sollten Sie CDU wählen.
Wenn Sie wollen, dass Frauen eher
zufällig an Machtpositionen gelangen, wenn Sie grundsätzlich daran interessiert
sind, dass so wenig wie möglich soziale Ungerechtigkeiten, Schicksal oder
Krankheit oder Herkunft solidarisch aufgefangen und ausbalanciert werden, wenn
Sie Empathie grundsätzlich für eine individuelle oder gesellschaftliche
Pathologie halten, dann und nur dann sollten Sie FDP wählen. Darin ist sie
unverwechselbar.
Wenn Sie wollen, dass die
Unantastbarkeit der Würde nur für Sie selbst und niemals für andere gilt, wenn
Sie wollen, dass Heterosexuelle mehr Rechte haben als Homosexuelle, wenn Sie
eine Regierung wollen, die aus Überzeugung andere so lange diskriminiert, bis
sie vom Bundesverfassungsgericht daran gehindert wird, dann sollten Sie CDU
wählen.
Wenn Sie kein Problem damit haben,
Leopard-2-Panzer in Länder mit demokratisch fragwürdiger Legitimation zu
liefern, und auch keins damit, einige Jahre später einem Auslandseinsatz der
Bundeswehr in eben einem solchen Land zuzustimmen, weil sie die
Zivilbevölkerung dort nach der responsability to protect-Doktrin vor Ihren
eigenen Waffen schützen müssen, dann spielt es auch keine Rolle, ob Sie wählen
gehen oder nicht.
Für wen die Wahlen einen Unterschied
machen? Für alle diejenigen, die einen geliebten Menschen im Altenheim
unterbringen mussten und die miterleben, was die Ökonomisierung des
Gesundheitswesens bewirkt hat: wie dort schlecht bezahlte Leasingkräfte,
sogenannte "Springer", zusammenbrechen unter der Last, viel zu viele
demenzkranke, verunsicherte, einsame Patienten in zu eng getakteter Zeit zu
versorgen – und die sich wünschen, dass das Pflegepersonal besser ausgebildet
und honoriert wird; für alle diejenigen, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde
verdienen und sich abschuften für ein Auskommen – und die einen gesetzlichen
Mindestlohn erhoffen; für alle diejenigen, die die Pisa-Studie lesen konnten
und die wissen, dass eine Ganztagsschule nicht nur eine größere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie gewährleistet, sondern auch bessere schulische Ergebnisse
ihrer Kinder zeitigt – und die sich ein sozial gestaffeltes Kindergeld und
flächendeckende Ganztagsschulen wünschen; für alle diejenigen, die nach dem
NSU-Terror das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben; für alle
diejenigen, die wissen, dass der Prozess gegen Beate Zschäpe politisch und juristisch
wichtig, aber nicht ausreichend ist; für alle diejenigen, die Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit jeden Tag erleben, in den sichtbaren und unsichtbaren
Praktiken der Exklusion – und die sich nicht zuletzt wünschen, dass mehr
Migrantinnen und Migranten in den Staatsdienst aufgenommen werden; für alle
diejenigen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können, die aus dem Zentrum der
Städte verdrängt werden, an den topografischen und sozialen Rand – und die sich
wünschen, dass es eine Stadtentwicklungsstrategie gäbe, die bei
Mietpreisdeckelung bei Neuvermietung nur beginnt. Und dann schließlich für all
jene, für die die "Ich möchte lieber nicht"-Debatte überaus wohlfeil
daherkommt, weil sie gar nicht wählen dürfen: für alle Ausländerinnen und Ausländer
in Deutschland, die zwar hier arbeiten und leben, deren Kinder hier zur Schule
gehen, die im Fußballverein oder im Chor mitwirken, aber die nicht mitbestimmen
dürfen, wie ihre Kommunen und Städte verwaltet und regiert werden.
Wem sein eigenes Wahlrecht gleichgültig
ist, wem kein einziger Grund zum Wählen einfällt, der sollte mindestens dafür
stimmen, dass diejenigen, die gerne wählen würden, wählen dürfen. 18,9 Prozent
beträgt der Anteil der Migranten an der gesamten Bevölkerung, und nur 9 Prozent
von ihnen gehören zu den Wahlberechtigten. Wen die angeblich postdemokratische
Verfasstheit dieser Republik stört, der sollte mindestens das eklatanteste
Demokratie-Defizit abschaffen und für das kommunale Wahlrecht für Ausländerinnen
und Ausländer stimmen.
[….]
(Carolin Emcke 19.09.13)