Dienstag, 12. September 2023

Das föderale Großversagen

Die Langsamkeit der politischen Entscheidungen im föderalen Deutschland ist schon seit Dekaden als extremer Standortnachteil bekannt.

Vor einem Vierteljahrhundert, im Dezember 1998, wollte die frisch ins Amt gekommene Schröder-Regierung die verworrenen und verschachtelten Bund-Länder-Beziehungen entwirren. Zunächst funkte aber das Verfassungsgericht mit Neuregelungen zum Länderfinanzausgleich dazwischen. Schließlich, 2003 setzten Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung ein.

Die beiden Vorsitzenden Stoiber und Müntefering waren gut gewählt. Beide verfügten über Parteivorsitz-Autorität, waren schon lange im Geschäft. Einer Union, einer SPD, einer stand für Bundes-, einer für Länderinteressen. Nach 14 Monaten, Ende 2004, scheiterte die Müntefering/Stoiber-Kommission an den verbissen auf ihren Pfründen beharrenden konservativen Ministerpräsidenten.

2005 kollabierte die Schröder-Regierung, aber auf Druck der SPD wurde in der Merkel-Groko das Thema erneut aufgegriffen. Nun habe man die Block-übergreifenden Mehrheiten, dachten sich die Optimisten.

Da Merkel nicht Schröder war, verlor sich das Projekt im Klein-Klein, es wurden abstruse Kompromisse gemacht. Zwar waren ab 2006/2007 tatsächlich weniger Bundesgesetze auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen, aber dafür übertrug der Bund fatalerweise viel zu viele Kompetenzen auf die Länder.

[….] Die Bildungspolitik ist weitgehend Ländersache. Beim Bund verbleiben lediglich die Kompetenzen zur Regelung der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse − von der die Länder abweichen können − sowie jene für den betrieblichen Teil der beruflichen Bildung im dualen System. Die bisherige Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau geht ebenso in die Autonomie der Länder über wie die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung. Damit zieht sich der Bund aus der Finanzierung des Hochschulbaus und aus den direkten Finanzhilfen im Schulbereich zurück. Die diesbezüglichen Bestimmungen werden häufig mit dem Schlagwort „Kooperationsverbot“ belegt. [….] Durch den weitgehenden Rückzug des Bundes aus der Bildungspolitik (70 % der Kosten für den Hochschulbau sollen in Zukunft die Länder tragen) und seiner Abkehr von einheitlicher Beamtenbesoldung und einheitlichem Ladenschluss entledige sich der Bund seiner sozialen Verpflichtungen und Hoheitsbefugnisse und zwinge so die Länder in einen Wettbewerb um die niedrigsten Kosten, unter anderem zu Lasten von Studenten, Forschungseinrichtungen und Beamten. [….]

(Wikipedia)

Statt eines eher Kooperativen, wurde in der Bildungspolitik ein  konkurrenzorientierter Föderalismus, in den sich der Bund nicht einmischen darf, ersonnen. Ein katastrophales Ergebnis, das für Schüler und Studenten eine klare Verschlimmbesserung bedeutete. Merkel war es, wie üblich, völlig egal. Hauptsache, es gab irgendeinen Kompromiss, mit dem sie sich schmücken konnte.

Knapp zwei Dekaden später wurschteln also bei Schulthemen weiterhin 16 Landes-Bildungsminister in der unverbindlichen Kultusministerkonferenz (KMK) vor sich hin, dürfen aber keinesfalls Geld vom Bund bekommen.

Leidtragende sind die Jugendlichen, die Ökonomie und Deutschlands Zukunft.

Als Industrie- und Export-orientiertes Hochlohnland ohne Bodenschätze, ist es für Deutschland extrem wichtig, auf gut gebildete Menschen zu setzen. Nur die Qualifikation der Deutschen, kann im internationalen Wettbewerb einen Vorteil erschaffen. Erreicht wird aber das Gegenteil: 2023 gibt es Millionen Verblödete und massiven Fachkräftemangel. Was für ein unfassbares Versagen der föderalen deutschen Bildungspolitik!

[…]  Kategorie eins. Das ist die niedrigste Stufe bei der PIAAC-Studie der OECD. Vor einem halben Jahr ist diese kleine Schwester der PISA-Studie erschienen. Oder vielmehr die große Schwester: Es ging um die 16- bis 65-Jährigen. Etwa 18 Prozent der Bürger im erwerbsfähigen Alter sind demnach "funktionale Analphabeten". Sie können nicht oder kaum lesen und schreiben, ein paar Worte vielleicht, ihre eigene Unterschrift, bestenfalls Kurztexte. Fast neun Millionen Bürger, die Bevölkerung von Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt zusammen.  Doch die Reaktion war eine andere als bei der PISA-Studie, die Anfang des Jahrtausends den berühmten PISA-Schock ausgelöst hat. Es gab ein PIAAC-Schöckchen, kurzzeitige Aufregung. [….]

(Johann Osel, 03.05.14)

Fast 20 Prozent der Erwerbstätigen können nicht, oder kaum Lesen und Schreiben.

Viele davon haben mit Schulabschluss. Das ist Deutschland, Millionen bekommen Abschlusszeugnisse, ohne Lesen und Schreiben zu können.


[….]  6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, die Sache ist nur die: Die allerwenigsten von ihnen gehen in einen Grundbildungskurs. Die allermeisten wurschteln sich durch den Alltag, irgendwie. Und die Frage ist, wie man jemanden findet, der vielleicht gar nicht gefunden werden will. [….]

