Freitag, 14. Februar 2020

Opferinszenierung ins Ekelhafte


Wenn man sich ausgerechnet kurz vor der Landtagswahl so richtig tief ins Braune geritten hat, hilft nur noch ein öffentliches Mea Culpa. Gibt man sich ordentlich zerknirscht, kann man darauf hoffen, daß die ehrliche Reue positiv angenommen wird.

In den USA funktioniert das wunderbar bei all den extrem homophoben religiösen Eiferern unter den GOP-Senatoren und TV-Predigern wie Ted Heggard, nachdem sie mit Koks und Strichjungen erwischt wurden:

Man tritt heulend mit der Ehefrau im Arm vor ein Pult mit Mikrofonen, erzählt ausführlich davon wie viel man gebetet habe und daß Gott ihnen verziehen habe.

Christian Lindner war nicht koksend mit einem Mann im Bett. Das wäre in Deutschland auch relativ unproblematisch, zumal sich Lindner nie homophob äußerte. Und mal ein paar Drogen zu nehmen, kann man durchaus politisch überleben, wie Michel Friedmann und Volker Beck beweisen.
Nein, Christian Lindner tat etwas gewaltig viel Schlimmeres!
Trotz eindringlicher Warnungen Tage vorher, gab er letztendlich das Go für den Pakt der Thüringer FDP mit dem Nazi Bernd Höcke.
Lindner war mitschuldig an dem Bild, das am nächsten Tag auf fast allen Titelbildern war: FDP-Ministerpräsident Kemmerich reicht AfD-Höcke die Hand.
Spätestens da hätte Lindner zurücktreten müssen.
Aber er machte es laufend schlimmer. Während selbst die konservativen Politiker Merkel, Söder, Ziemiak und AKK sofort begriffen welche Katastrophe angerichtet wurde, den Rücktritt Kemmerichs und Neuwahlen verlangten, eierte Linder vor der Presse rum, forderte SPD und Grüne auf mit AFDP-Ministerpräsident Kemmerich zusammen zu arbeiten.
Ein hochgradig hanebüchenes Ansinnen: Sollte nun Rotgrün die Nazi-Kooperation der 5%-FDP absichern?
Es ging aber weiter, noch Tage später, als schon Dutzende Sondersendungen ausgestrahlt, hunderte empörte Leitartikel erschienen und bundesweite Demonstrationen gegen die FDP stattgefunden hatten, verschlimmbesserte der Parteichef die Situation erneut, indem er die Katastrophen-Metapher von „Kemmerichs Übermannung“ als Erklärung heranzog.

[….] Im ersten Moment klang es fast, als würde Christian Lindner sein altes Konzept gefühlsbetonter Männlichkeit wieder herausholen, wie damals im Wahlkampf lässig mit T-Shirt und Dreitagebart auf dem Sofa. Thomas Kemmerich sei halt einfach "übermannt" gewesen von der Situation, erklärte der FDP-Chef, als Marietta Slomka ihn im "heute journal" am Abend nach der vergurkten Ministerpräsidentenwahl interviewte: [….] Wie verzweifelt die FDP sein muss, wird klar, wenn ihr als Lösung nur einfällt, die Legende von der eigenen Hilflosigkeit zu spinnen - nach über 24 Stunden Nachdenken: letzte Ausfahrt Ohnmacht. Und sich dann bezeichnenderweise ausgerechnet einen Begriff dafür aussucht, der diese These ad absurdum führt.
Denn "Übermannung" ist ein Terminus vom Schlachtfeld, erklärt schon Grimms Wörterbuch: Wenn die Mannstärke der Feinde das eigene Heer überrennt. Der einzige Moment aller Weltgeschichten, in dem es Männern als positiv ausgelegt wird, zu unterliegen. Außerdem, so Lindner in dem Slomka-Gespräch, habe die AfD "handstreichartig" für Kemmerich gestimmt – noch so ein Kriegsheldenmoment des Überrumpeltwerdens.
Schaut, will dieses Narrativ uns vormachen, ich bin wehrlos, ausgeliefert. Meinen Emotionen (Siegesdurst, Herrschsucht, Machttrunkenheit). Und den "anderen", sie haben mich überwältigt, mich gegen meinen Willen genommen. Die Horden der CDU und AfD gegen uns, die fünf Sitze starke FDP. Schaut, mein einziger Schutz ist ein wackeliger Backshop-Stehtisch für meine Pressekonferenz. Dass schon die Grimms notieren, "übermannen" stehe "euphemistisch" auch für Vergewaltigung, dreht diese Opferinszenierung ins Ekelhafte.
Es ist übrigens die gleiche FDP, für die Thomas Kemmerich mit seinem Glatze-und-Stiefel-Wahlkampf in Beton gegossene Männlichkeitsbilder inszenierte: der Bruce-Willis-Gladiator, der Versuch der ironischen Brechung mit dem militaristischen Nazi-Klischee. [….]

