Montag, 2. März 2015

Neologismen - Teil IV


Letzte Woche hatte ich mal wieder die Gelegenheit privat mit einem Selfmade-Millionär zu sprechen. Er ist Unternehmer und steht Ende 80 immer noch jeden Tag voller Freude auf, um morgens als erstes im Geschäft zu sein.
Sowas gibt es.
Der Mann ist zudem sozial engagiert, betont bei jeder Gelegenheit, daß seine Angestellten das wichtigste Kapital sind und beklagt die gräßlichen Auswüchse des Turbo-Finanzkapitalismus, der ohne Moral Menschen und Ressourcen ausbeute.
Unternehmer, die in Insolvenz schlittern oder einfach erfolglos sind, haben seiner Ansicht nach zu 100% selbstschuld. Es gäbe kein Geschäftsfeld, bei dem man nicht erfolgreich sein könne. Es scheitere immer nur an Faulheit, Gier und unternehmerischen Fehlern. Wenn man sich richtig einsetze ginge alles.
Er können ohne lange nachzudenken 400 Geschäftsideen aufzählen, mit denen man ein florierendes Unternehmen gründen können – natürlich vorausgesetzt, man sei bereit sich richtig einzusetzen und sieben Tage die Woche um vier Uhr morgens aufzustehen.
Als er angefangen hätte, gab es die Begriffe „Überstunden“ oder „Urlaub“ gar nicht.
Da habe man mit großer Selbstverständlichkeit und Freude zehn Stunden am Tag durchgearbeitet und sei dann so lange geblieben bis alles erledigt gewesen sei.
Es wäre ihm und niemand anderen jemals eingefallen zu sagen „ach, am Samstag möchte ich lieber nicht kommen, weil ich mich dann mit meiner Freundin treffe!“
Heute hingegen wären die Menschen so dekadent und faul, daß sich extra eine eigene Bemutterungsindustrie gebildet habe.
Das sei eben das Perfide am Kapitalismus – alles werde ausgenutzt. Da kämen dann Ärzte, die sich extra Begriffe wie „Depression“ oder „Burn Out“ ausdächten, um den Menschen eine Ausrede für ihre Bequemlichkeit zu geben.

Ohne Ironie zu bemühen: Ich kann diese Sichtweise durchaus nachvollziehen.
Menschen der Flakhelfergeneration, die als Kind den totalen Zusammenbruch erlebten, sogar hungern mußten und dann alles daran setzten wieder auf die Beine zu kommen, können die Sorgen der heutigen Jugendlichen nicht verstehen.
Die Flakhelfergeneration wurde zu einem perfekten Zeitpunkt geboren: Während ihres gesamten Berufslebens ging es immer nur kontinuierlich aufwärts. Alles wurde immer besser, während in Europa so lange wie nie zuvor Frieden und Stabilität herrschte.
Es war keine Ignoranz, sondern es lag tatsächlich außerhalb der Vorstellungskraft sich über Dinge wie verprügelte Kinder in Christlichen Heimen, Vorhautbeschneidungen, Schwulenparagraphen, Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, Prügelstrafe in der Schule oder §218 Gedanken zu machen.
Man stimmte diesen vielen Restriktionen nicht unbedingt bewußt zu; sie waren so selbstverständlich, daß man gar nicht auf die Idee kam sie zu hinterfragen.

Der Luxus, den man sich peu à peu erarbeitete – die Waschmaschine, ein Kühlschrank, einen Fernseher, ein Restaurantbesuch, womöglich ein eigener VW-Käfer, eine Reise an die Ostsee oder später sogar nach Italien - machte das Leben schöner und komfortabler.
Er veränderte aber die Lebensbedingungen nicht fundamental. Es ging immer alles weiter seinen Gang.
Man absolvierte die Schule, bekam einen Ausbildungsplatz und anschließend blieb man 45 bei einer Firma. Das Gehalt wurde dabei kontinuierlich so erhöht, daß man es sich immer etwas gemütlicher machen konnte.

Die extremen Veränderungen unserer gesellschaftlichen Bedingungen sind noch recht neu. Eine Globalisierung, die ganze Industriezweige einfach verschwinden läßt, klimatische Veränderungen, Terrorgefahr, Internet – das sind Entwicklungen, die rasend schnell gehen und niemand unberührt lassen.

