Samstag, 15. September 2018

Vom Fluch des Erfolgs


Das war schon aufregend und großartig für die Generation, die als Kinder und Jugendliche in der Nazi-Zeit aufwuchsen und dann als junge Erwachsene in den 1950ern erstmals die ganz großen Freiheiten erlebten.
In Deutschland selbst war es vermutlich nicht so toll jugendlich zu sein, sofern man nicht genügend spießig und angepasst war. Frauenrechte und individuelle Freiheiten waren noch nicht erfunden. Die konservative CDU-Herrschaft unterdrückte Individualität, sperrt Schwule ein, erlaubte Frauen nicht für sich selbst zu entscheiden und wer unehelich geboren wurde, verschwand gleich in einem christlichen Folterlager.
Auch mit dem persönlichen Luxus war es nicht weit her.
Lebensmittel waren teuer, es gab nur saisonales Gemüse und Früchte. Kaum einer besaß Fernseher oder Telefon. Bis zur Erfindung von Computern, Internet und Klugtelefonen sollte es noch Jahrzehnte dauern.
Aber Deutschland war nicht abgeriegelt. Endlich konnte man erforschen was außerhalb Deutschlands geschah.
Große Intellektuelle wie Helmut Schmidt und Marion Dönhoff, die das „dritte Reich“ als Erwachsene unternahmen nach 1945 ausgedehnte Reisen. Der aus kleinen Verhältnissen stammende Schmidt hielt sich 1950 in Minnesota auf, lernte dort fließend Englisch. Für Gräfin Dönhoff war die Welt schon seit Generationen ihr Zuhause und so verbrachte sie lange Zeit erst einmal in Afrika.

Aber auch meine Elterngeneration, die sich die damals horrenden Preise für Flugreisen nicht leisten konnte, ließ sich etwas einfallen.
Opa war mit seinen Kindern in einem VW-Käfer bereits Monate in Frankreich, Spanien und Portugal herumgefahren. Als meine Mutter alt genug war, erkundete sie in demselben Auto den Südosten.

(….) Ja, es stimmt, die 50er und 60er Jahren in Deutschland waren ungeheuer spießig. Es existiert eine anonyme Anzeige, die von der Polizei an meinen Opa weitergeleitet wurde, in der sich ein Kunde beklagte, daß das Frl. (meine Mutter) ein Rock trug, der nicht über die Knie reichte. Ihr Vater möge sie zur Raison bringen.
Es waren aber nicht alle Teens und Twens der Zeit Spießer. Im Gegenteil, es gab vielfach Eskapismus.

Meine Mutter guckte sich mit so gut wie keinem Geld in der Tasche die umliegenden europäischen Länder an, um dann Anfang 1961 mit einer Schulfreundin mit besagtem Käfer die Autoput hinunter zu fahren.
Ausführlich bereiste sie Jugoslawien, die Türkei, Anatolien, Syrien, den Libanon, Jordanien, Israel und Ägypten.

Mein Opa! Daß Töchter studieren oder gar ein Geschäft führen könnten, kam ihm zwar nicht in den Sinn, aber andererseits war er doch so liberal auch seine Jüngste für fast ein Jahr im Nahen Osten zu verschwinden erlaubte. (….)

Es gab so viel zu entdecken, wo noch nie einfache Touristen gewesen waren, schon gar nicht allein reisende junge Frauen im Auto.

Wie unvergleichlich einfach und billig solche Reisen heute sind!
Deswegen werden sie ja auch von einer Million mal mehr Menschen unternommen. Beschwerlichkeiten gibt es nicht mehr. Man bucht pauschal, ist in wenigen Stunden da, lebt billig und komfortabel in All-inclusive-resorts, kollidiert nicht mehr mit anderen Währungen/Sprachen/Kulturen, bekommt zum Frühstück deutsche Brötchen und Schwarzbrot. BILD-Zeitung und RTL.
Die spanischen Küsten, die türkische Riviera haben einen gewaltigen ökonomischen Aufschwung hinter sich. 50 Jahre rasante Bautätigkeit haben alle Strände mit Betonburgen zugestellt.
Reisen boomte über Jahrzehnte kontinuierlich. Selbst Terrorismus hält den gemeinen Teutonen nicht davon ab, seine Wampe möglichst zweimal im Jahr in die Sonne eines südeuropäischen Billigresorts zu halten.
Kostet ja fast nichts und man hat üblicherweise sechs Wochen Urlaub im Jahr.

