Dienstag, 14. Februar 2017

Früher versus heute.


Das ist wohl so eine klassische Alterserscheinung. Irgendwann beginnt man sich über die „Jugend von heute“ zu wundern und stellt bedeutungsschwangere Vergleiche an, die letztlich darin münden der jungen Generation zu diagnostizieren es sich leicht zu machen. Sie hätten es leichter und müssten weniger leisten. Früher habe man sich mehr angestrengt und dennoch war „es“ früher alles besser. Zumindest gesitteter.

Stefan Zweig beschreibt in seiner „Welt von gestern“ (1942 – nach wie vor eins meiner absoluten Lieblingsbücher!) eindrucksvoll den sittlichen und sexuellen Wandel, der sich bei der Jugend der 30er Jahre verglichen mit Zweigs eigener Jugend zeigte.

Der aberwitzige Aufwand, der in gebildeten Schichten Ende des 19.  / Anfang des 20. Jahrhunderts getrieben wurde, um sich angezogen zu baden, wird erstklassig in Stefan Zweigs Meisterwerk „Die Welt von Gestern“ beschrieben. 

Ich empfehle wärmstens das Kapitel „Eros Matutinos“

Als Karikaturen belachen auch die naivsten Menschen von heute diese sonderbaren Gestalten von gestern - als unnatürlich, unbequem, unhygienisch, unpraktisch kostümierte Narren; sogar uns, die wir unsere Mütter und Tanten und Freundinnen in diesen absurden Roben noch gekannt haben, die wir selbst in unserer Knabenzeit ebenso lächerlich gewandet gingen, scheint es gespenstischer Traum, daß eine ganze Generation sich widerspruchslos solch einer stupiden Tracht unterwerfen konnte. Schon die Männermode der hohen steifen Kragen, der >Vatermörder<, die jede lockere Bewegung unmöglich machten, der schwarzen schweifwedelnden Bratenröcke und der an Ofenröhren erinnernden Zylinderhüte fordert zur Heiterkeit heraus, aber wie erst die >Dame< von einst in ihrer mühseligen und gewaltsamen, ihrer in jeder Einzelheit die Natur vergewaltigenden Aufmachung! In der Mitte des Körpers wie eine Wespe abgeschnürt durch ein Korsett aus Fischbein, den Unterkörper wiederum weit aufgebauscht zu einer riesigen Glocke, den Hals hoch verschlossen bis an das Kinn, die Füße bedeckt bis hart an die Zehen, das Haar mit unzähligen Löckchen und Schnecken und Flechten aufgetürmt unter einem majestätisch schwankenden Hutungetüm, die Hände selbst im heißesten Sommer in Handschuhe gestülpt, wirkt dies heute längst historische Wesen >Dame< trotz des Parfüms, das seine Nähe umwölkte, trotz des Schmucks, mit dem es beladen war, und der kostbarsten Spitzen, der Rüschen und Behänge als ein unseliges Wesen von bedauernswerter Hilflosigkeit. Auf den ersten Blick wird man gewahr, daß eine Frau, einmal in eine solche Toilette verpanzert wie ein Ritter in seine Rüstung, nicht mehr frei, schwunghaft und grazil sich bewegen konnte, daß jede Bewegung, jede Geste und in weiterer Auswirkung ihr ganzes Gehabe in solchem Kostüm künstlich, unnatürlich, widernatürlich werden mußte. Schon die bloße Aufmachung zur >Dame< - geschweige denn die gesellschaftliche Erziehung - das Anziehen und Ausziehen dieser Roben bedeutete eine umständliche Prozedur, die ohne fremde Hilfe gar nicht möglich war. Erst mußten hinten von der Taille bis zum Hals unzählige Haken und Ösen zugemacht werden, das Korsett mit aller Kraft der bedienenden Zofe zugezogen, das lange Haar - ich erinnere junge Leute daran, daß vor dreißig Jahren außer ein paar Dutzend russischer Studentinnen jede Frau Europas ihr Haar bis zu den Hüften entrollen konnte - von einer täglich berufenen Friseuse mit einer Legion von Haarnadeln, Spangen und Kämmen unter Zuhilfenahme von Brennschere und Lockenwicklern gekräuselt, gelegt, gebürstet, gestrichen, getürmt werden, ehe man sie mit den Zwiebelschalen von Unterröcken, Kamisolen, Jacken und Jäckchen so lange umbaute und gewandete, bis der letzte Rest ihrer fraulichen und persönlichen Formen völlig verschwunden war. Aber dieser Unsinn hatte seinen geheimen Sinn. Die Körperlinie einer Frau sollte durch diese Manipulationen so völlig verheimlicht werden. […]  

Natürlich leide ich auch unter diesem Syndrom, runzele oft die Stirn, wenn ich an ihren Smartphone klebende Teenager beobachte.

