Irgendwann
einmal war Sozialpolitik in Mode und wirkte richtig sympathisch.
Damit
konnte man Wahlen gewinnen.
Es reichte auch, wenn man sich nur einen sozialen
Anstrich verpasste und in Wahrheit von unten nach oben umverteilte.
Ende
der 1990 aber gewann in der VERöffentlichten Meinung der Neoliberalismus klar die
Oberhand.
Plötzlich
galt der Thatcherismus als Vorbild. Die eiserne Lady wurde dafür bewundert, daß
sie den Gewerkschaften das Rückgrat gebrochen hatte und der angelsächsische
Kapitalismus sich frei entfalten konnte.
Der „deutsche Weg“ aus Mitbestimmung
und Konsens war jetzt völlig unsexy.
Friedrich Merz, der ein Buch mit dem
programmatischen Titel „Mehr Kapitalismus wagen“ geschrieben hatte und
unverhohlen die deutschen Gewerkschaften bekämpfte („Wenn man einen Sumpf
austrocknen will, darf man nicht die Frösche fragen!“) stieg zu einem der
beliebtesten Politiker auf und wurde CDU-Fraktionschef.
Angela
Merkel redete sich in die Herzen der Politkommentatoren und steinreichen Verlagschefinnen, als sie auf dem berühmt-berüchtigten „Leipziger Parteitag“ von 2003 nichts
weniger als den Abschied vom Solidarprinzip verkündete.
Kopfpauschale und
Ministeuern ließen die Großindustriellen frohlocken.
Den
Wählern gefiel es. Umfragen zeigten, daß Hetze gegen die Ärmsten, gegen „Sozialschmarotzer“
bis zu 75% Zustimmung bekam.
Hartzler waren auf einmal die Arbeitsscheuen, von
denen jeder wußte, daß sie sich nur drücken wollten. Jeder hatte schon die
TV-Berichte von den Faulpelzen gesehen, die man zum Spargelstechen geschickt
hatte und dennoch nicht arbeiten wollten.
Es
war die Zeit als Thilo Sarrazin als der eiskalte Finanzsenator mit seinen
fortgesetzten Attacken gegen „Transferempfänger“ zum Liebling der Massen wurde.
Der
Multimillionär rechnete ihnen vor, wie man mit ein paar Cent eine Mahlzeit
zubereiten könnte und empfahl einen Pullover mehr anzuziehen, statt die Heizung
aufzudrehen.
Das gefiel dem Volk.
Je mehr er auf die sozial Schwächsten
eindrosch, desto populärer wurde er.
Und
die neoliberale, stahlharte Reformerin von Leipzig 2003 wurde Bundeskanzlerin.
So
ließen sich Mehrheiten erlangen.
Obwohl
die SPD die Agenda 2010 durchboxte, wollte die Majorität der Wähler noch eine
härtere, Markt- und Unternehmer-freundlichere Politik, was dann schließlich bei
der Bundestagswahl 2009 in 15% für Guido Westerwelle mündete.
Ein
Zeichen unserer Zeit ist aber die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen.
Die
Abgehängten der Gesellschaft - sie heißen jetzt „Prekariat“ oder schlicht
wieder „Unterschicht“ - neigen zwar zur politischen Apathie, aber in regional begrenztem
Ausmaß kann durchaus ein Kümmerer und Zuhörer der „kleinen Leute“ populär werden.
Im
einstigen Kohle-Revier NRW, welches mit Peer Steinbrück einen der
überzeugtesten Agenda 2010er als Ministerpräsident hatte, überholte der
einstige Zukunftsminister Kohls die SPD von links und propagierte die
Vergangenheit.
Keinen
Sozialabbau mehr und für die harten neoliberalen Schnitte müsse Merkel erst
einmal am selbsternannten Arbeiterführer Rüttgers vorbei.
Das
gefiel den NRW’lern auch und nach gefühlten 5 Jahrhunderten roter Herrschaft an
der Ruhr, erzielte der soziale Jürgen 2005 ein Rekordergebnis für die CDU.
Intensiv
arbeitete er weiterhin daran das Etikett „Arbeiterführer Rüttgers“ zu behalten,
welches ihm auch tatsächlich mit einer Mischung aus Spott und Bewunderung
zugestanden wurde.