Wer aber reisen möchte, um etwas zu entdecken, hat Pech gehabt. Alle europäischen Länder sind zu Tode erschlossen. Überall wimmelt es von Touristen und professioneller Tourismus-Industrie.
Man muss schon sehr weit fliegen und lange recherchieren, um etwas weniger überfüllte Ecken der Welt zu finden. Aber eigentlich verbietet sich das auch, weil man durch das Bereisen von Geheimtipps auch diese letzten Refugien zerstört.
Davon mal abgesehen sind Fliegen und Autofahren unter dem klimatisch-ökologischen Aspekt ohnehin nicht mehr zu rechtfertigen.
Also besser zu Hause bleiben. Oder in den Zug steigen und halbwegs in der Nähe bleiben. Holland. Ostsee. Oder Sachsen vielleicht. Da dürfte es zunehmend leerer werden.
Der Ferntourismus ist eine derartige Erfolgsgeschichte, daß Reisen heute zur Klimapest und Massenveranstaltung geworden ist.
Da ist es nur folgerichtig, daß sich der degenerierte Teutone heutzutage mit Vorliebe auf 100% künstliche Kreuzfahrtschiffe begibt, um auf 250 m Länge zusammengepfercht mit 6000 anderen dicken Deutschen professionell bespaßt zu werden und sich durch die All-You-Can-Eat-Angebote zu fressen, während die Schiffs-Dieselaggregate so viel Abgase wie eine 300.000-Einwohnerstadt produzieren.

Ich sehe nur zwei Vorteile an der Massen-Kreuzfahrererei: Die Menschenmassen bleiben den herkömmlichen Touristenzielen erspart und die Lebensmüden können dezent den Küblböck machen.

