Samstag, 7. Dezember 2024

Zeitlupeneskalation

In meinem Greisenalter hat man diese alten Freunde aus Schulzeiten, bei denen man sich nur einmal im Jahr zum Geburtstag meldet, gemeinsam kurz durchdekliniert, ob es in den vergangenen 12 Monaten private Veränderungen gab und schließlich seinem Pessimismus über die Lage der Welt freien Lauf lässt. Nirgends sind Hoffnungsschimmer zu erkennen, ständig kommen neue, unlösbare Dramen hinzu, man hat das Vertrauen in die Wähler und die Problemlösungskompetenz der politischen Generation verloren. Man wird beim Gedanken an GenZ und GenAlpha noch frustrierter. Nicht belastbar, hedonistisch, eskapistisch, ungebildet, unkonzentriert, oberflächlich ist die Jugend.

Spätestens an diesem Punkt kommt die Frage auf, ob diese Perspektive der typische altersentsprechende Kulturpessimismus ist.
Haben nicht unsere Eltern genauso gedacht, als wir Teenager waren und erst aus dem Haus gingen, nachdem wir uns eine Dose Gard-Extrastarkfestigend in die Haare gesprüht hatten und Neue Deutsche Welle hörten? Da-da-da-ich-lieb-dich-nicht-du-liebst-mich-nicht-da-da-da war offenkundig auch keine Sternstunde deutscher Hochkultur. Als wir plötzlich alles als „geil“ bezeichneten?

Oder ist der pessimistische Blick meiner Generation im Jahr 2024 fundamental anders, als vor vier Dekaden?

Die Antwort lautet: Beides!

Jugendmoden, Jugendsprache, jugendlicher Musikgeschmack haben die Vorgängergeneration meistens erschreckt und waren auch genauso gemeint: Abgrenzung zu den Eltern. Ob Elvis-Tollen in den 1950ern, Miniröcke in den 1960ern, Vokuhilas und Schlaghosen in den 1970er – vor meiner 80er Jahre Jugend gab es ähnlich schlimme modische Ausfälle, wie in den anschließenden Jahrzehnten, als ich mich vor Tattoos, Piercings, Deutsch-Repp, Vollbart in Kombination mit penibel enthaarten Körpern gruselte.

Ich darf heute verstört über die, in meinen Ohren, grausame Jugendsprache sein. Genau das möchte die Jugend. Deswegen spreche ich auch anders, als mein Opa.

Es gibt aber mindestens zwei Mega-Entwicklungen, die sich nicht mit dem üblichen Dekadenwandel erklären lassen. Einerseits Internet/Socialmedia und andererseits der Klimawandel. Das sind fundamentale Zeitenwenden, die meines Erachtens echten Pessimismus rechtfertigen, weil sie das Zusammenleben der Menschen zunehmend unmöglich machen. Beide sind unumkehrbar.

Menschen leben nun in ihren eigenen subjektiven Fake-Realitäten, werden daher immer radikaler, wenden sich von demokratischen, solidarischen Prinzipien ab, lassen sich manipulieren.

Die Flacherdler, Covidioten, Aluhüte, Trumpisten, AfD-Wähler, Klimawandelleugner, Chemtrailer, Reichsbürger, Identitären, Rechtsradikalen lassen sich nie mehr einfangen. Im Gegenteil, ungeniert springen CDUCSUFDP auf die Züge auf, rennen zu Hetzplattformen wie NIUS und füttern den anti-humanitären Extremismus.

Wie auch der Klimawandel , kommt die Socialmediasierung nicht überraschend. Davor wird seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten gewarnt; dringender Handlungsbedarf angemahnt. Aber anders als „zu meiner Zeit“, als dringend notwendige Kurswechsel, zwar auch lange Debatten und Kämpfe auslösten – aber am Ende auch erfolgreich vollzogen wurden, gehen wir heute rückwärts.

Die Kämpfe meiner Jugend hingegen gewann man meistens irgendwann: Verbot von bleihaltigem Benzin. Katalysatorpflicht. Weltweites FCKS-Verbot. Ende der Prügeljagd auf Robbenbabys. Ende der Delphinmorde beim Thunfischfang. Legalisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe. Einführung von Airbags und Anschnallpflicht. Ausstieg aus der Atomkraft. Schengen-Freizügigkeit. Rauchverbote. Verbot von Dünnsäureverklappung in der Nordsee.

In all diesen Fällen waren auch erst Mehrheiten dagegen. Aber es gab noch die „Macht des Faktischen“. Es war möglich, mit Fakten zu argumentieren und so peu à peu immer mehr Leute ins Boot zu holen.

