Montag, 28. Mai 2012

Rent a Ratzinger





Irgendwann einmal war Sozialpolitik in Mode und wirkte richtig sympathisch.
Damit konnte man Wahlen gewinnen.
 Es reichte auch, wenn man sich nur einen sozialen Anstrich verpasste und in Wahrheit von unten nach oben umverteilte.
Ende der 1990 aber gewann in der VERöffentlichten Meinung der Neoliberalismus klar die Oberhand.
Plötzlich galt der Thatcherismus als Vorbild. Die eiserne Lady wurde dafür bewundert, daß sie den Gewerkschaften das Rückgrat gebrochen hatte und der angelsächsische Kapitalismus sich frei entfalten konnte. 
Der „deutsche Weg“ aus Mitbestimmung und Konsens war jetzt völlig unsexy. 
Friedrich Merz, der ein Buch mit dem programmatischen Titel „Mehr Kapitalismus wagen“ geschrieben hatte und unverhohlen die deutschen Gewerkschaften bekämpfte („Wenn man einen Sumpf austrocknen will, darf man nicht die Frösche fragen!“) stieg zu einem der beliebtesten Politiker auf und wurde CDU-Fraktionschef.

Angela Merkel redete sich in die Herzen der Politkommentatoren und steinreichen Verlagschefinnen, als sie auf dem berühmt-berüchtigten „Leipziger Parteitag“ von 2003 nichts weniger als den Abschied vom Solidarprinzip verkündete. 
Kopfpauschale und Ministeuern ließen die Großindustriellen frohlocken.

Den Wählern gefiel es. Umfragen zeigten, daß Hetze gegen die Ärmsten, gegen „Sozialschmarotzer“ bis zu 75% Zustimmung bekam.
 Hartzler waren auf einmal die Arbeitsscheuen, von denen jeder wußte, daß sie sich nur drücken wollten. Jeder hatte schon die TV-Berichte von den Faulpelzen gesehen, die man zum Spargelstechen geschickt hatte und dennoch nicht arbeiten wollten.
Es war die Zeit als Thilo Sarrazin als der eiskalte Finanzsenator mit seinen fortgesetzten Attacken gegen „Transferempfänger“ zum Liebling der Massen wurde.

Der Multimillionär rechnete ihnen vor, wie man mit ein paar Cent eine Mahlzeit zubereiten könnte und empfahl einen Pullover mehr anzuziehen, statt die Heizung aufzudrehen.
 Das gefiel dem Volk.
 Je mehr er auf die sozial Schwächsten eindrosch, desto populärer wurde er.

Und die neoliberale, stahlharte Reformerin von Leipzig 2003 wurde Bundeskanzlerin.
So ließen sich Mehrheiten erlangen.

Obwohl die SPD die Agenda 2010 durchboxte, wollte die Majorität der Wähler noch eine härtere, Markt- und Unternehmer-freundlichere Politik, was dann schließlich bei der Bundestagswahl 2009 in 15% für Guido Westerwelle mündete.

Ein Zeichen unserer Zeit ist aber die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen.
Die Abgehängten der Gesellschaft - sie heißen jetzt „Prekariat“ oder schlicht wieder „Unterschicht“ - neigen zwar zur politischen Apathie, aber in regional begrenztem Ausmaß kann durchaus ein Kümmerer und Zuhörer der „kleinen Leute“ populär werden.

Im einstigen Kohle-Revier NRW, welches mit Peer Steinbrück einen der überzeugtesten Agenda 2010er als Ministerpräsident hatte, überholte der einstige Zukunftsminister Kohls die SPD von links und propagierte die Vergangenheit. 

Keinen Sozialabbau mehr und für die harten neoliberalen Schnitte müsse Merkel erst einmal am selbsternannten Arbeiterführer Rüttgers vorbei.

Das gefiel den NRW’lern auch und nach gefühlten 5 Jahrhunderten roter Herrschaft an der Ruhr, erzielte der soziale Jürgen 2005 ein Rekordergebnis für die CDU.