Nicht,
daß er tatsächlich jemals Angela Merkel gestoppt hätte, aber er tat so, als ob
er das soziale Gewissen der CDU wäre.
Im
Wahlkampf 2010 brachen allerdings zwei Großkatastrophen über Rüttgers hinein. Und
beide wurden durch Indiskretionen publik.
Zum
einen drangen Interna aus der Staatskanzlei (vor allem an den Blog „Wir in NRW“),
die belegten, daß Rüttgers gar nicht der nette Sozialonkel war, sondern ein cholerischer Arsch, der vor keiner Schmutzkampagne zurück schreckte.
Und
noch schlimmer: Der angebliche Freund der kleinen Leute war käuflich.
Für ein
paar Myriaden Euro in die CDU-Wahlkampfkasse durften sich Unternehmer eine Stunde
Zeit am Ohr der Ministerpräsidenten buchen.
Damit
war die Glaubwürdigkeit atomisiert, die CDU brach ein und die Kraft-Ära begann.
Etwas
sehr, sehr ähnliches spielt sich dieses Jahr auch im Vatikan ab.
Auch
hier gibt es einen Informanten im innersten Zirkel, der gezielt Informationen aus dem Papstschlafzimmer ausplaudert, die dessen Glaubwürdigkeit
zerschmettern.
„Vatileaks“
enthüllte nicht nur einen angeblichen Mordplan auf den Pontifex und wies erneut
auf die mafiösen Finanzgebaren des Heiligen Stuhls hin, nein, Kammerdiener Gabriele
fütterte mutmaßlich auch Gianluigi Nuzzi mit Quellen für seine beiden
Vatikan-Bücher.
Gerade ist im Mailänder Verlag Chiarelettere das Buch "Sua Santità" (Seine Heiligkeit) mit dem Untertitel "Die Geheimpapiere von Benedikt XVI." erschienen. Ein Maulwurf hat dem Journalisten Gianluigi Nuzzi ein ganzes Dossier von Dokumenten zugespielt, die nicht nur Einblicke ins Innenleben des Regierungsalltags eines Papstes ermöglichen, sondern auch interne Konflikte oder diplomatische Hintergründe ausleuchten.[…] Gianluigi Nuzzi, ehemaliger Mitarbeiter von Zeitungen wie dem konservativen Corriere della Sera und dem populistischen Libero, hatte bereits vor einigen Jahren in dem Buch "Vatikan AG" (auf Deutsch bei Econ) das wirtschaftliche Innenleben des Kirchenstaates analysiert.
Man
erfährt, daß der holocaustleugnerophile Pontifex stinksauer über die
Klarstellung der Bundeskanzlerin war, die ihn 2009 daran erinnert hatte den
Holocaust nicht in Frage zu stellen.
Rache-Ratzi ärgerte sich aber noch mehr
darüber, daß sein deutscher Nuntius Jean-Claude Périsset gegenüber "dieser
Meinungsäußerung von Frau Merkel" nicht viel aggressiver zurück geschlagen
hatte.
Genau
wie Jürgen Rüttgers, ist Ratzinger in Wahrheit eben nicht der nette mitfühlende
Opi, sondern ein rachsüchtiger Herrscher, der keine Opposition duldet.
Die
zweite Parallelität Razi-Rüttgi ist noch frappierender.
Auch
der Papst läßt sich mieten.
Sogar die Preise für eine Privataudienz - einige
Zehntausend Euro - sind wie bei Rüttgers.
Aber es ist viel eindrucksvoller, Benedikt XVI. oder seinem Sekretär einen Scheck zu schicken, wie es ein bekannter Mailänder Banker (100.000 Euro) machte - oder ein ebenso bekannter römischer Fernsehjournalist (10.000 Euro für "Almosen"), der denn auch gleich "Bruder Georg" fragte, ob er nun endlich eine Privataudienz bekäme. Auf dem im Buch veröffentlichten Faksimile des Schreibens kann man den Stempel mit dem Sichtvermerk sehen: "Visto dal Santo Padre, 24 Dic 2011". Sogar an Heiligabend muss der Heilige Vater sich mit solchen profanen Dingen beschäftigen.