Das Internet macht grundsätzlich wie das Fernsehen Dumme dümmer und Kluge klüger.
Generell ist aber unser Zugang zu Informationen exponentiell gewachsen.

Ein 18-Jähriger in den 50er Jahren mußte sich zum Masturbieren noch umständlich von Muttern Kataloge mit Unterwäsche klauen und dann anhand kleiner Bilder, die einen nackten Frauenunterschenkel zeigten ganz viel Phantasie aufwenden.
Heute hat jeder 13-Jährige ungehindert jeder Zeit Zugriff auf drastischste Pornos jeder erdenklichen Spielart.
Zudem ist das Risiko erwischt zu werden insofern viel geringer, weil es höchstens peinlich ist. Die Zeiten, daß man dafür verprügelt oder beim Pastor gemeldet wird, sind vorbei.

Haben es also heutige Jugendliche nicht leichter?

Ja und Nein.
So bequem die onastische Entwicklung im Internetzeitalter sein mag; sie hat eben auch das Potential zu großer Verunsicherung und Ausbildung von Komplexen, weil ich viele Pubertierende fragen werden, ob sie den Vorgaben der professionellen Pornowelt wohl genügen werden.

Ein 18-Jähriger in den 50er Jahren war gar nicht so leicht zu erreichen. Man blieb in derselben Clique und Verabredungen erforderten eine komplizierte Logistik und Planung.
Heute hat jeder 13-Jährige ungehindert jeder Zeit Zugriff auf ein Smartphone und kann 24 Stunden pro Tag mit jedem auf der Welt in Kontakt treten. Es muß sich keiner mehr einsam fühlen; mit wenigen Klicks ist eine neue Peergroup von Gleichgesinnten gefunden.

Haben es also heutige Jugendliche nicht leichter?

Ja und Nein.
Internetkommunikation ist zweifellos ein Segen – insbesondere für die Außenseiter oder die Jugendlichen, die abseits von Städten wohnen.
Aber offenbar schafft das auch einen enormen Druck, öffnet Mobbing Tür und Tor, läßt einem womöglich die Realität ganz entgleiten und führt somit zu Aufmerksamkeitsabhängigkeiten. Kein Leben ohne Likes. Kein Sein ohne Selfie.

Die Liste ließe sich noch viel weiter führen.
So sehr unsere biologischen Bedürfnisse „ im Westen“ übererfüllt sein mögen – wir haben mehr als genug Nahrung, Kleidung, Freizeit und Freiheit – desto mehr Unsicherheiten tun sich auf.
Der Luxus dem engen Korsett aus Konventionen entfliehen zu können, nimmt einem gleichzeitig den Schutz und die Sicherheit diese Konventionen nicht zu hinterfragen.

Extraordinäre Amish erleben das, wenn sie nach ihrer „Zeit des Herumhüpfens“ entscheiden, ob sie sich taufen lassen und Amish werden möchten.
Natürlich verlockt es Internet und TV zu haben und sich eine andere Frisur machen zu können. Die Welt draußen ist so spannend.
Aber die Welt der Amish gibt mit all ihren teilweise sinnlosen Regeln und der penetranten Kontrolle durch die Gemeinschaft auch Sicherheit durch die Gruppe.
Wenn einer jungen Amish-Familie das Haus abbrennt und sie von eben auf jetzt alles verlieren, müssen sie nicht wie andere Amerikaner im Auto oder tent-cities vegetieren, sondern es dauert nur wenige Tage bis alle Amish der Umgebung mit ihrem Werkzeug anrücken, um Haus und Scheune größer und schöner als vorher wieder aufzubauen. Natürlich ohne Murren, ohne daß man sie demütig bitten oder bezahlen müsste.
Man muß sich nicht um Kindergartenplätze sorgen und die Oma auch nicht ins Heim abschieben, wenn sie gaga wird.

Die Jugendlichen und anderen faulen Säcke, die der eingangs geschilderte Unternehmer ob der Modeworte „Burn Out“ und „Depression“ auslachte, sind gewissermaßen ihrer Gemeinschaft beraubte Amish.
Ja, das eröffnet eine unendliche Fülle von Möglichkeiten, ist aber auch sehr verunsichernd.