Das geht heute nicht mehr. Impfungen, Wärmepumpen, Elektroautos, Schluß mit Homöopathie als Kassenleistung, sind in Demokratien kaum noch umsetzbar, weil zu viele Bürger hermetisch abgeriegelt in ihren braunen Info-Blasen hocken und von Scharfmachern bei kleinsten Veränderungen ihrer Lebensgewohnheiten in die völlige Eskalation getrieben werden.

Der klassische Citoyen kann nur noch resigniert zugucken, wie die Orbáns, Trumps, Putins, Melonis, Merzens, Bibis übernehmen. Wie Klima- und Umweltschutz einfach abgeschafft werden.

Wir als Gesellschaft sehen achselzuckend zu, wie die Giga-Konflikte eskalieren. Syrien, Jemen, Sudan, Israel, Ukraine.

Wie die extremistischen Autokraten ihre Agenda durchprügeln. Wie die einst befriedeten Konflikte wieder aufreißen.

Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen. Was mich erschreckt, ist nicht die Zerstörungskraft der Bombe, sondern die Explosionskraft des menschlichen Herzens zum Bösen.

(Albert Einstein)

Die jungen Generationen sind zu schwach und zu müde, um sich dagegen zu stellen.

Und so schliddern wir langsam aber sicher in einen dritten Weltkrieg. Danach wird es duster.

[….] Russland kämpft in der Ukraine mit Waffen aus Iran und Soldaten aus Nordkorea. Peking unterstützt Moskau, und chinesische Schiffe zerstören EU-Infrastruktur in der Ostsee. In Europa fragt man sich, ob der Krieg nicht längst zu etwas Furchterregendem eskaliert ist. [….] Ist der Krieg in der Ukraine noch ein regionaler Konflikt, oder hat er sich nicht in Wahrheit längst zu einem Weltkrieg ausgewachsen, gemäß der historischen Nomenklatur dem Dritten? [….] Vielleicht sei es noch nicht ganz so weit, sagt ein Diplomat in Brüssel. „Aber man kann schon das Gefühl haben, zumindest in einer Art Vorkriegszeit zu leben. Als seien wir wieder in den Jahren 1912/13, als die Balkankriege stattgefunden haben“ – die Vorboten des großen europäischen Gemetzels, das dann 1914 begann. Das ist keine besonders erfreuliche Feststellung. [….] mit einem simplen Regionalkonflikt hat der Krieg auch nicht mehr viel zu tun. Die Front verläuft zwar im Osten der Ukraine, dort findet der Großteil des Tötens und Sterbens statt. Aber Kiew wird sowohl von der Nato als auch der EU umfassend militärisch und finanziell unterstützt. Das heißt: Gut dreißig Staaten aus Nordamerika und Europa – darunter die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien – sind auf ukrainischer Seite an dem Krieg beteiligt, sie liefern Ausrüstung, Waffen, Munition und geben Geld. Ohne diese Hilfe wären der ukrainische Staat und seine Armee längst kollabiert.

Auf der russischen Seite, die ebenfalls über jede Menge Atomwaffen verfügt, sieht es ähnlich aus. Moskau bekommt Militärdrohnen aus Iran und Artilleriegranaten aus Nordkorea, das dortige Regime hat zudem Tausende Soldaten an die Front bei Kursk geschickt. Am wichtigsten ist für Russland aber die Unterstützung durch China. Peking kauft Russland Rohstoffe ab, ermöglicht die Umgehung der westlichen Sanktionen und liefert selbst verbotene Güter. „Es ist völlig klar, dass Russland diesen Krieg ohne China so nicht führen könnte“, sagt ein europäischer Diplomat.

In der Ukraine habe es bisher zwar keine „vertikale Eskalation hin zu einem großen, nuklearen Dritten Weltkrieg gegeben“, sagt die Sicherheitsexpertin Minna Ålander von Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. Aber es habe eine „schleichende horizontale Eskalation“ stattgefunden – immer mehr Länder sind verstrickt. Einen Grund dafür sieht Ålander darin, dass der Westen ein „falsches Eskalationsmanagement“ betrieben habe: Aus Angst vor Russlands Atomwaffen wurde die Ukraine zu zögerlich militärisch unterstützt, sodass andere Akteure wie China ermutigt worden seien, sich einzumischen. Der Ukrainekrieg sei damit vielleicht nicht der Dritte Weltkrieg, sagt Ålander, aber doch so etwas wie ein dritter Weltkrieg.

Es ist vor allem das Bündnis zwischen Moskau und Peking – ergänzt um die Helfershelfer Teheran und Pjöngjang –, die Kallas und Rutte meinen, wenn sie davon reden, der Ukrainekrieg sei „global“ geworden. [….]

(Hubert Wetzels, 07.12.2024)