Das anhaltende Christian-Lindner-Debakel war eine einzige Variation des Projektes „Postenrettung“.
Kaum jemals klebte jemand so an seinem Stuhl wie der FDP-Chef.
Das wird umso frappierender, als inzwischen eine ganze Reihe weniger Schuldiger ihre Karriere beendeten.
Hirte, Kemmerich, Kramp-Karrenbauer, Kardinal Marx und jetzt Mohring – alle weg.

[….] Politische Ämter verlangen denen, die sie ausüben, viel ab. Ein Amtsverzicht ist ein Akt der Demut. Aber er dient nur dann wirklich der demokratischen Kultur, wenn er nachvollziehbare Gründe liefert, wenn er dem Amt hilft und nicht bloß dem Ego. Um so viel verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, braucht Politik mehr Ehrlichkeit und eine Fehlerkultur, die es zulässt, über Scheitern offen zu reden. Theresa May hatte die Größe, bei ihrem Rücktritt einzugestehen, dass sie "nicht fähig" gewesen sei, den Brexit zu liefern. [….]

Aber Lindner ist noch nicht mal bereit mit falschen Gründen zurückzutreten, geschweige denn aus den Richtigen.
Er klebt am Amt und tut nun zur Schadensbegrenzung das einzige, das wirklich nichts kostet und keinerlei Konsequenzen für ihn bedeutet:
Eine Entschuldigung vor dem Bundestag, als ob nichts gewesen wäre.

Seine Lieblingsstellvertretern Katja Suding, im Nebenberuf Hamburger FDP-Chefin und Bürgerschaftsabgeordnete, die zusammen mit ihrer Partei in der vergangenen Legislaturperiode 49 mal gemeinsam mit der AfD stimmte und sich 44 mal zu AfD-Anträgen enthielt, machte diesen erbärmlich konsequenzlosen Schritt nach, aber immerhin wortreich.

[….] „Wir haben damals als FDP den Versuch unternommen, die AfD als eine Partei, die im Parteienspektrum gewählt wurde, wahrzunehmen und zu gucken, was sind die Inhalte – genauso wie wir es mit den Linken machen, mit jeder anderen Partei. Rückblickend muss man sagen, nach dem, was wir jetzt auch sehen, was die AfD macht, wie sie die Demokratie nicht nur aushöhlen will, sondern zerstören will – würde ich nie, nie wieder machen!" [….]

Mama, ich will es auch nie, nie, nie wieder tun – willkommen in der FDP-Kindergartenversion von Landespolitik.

Selbst dieses Niveau unterbot Christian Lindner aber noch locker.

Zunächst betonte er, persönlich gar nicht wirklich verantwortlich zu sein.

[….] „Ja – aber wie gesagt: Ich bin nicht Mitglied des Thüringer Landtags. Ich kann nur mit der Krise umgehen wie wir alle. Ich kann mich nur namens der FDP insgesamt entschuldigen.“ [….]

Hier lügt Lindner gleich mehrfach. Natürlich ist er als FDP-Bundeschef politisch verantwortlich und er ist auch persönlich verantwortlich, weil er von AKK vorgewarnt war und seit Monaten Briefe der AfD öffentlich vorlagen, die genau diese Taktik ankündigten.
Insbesondere ist es aber gelogen, daß er nur die Entschuldigung aussprechen kann; er könnte schließlich auch endlich zurücktreten.

Lindner erreichte aber erstaunlicherweise eine weitere Verschlimmbesserung am Bundestagsrednerpult.

[…..] "Dafür entschuldige ich mich namens der Freien Demokraten." [….]

Morallehre für Grundschüler: Man kann sich niemals SELBST entschuldigen, sondern immer nur um Entschuldigung bitten. Es obliegt dem Geschädigten die Entschuldigung zu gewähren oder nicht.
Bei dieser erbärmlichen Formulierung ohne das persönliche Schuldeingeständnis, ohne persönliche Reue, mit dem vagen Hinweis „namens der FDP“, gewähre ich ihm jedenfalls keine Entschuldigung.