Depressionen, Angststörungen und Stress-Erkrankungen sind real und eben keine Einbildung von Faulpelzen.
Das zeigt schon die hohe Mortalität von Depressionserkrankungen, die im Bereich von Hodenkrebs liegt.
Hunderttausende leiden so sehr, daß sie völlig arbeitsunfähig werden, Tausende sogar so extrem, daß sie nur noch den Suizid als Ausweg sehen.

Früher war alles besser. Ja, das stimmt. Aber früher war eben auch alles schlechter – je nach Perspektive.
Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Problemen.

Der Neologismus des Tages ist kein Witz, sondern sehr ernst gemeint. "Affluenza" ist ein geistiger Zustand, der es Jugendlichen unmöglich macht, die Konsequenzen ihrer Handlungen einzuschätzen, weil die Eltern ihnen das nie beigebracht haben.

Affluenza ist die Bezeichnung für die moralische Verderbtheit der Superreichen. Was nach Krankheit klingt, ist ein neues Phänomen, das vor allem "Rich Kids " betrifft. Sie leben den Traum, den andere träumen, sind aber vor dem Gefühl einer großen Leere nicht gefeit.
 [….]  Affluenza setzt sich aus den beiden Worten "affluence" (englisch für Wohlstand) und Influenza, der Grippe, zusammen. Das klingt nach Ansteckung und Gefahr. Und das scheint auch passend. Riskiert man einen Blick auf Instagram, das wortlose Bilder-Eldorado und Kommunikationsmittel heutiger Teenager im Internet, findet man schnell entsprechende Kanäle, die sich Millionen von Zugriffen erfreuen.
[….] "Wenn alles möglich und jeder Wunsch erreichbar ist, hat sehr schnell nichts mehr einen Wert, häufig nicht einmal mehr eine psychotherapeutische Sitzung", sagt [Psychologe Patrick Frottier]  aus eigener Erfahrung. Primär sei ja nicht der Reichtum, sondern der Umgang damit das eigentliche Problem.
Wenn alles möglich ist, endet Freiheit nämlich schnell in einer Beliebigkeit, die gerade für Teenager auf der Suche nach einer eigenen Identität zu Problemen führen kann. "Grenzen geben Sicherheit", sagt er, und Beliebigkeit verhindere das Entwickeln einer eigenen Identität, eigener Werte und damit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.
Ziel einer Psychotherapie sei es deshalb, das Konzept von Eigenverantwortung zu vermitteln. Am anderen Ende der Gesellschaftsskala, also bei den Kindern aus sozial und einkommensschwachen Schichten, gehe es, sagt Frottier, übrigens genau um dasselbe Ziel. Das, was Rich Kids als Beliebigkeit erleben, ist für arme Jugendliche das Fehlen von Möglichkeiten.
Die Konsequenz, so der Kinder- und Jugendpsychiater, bei Arm und Reich: die Verweigerung, Verantwortung zu erkennen und zu tragen. [….] Der britische Psychologe und Autor Oliver James betrachtet das Rich-Kids-Phänomen in einem größeren Kontext: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen zunehmender Affluenza und einer größer werdenden, materiellen Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaft", sagt er. Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, umso mehr sehnen Menschen Reichtum herbei. Wünsche, die die Unterhaltungsindustrie gerne erfüllt.
[….] "Verwahrlosung, ob durch Wohlstand oder nicht, hat mit mangelnder Zuwendung und emotional zu wenig sicheren Beziehungen in der frühen Kindheit zu tun", sagt [Psychologin Karin] Lebersorger und sieht in Bezug auf Affluenza noch eine Ursache: häufig wechselnde Betreuungspersonen wie etwa Aupairs oder Kindermädchen.
"Das wirkt sich auf die neurobiologische Entwicklung der Spiegelneuronen aus, ohne die später Empathiefähigkeit nur schwer möglich ist", so die Psychologin. Eltern, die durch Geschenke ihre Abwesenheit und unbewussten Schuldgefühle kompensieren, erzeugen bei den Beschenkten eine Vermischung von materiellen und emotionalen Werten. "Manche Kinder reagieren sensibel darauf."  [….]

Eine extreme Form der Affluenza, bzw der Verweigerung ist die von mir schon zuvor beschriebene Hikikomori.