(Süddeutsche Zeitung, 07.09.2023)

Jede internationale Studie zeigt: Die Probleme in der deutschen Bildungspolitik werden größer und nicht kleiner. Durch Totalversagen der Landesregierungen und Desinteresse der Bundespolitiker wie Bettina Stark-Watzinger oder Karliczeck, vergrößern wir täglich das Heer der Dummis, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, während immer mehr Branchen verzweifelt im Ausland nach Arbeitskräften fahnden. Nur daß immer weniger Menschen nach Deutschland kommen wollen, weil zu viele Deutsche garstig und xenophob sind. Kinder von Migranten berichten immer wieder ihren fassungslosen Eltern, wie sie im Haus von Mitschülern vor dem Abendessen gebeten werden zu gehen, weil man doch bitte ohne sie essen wolle. Wir kennen keine Gastfreundschaft und Willkommenskultur.

Wenn aber keine qualifizierten Ausländer in Deutschland arbeiten möchten, sollten die von der AfD „Biodeutschen“ Genannten, befähigt werden.  Das wird aber nichts.

[….] Die aktuelle OECD-Studie »Bildung auf einen Blick«, die an diesem Dienstag vorgestellt wurde, zeigt: Die Schere zwischen formal top und gar nicht Qualifizierten öffnet sich in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen in Deutschland immer weiter. Die Forscher sprechen von einer »Bildungspolarisierung«: So gibt es deutlich mehr junge Menschen mit Hochschulabschluss. Ihr Anteil ist seit dem Jahr 2015 von 30 auf 37 Prozent gestiegen. Gleichzeitig bleiben mehr junge Menschen ohne Berufsausbildung: Ihr Anteil ist im gleichen Zeitraum von 13 auf 16 Prozent angewachsen. Deutschland liegt mit dieser Quote zwei Prozentpunkte über dem OECD-Durchschnitt und nimmt eine unrühmliche Sonderrolle ein. Es ist neben der Tschechischen Republik eins von nur zwei OECD-Ländern, in denen der Anteil junger Menschen, die weder die Hochschulreife noch einen Berufsabschluss haben, größer geworden ist. »Diese Entwicklung ist besorgniserregend«, sagte Nicola Brandt, Leiterin der OECD-Sektion in Berlin. In vielen OECD-Ländern sei der Trend gegenläufig.  [….] Jens Brandenburg, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, mahnte: Wenn fast jeder Sechste nicht über entsprechende Mindestqualifikationen verfüge, betreffe dies fast 1,7 Millionen junge Menschen. Diese würden angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland dringend als Arbeitskräfte benötigt. [….]

(SPON, 12.09.2023)

Das Gute ist; wenn man den Blick in die Zukunft richtet, muss man sich gar nicht erst Hoffnung machen, sondern hat die beruhigende Gewissheit, daß es noch viel schlimmer kommen wird, weil kein politisches Interesse an Bildung besteht und niemand mehr Lehrer werden will.

Schon jetzt fehlen 40.000 bis 50.000 Lehrer in Deutschland, so daß es zu massiven Unterrichtsausfall kommt. Die verbliebenen Lehrer müssen sich aber nicht nur um zusätzliche 200.000 Ukrainische Kinder kümmern, sondern gehören überproportional zur Boomer-Generation und werden demnächst ihr Berufsleben beenden, ohne daß es Nachwuchs in den Lehrerzimmern gibt. Zu allem Übel ist die Lehrer-Ausbildung in Deutschland so antiquiert und desillusionierend, daß Lehramtsstudenten nach ihren Abschlüssen in Deutschland lieber direkt ins Ausland wechseln. Ändern lässt sich das Desaster nicht; siehe oben: Die Föderalismus-Reform aus der Merkel-Zeit hat es unmöglich gemacht.


[….] Dass monatelang Unterricht ausfällt, auch in wichtigen Fächern, ist keine Ausnahme. An vielen Schulen gehört es inzwischen zum Alltag. [….] Der Lehrkräftemangel ist längst eines der gravierendsten Probleme des Landes, er verschärft die Bildungskrise und hat dramatische Folgen für die ganze Gesellschaft. [….] Schon jetzt scheitern die Schulen zu oft an der Vermittlung grundlegender Fähigkeiten. Bei jeder großen Bildungsstudie der vergangenen Jahre, sei es deutschlandweit oder international, sind die durchschnittlichen Leistungen der Schüler in Deutschland gesunken. Wie Wissenschaftler betonen, liegt das nicht allein an den Schulschließungen während der Pandemie. Zuletzt hat die Iglu-Studie gezeigt, dass jeder vierte Viertklässler einfache Texte nicht versteht. Das ist ein Skandal, wird von der Politik aber ebenso tatenlos zur Kenntnis genommen wie der Umstand, dass jedes Jahr etwa 50 000 Jugendliche ohne Abschluss - und ohne Chance auf eine Berufsausbildung - die Schule verlassen.

Mit zu wenig Personal werden sich die Schulen schwertun, daran etwas zu ändern. Mit zu wenig Personal werden sie auch an anderen Herausforderungen scheitern. [….] Um den Lehrkräftemangel in den Griff zu kriegen, gibt es keine einfachen und vor allem keine schnellen Lösungen. An vielen Stellen muss sich etwas bewegen, an Schulen, Universitäten, besonders dringend aber in den Köpfen der verantwortlichen Politiker. Bisher plant jedes Bundesland für sich, wie viele Lehrkräfte es braucht und ausbildet. Wie gut das funktioniert, zeigt der aktuelle Engpass - vor dem Experten übrigens seit zwei Jahrzehnten warnen. Trotzdem wollen die Kultusminister sich nicht zusammentun. Im Gegenteil, seit Anfang des Jahres wird offen um Lehrer aus anderen Bundesländern geworben, besonders aggressiv in Bayern. Diese Ellenbogenmentalität ist verantwortungslos. [….]

(Lilith Volkert, SZ, 11.09.2023)