Anderes Beispiel: Das coole, kaputte, kreative Berlin der 1970er und 1980er Jahre.
Diese nicht lebensfähige Insel am Tropf Westdeutschlands mit den Zweite-Klasse-Abgeordneten ohne Stimmrecht im Bundestag war ein zerfallendes Kuriosum.
Als ich begann Berlin zu bereisen staunte ich über den mangelnden Komfort. Die Freunde in meinem Alter, die dorthin gezogen waren, um sich dem Wehrdienst zu entziehen, lebten zum großen Teil in Wohnungen ohne Badezimmer und mit Kohleöfen. Ich konnte es nicht fassen wie die Luft der Stadt in den eiskalten Winternächten der frühen 1980er roch, wenn eine Millionen Kohleöfen in Gang waren und von drüben die typischen Zweitackter-Trabbi-Abgase rüberschwappten. Wohnen ohne Badezimmer? Das kannte ich aus Hamburg gar nicht.
Ob dieser heruntergerockten Zustände war allerdings alles unglaublich billig.
Das Wohnen, das Saufen, das Bahnfahren.
Ausschlafen, irgendwo günstig frühstücken, die Einschußlöcher an der gegenüberliegenden Häuserfassade angucken und in den Tag reingammeln war allerdings auch eine angemessene Tagesbeschäftigung, da nachts so ungeheuer viel los war in Berlin.
Und nach wenigen Aufenthalten in der Frontstadt hatte man auch Kontakt zu einer dieser typischen Riesen-WGs aus ehemaligen Architekturstudenten in einem besetzten Haus hergestellt. Die bauten sich gerne große Badezimmer aus. Logisch, denn das war Mangelware.
Ich kannte damals ein paar Typen in einem riesigen 5-Stöckigen Altbau in der Silbersteinstraße. Vorderhaus und Hinterhaus. Komplett besetzt. Wenn ich mich recht erinnere gab es mindestens drei funktionierende Badezimmer mit richtig tollen Duschen, die heißes Wasser mit viel Wasserdruck lieferten.
OK, für mich als spießigen Hanseaten war es etwas eigenartig, daß das große schwarz geflieste Bad im EG des Vorderhauses ein Durchgangszimmer zur großen Gemeinschaftsküche war und das Klo auf einem kleinen Podest mitten im Raum stand. Man wollte eben die bisherigen Strukturen aufbrechen und coram publico kacken.
Ich glaube, das letzte Mal wohnte ich Ende 1989 dort, als die ganze Stadt klickerte, weil vier Millionen Mauerspechte ihre Andenken aus dem antifaschistischen Schutzwall hämmerten. Plötzlich brach die Welt in die Exklave hinein und die stinkigen Trabbis kamen einem unangenehm nah.
Das arme, sexy Berlin existierte noch weiter. Das merkten erst die osteuropäischen Auswanderer (Wladimir Kaminer), dann die Amis, die ab 2000 vor GWB flüchteten und feststellten, daß man als Künstler in Berlin ein Atelier für ein Hundertstel der Miete in New York bekam und außerdem Nippel und Penisse malen durfte, ohne zensiert zu werden.
Man durfte ich in Parks nackt machen und im Fernsehen „Fuck“ sagen, ohne überbeept zu werden.
Auch Israelische Auswanderer kamen, denen Paris und London zu teuer geworden waren.
So arm ist Berlin jetzt nicht mehr. Der Senat geriert Haushaltsüberschüsse, saniert und modernisiert. Es geht wirtschaftlich rasant aufwärts. Startups und immer mehr Touristen fluten die Stadt.
Leider ist Berlin auch nicht mehr sexy. Alle Fassaden sind verputzt und der ganze große Standortvorteil, die billigen Mieten durch den massenhaften Leerstand, ist Geschichte. Die Wohnungspreise sind so rasant angestiegen, daß sie fast schon Hamburger Niveau erreichen. Vorbei die Zeiten als ich meine Berliner Freunde herzlich auslachte, wenn sie mir ihre Nettokaltmiete nannten.
Berlin erreicht mit 35.000 EURO Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner nur die Hälfte des Hamburger BIP/Einwohner von 65.000 EURO im Jahr
Umso schlimmer, wenn die Berliner Durchschnittsmieten aus dem Bestand um neun Euro/qm liegen. In Hamburg sind es mit gut 11 Euro/qm nur rund zwei Euro mehr – bei doppelter Kaufkraft.
Vorbei die Zeiten, als zwei Studenten mit lausigen Nebenjobs ausgebreitet auf 120 qm in Neukölln lebten.
Auch Berlin ist Opfer seines Erfolges.

In Hamburg stehen wir vor ähnlichen Problemen – auf einer höheren Ebene.
Die hervorragende Wirtschaftspolitik des SPD-Senats führte zu einem derartigen Boom, daß trotz nie dagewesener Bautätigkeit enormer Wohnungsmangel entstanden ist.
Wir haben nahezu Vollbeschäftigung und sind das am stärksten wachsende Bundesland Deutschlands.

[….] Hamburg wächst und wächst. Die Hansestadt hat 2017 im Verhältnis zur Einwohnerzahl die größte Bevölkerungszunahme aller 16 Bundesländer verzeichnet. Mehr als 20.600 Einwohner kamen binnen eines Jahres dazu, das entspricht einem Plus in Höhe von 1,1 Prozent [….] Bundesweit stieg die Einwohnerzahl nur um 0,3 Prozent – auf insgesamt 82,8 Millionen. [….]
(Abendblatt, 15.09.18)

Alle kommen nach Hamburg, weil hier Arbeitskräfte gesucht werden und gut bezahlt wird. Die Stadt platzt aus alle Nähten, es wird nah- und nachverdichtet.
Kaum ein freies Plätzchen, auf dem nicht Häuser hochgezogen werden. Gentrifizierung extrem. Kaum einer erinnert sich noch daran, daß klassische Arbeiterstadtteile wie Barmbek noch vor 15 Jahren „bähbäh“ waren.
Schluss mit der Ruhe.