Früher war aber doch nicht alles besser.
Trump spricht von einem Allzeit-Hoch der US-Kriminalität und auch in Deutschland scheinen andauernd Kinder sexuell missbraucht oder entführt zu werden.
Wahr ist das aber nicht. Die Kriminalität auf Amerikas Straße sinkt seit den 1990er Jahren kontinuierlich.
Durch das Internet und die Boulevardmedien wird aber jeder einzelne Fall sofort bekannt und breitgetreten, so daß der Eindruck entsteht es passiere viel mehr – dabei wird nur mehr und schneller berichtet.

Im SPIEGEL gibt es die Rubrik „Früher war alles schlechter“, in der scheinbare aktuelle Verschlimmerungen aufgeklärt werden. Gerade erschien die 58. Folge.
Wie man sich täuschen kann!

Ich glaube, daß früher vieles anders war. Das kann man aber nicht so einfach in „positiv“ und negativ“ kategorisieren.
Natürlich sind Smartphone und Internet eine enorme Erleichterung des Lebens.
Natürlich grummele ich, wenn ich mitbekomme wie einfach Studenten von heute zu Hause mit ein paar Klicks Informationen zusammentragen, für die ich während meines Studiums Tage in der Bibliothek verbrachte.
Aber es gibt auch eine Kehrseite, wie wir alle wissen inzwischen: 24/7 online bei den sozialen Medien generiert gefährliche Informationsblasen, führt schon bei Teenagern massenhaft zu Stress und Burnout. Nie wurden so viele Psychopharmaka verschrieben.

Ich will nicht mehr ohne Internet leben; trauere aber gleichzeitig den schönen Zeiten ohne Internet hinterher.

Zum Schluß noch ein Einblick in meine Familiengeschichte, der die besseren/schlechteren früheren Zeiten vielleicht illustriert.

Meine Mutter wanderte 1965 in die USA aus, lernte dort meinen Vater kennen.
Deswegen bin ich Ami. Aber heute will ich kurz meine Vorfahren mütterlicherseits erwähnen.

Mein Opa wurde 1890 in Norddeutschland geboren. Er erbte von seinem Vater ein Geschäft, war also Kaufmann. 1912 bekam er seine erste Tochter; offensichtlich ungeplant – aber 1912 gab es eben weder Kondomautomaten an jeder Ecke, noch Antibabypillen.
Insgesamt wurden es drei Söhne und drei Töchter, von denen meine Mutter, Jahrgang 1938, die jüngste war.
Meine Großeltern gehörten also zu der Generation, die das Pech hatten als Erwachsene gleich zwei Weltkriege zu erleben. Beide von Deutschland angezettelten Kriege bedeuteten für meinen Opa nicht nur den finanziellen Ruin, sondern auch einen sehr persönlichen Verlust. Der älteste Bruder meiner Mutter starb als Kind kurz nach dem WK-I, weil keine Medikamente zu bekommen waren und der Zweitälteste starb im WK-II.
Zweimal die komplette Existenzgrundlage zu verlieren kann ich mir nicht mehr vorstellen. Wieso dann überhaupt noch weitermachen?
Schon als Kind, im ausgehenden 19-Jahrhundert wurde mein Opa zu Geschäftsreisen (überwiegend nach Süddeutschland und ins Baltikum) mitgenommen. In den 20ern und 30er Jahren nahm er die älteren Geschwister meiner Mutter mit, um ihnen zu zeigen was es außerhalb Deutschlands gibt.
Sobald es nach 1945 irgendwie ging, sparte sich mein Opa wieder einen VW-Käfer zusammen, lud immer mindestens zwei seiner Kinder auf den Rücksitz und fuhr los – nach Spanien, Italien, Frankreich.
Natürlich waren diese Reisen ungleich beschwerlicher als heute. Ohne die entsprechenden Autobahnen dauerten diese Fahrten mit dem kleinen Käfer ewig. Schicke Hotelzimmer konnte sich mein Opa nicht leisten und Airbnb war bekanntlich noch nicht erfunden.
Dafür waren die iberischen Küsten aber auch noch nicht mit Bettenburgen zugeballert. Man traf selten andere Touristen und wurde dafür umso herzlicher von den Eingeborenen begrüßt.
Diese Reisen machten einen so gewaltigen Eindruck auf meine Mutter und ihre Geschwister, daß sie bis an ihr Lebensende davon erzählten.
Die deutlich ältere Schwester meiner Mutter reiste in den 1950er Jahren als Erwachsene lange nach Australien und in die USA, während ihr Bruder mit Freunden in einem VW-Bus in Indien und Afrika unterwegs war.
Meine Mutter, das Kriegskind wurde unterdessen in die Schweiz auf eine Hauswirtschaftsschule geschickt. Erstens sollte sie Sprachen lernen und zweitens war es für meinen Opa selbstverständlich, daß nur sein einzig verbliebener Sohn eine höhere Schule besuchen sollte. Er erbte auch 100% des Geschäfts, obwohl zwei seiner Geschwister älter waren. Aber die hatten keinen Penis und für einen Mann des 19. Jahrhunderts stellte sich die Frage gar nicht, ob eine Tochter auch Kaufmann sein könnte.
Bildung und materielle Ressourcen erschienen meinem Opa offensichtlich als Verschwendung für seine Töchter. Wenn sie später einmal reich sein wollten, dann könnten sie ja reich heiraten, gab er ihnen als Ratschlag mit.
Ich bin heute davon überzeugt, daß diese Einstellung meiner Großeltern keineswegs böse gemeint war. Sie waren aber Produkte des 19. Jahrhunderts.
Da ging man so mit Töchtern um.
Hier also auch ein großer Unterschied zu heute: Meine Mutter hatte extrem minimierte Startchancen. Die enorme Bildung, die sie sich später aneignete, passierte autodidaktisch.
Was blieb ihr auch anderes übrig; zum Entsetzen meines Opas heirateten gleich zwei Töchter einen Künstler. Maler, also in den Augen meines Opas „brotlos“. Mit dem Reichtum wurde es also nichts.