Intensiv arbeitete er weiterhin daran das Etikett „Arbeiterführer Rüttgers“ zu behalten, welches ihm auch tatsächlich mit einer Mischung aus Spott und Bewunderung zugestanden wurde.

Nicht, daß er tatsächlich jemals Angela Merkel gestoppt hätte, aber er tat so, als ob er das soziale Gewissen der CDU wäre.

Im Wahlkampf 2010 brachen allerdings zwei Großkatastrophen über Rüttgers hinein. Und beide wurden durch Indiskretionen publik.

Zum einen drangen Interna aus der Staatskanzlei (vor allem an den Blog „Wir in NRW“), die belegten, daß Rüttgers gar nicht der nette Sozialonkel war, sondern ein cholerischer Arsch, der vor keiner Schmutzkampagne zurück schreckte.

Und noch schlimmer: Der angebliche Freund der kleinen Leute war käuflich. 
Für ein paar Myriaden Euro in die CDU-Wahlkampfkasse durften sich Unternehmer eine Stunde Zeit am Ohr der Ministerpräsidenten buchen.

Damit war die Glaubwürdigkeit atomisiert, die CDU brach ein und die Kraft-Ära begann.

Etwas sehr, sehr ähnliches spielt sich dieses Jahr auch im Vatikan ab.


„Vatileaks“ enthüllte nicht nur einen angeblichen Mordplan auf den Pontifex und wies erneut auf die mafiösen Finanzgebaren des Heiligen Stuhls hin, nein, Kammerdiener Gabriele fütterte mutmaßlich auch Gianluigi Nuzzi mit Quellen für seine beiden Vatikan-Bücher.

Gerade ist im Mailänder Verlag Chiarelettere das Buch "Sua Santità" (Seine Heiligkeit) mit dem Untertitel "Die Geheimpapiere von Benedikt XVI." erschienen. Ein Maulwurf hat dem Journalisten Gianluigi Nuzzi ein ganzes Dossier von Dokumenten zugespielt, die nicht nur Einblicke ins Innenleben des Regierungsalltags eines Papstes ermöglichen, sondern auch interne Konflikte oder diplomatische Hintergründe ausleuchten.
 […] Gianluigi Nuzzi, ehemaliger Mitarbeiter von Zeitungen wie dem konservativen Corriere della Sera und dem populistischen Libero, hatte bereits vor einigen Jahren in dem Buch "Vatikan AG" (auf Deutsch bei Econ) das wirtschaftliche Innenleben des Kirchenstaates analysiert.

Man erfährt, daß der holocaustleugnerophile Pontifex stinksauer über die Klarstellung der Bundeskanzlerin war, die ihn 2009 daran erinnert hatte den Holocaust nicht in Frage zu stellen. 
Rache-Ratzi ärgerte sich aber noch mehr darüber, daß sein deutscher Nuntius Jean-Claude Périsset gegenüber "dieser Meinungsäußerung von Frau Merkel" nicht viel aggressiver zurück geschlagen hatte.

Genau wie Jürgen Rüttgers, ist Ratzinger in Wahrheit eben nicht der nette mitfühlende Opi, sondern ein rachsüchtiger Herrscher, der keine Opposition duldet.

Die zweite Parallelität Razi-Rüttgi ist noch frappierender.

Auch der Papst läßt sich mieten. 
Sogar die Preise für eine Privataudienz - einige Zehntausend Euro - sind wie bei Rüttgers. 

Aber es ist viel eindrucksvoller, Benedikt XVI. oder seinem Sekretär einen Scheck zu schicken, wie es ein bekannter Mailänder Banker (100.000 Euro) machte - oder ein ebenso bekannter römischer Fernsehjournalist (10.000 Euro für "Almosen"), der denn auch gleich "Bruder Georg" fragte, ob er nun endlich eine Privataudienz bekäme. Auf dem im Buch veröffentlichten Faksimile des Schreibens kann man den Stempel mit dem Sichtvermerk sehen: "Visto dal Santo Padre, 24 Dic 2011". Sogar an Heiligabend muss der Heilige Vater sich mit solchen profanen Dingen beschäftigen.