Nach der Volksschule absolvierte meine Mutter eine Lehre. Mit 20 aber, schnappte sie sich den immer noch existierenden VW-Käfer ihres Vaters und wollte endlich auch wie ihre Geschwister allein, bzw mit einer Freundin reisen.

Ja, es stimmt, die 50er und 60er Jahren in Deutschland waren ungeheuer spießig. Es existiert eine anonyme Anzeige, die von der Polizei an meinen Opa weitergeleitet wurde, in der sich ein Kunde beklagte, daß das Frl. (meine Mutter) ein Rock trug, der nicht über die Knie reichte. Ihr Vater möge sie zur Raison bringen.
Es waren aber nicht alle Teens und Twens der Zeit Spießer. Im Gegenteil, es gab vielfach Eskapismus.

Meine Mutter guckte sich mit so gut wie keinem Geld in der Tasche die umliegenden europäischen Länder an, um dann Anfang 1961 mit einer Schulfreundin mit besagtem Käfer die Autoput hinunter zu fahren.
Ausführlich bereiste sie Jugoslawien, die Türkei, Anatolien, Syrien, den Libanon, Jordanien, Israel und Ägypten.

Mein Opa! Daß Töchter studieren oder gar ein Geschäft führen könnten, kam ihm zwar nicht in den Sinn, aber andererseits war er doch so liberal auch seine Jüngste für fast ein Jahr im Nahen Osten zu verschwinden erlaubte.

Ich habe meine Mutter oft gefragt, wie sie sich das leisten konnten, aber bis auf das Benzingeld brauchten sie kaum etwas, weil sie als zwei junge weiße Mädchen immer so auffielen, daß sie von irgendwelchen Einheimischen eingeladen wurden. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft des Orients.

Manchmal konnten meine Großeltern etwas Geld schicken.
Dann mietete sich meine Mutter ein Zimmer.
So zum Beispiel im Oktober 1961 in Beirut, der damals schönsten Stadt der Welt.
 


So beschwerlich das Reisen damals war, so einfach war es andererseits in anderen Aspekten – Gastfreundlichkeit, Sicherheit, Unberührtheit.

Anderes kommt mir heute auf schockierende Wiese vertraut vor.

Es war nicht einfach für meine Mutter nach Syrien einzureisen.
Immer wieder fuhr sie an die türkisch-syrische-Grenze, um es zu versuchen.


Als sie schließlich in Damaskus angekommen war, schreibt sie nach Hause welche Mühe sich die Syrer gemacht hatten, den Ausländern nicht das total zerstörte Aleppo zu zeigen; es hatte sich noch nicht von Kriegen und Pogromen erholt.


Eins steht fest, solche Reisen kann ich heute trotz Internet und Facebook und eines besseren Autos nicht mehr machen. Schon gar nicht mit meinem US-Reisepass.
Früher war alles besser.

Heute reisen Jugendliche lieber All Inclusive. Per Billigflieger in Ferienfabriken.
Das ist ungeheuer billig. Jeder reist jetzt. Es geht schnell und mühelos. Sprachen braucht man nicht zu erlernen. Alles geht auf Deutsch. Man trifft überall auf Deutsche, die sich zu Millionen ins Ausland begeben. Alles ist versichert, man ist kontinuierlich in Kontakt mit Zuhause, verfügt über EC- und Kreditkarte.
Den Schlafplatz spuckt das Klugtelefon aus und die Zimmer sind klimatisiert.
Die Eltern müssen sich keine Sorgen machen, wenn die Kleinen in Lloret de Mar oder auf Mallorca auf den Putz hauen.

Eigenartig, trotz meiner Familiengeschichte, habe ich gar keine Lust mehr zu reisen.