Freitag, 22. November 2013

Berlin, Berlin!



Der neue Bundestag arbeitet zwar nicht, obwohl schon zwei Monate seit der Bundestagswahl vergangen sind, aber das neue Parlament hat durchaus seine sympathischen Seiten. Es glänzt nämlich durch die Abwesenheit einiger der schlimmsten Politbrechmittel: Kein Geis, kein Brüderle, kein Thierse.

Letzter war wegen Religiotismus im Endstadium, fortschreitender Bösartigkeit und massiver Faktenallergie zum „Jahresendhonk“ erkoren worden.

Der Pöbler aus Berlin verabschiedet sich aus dem Jahr 2012, indem er als Apologet der Nächstenliebe noch mal ordentlich über die Zugezogenen herzieht.

Alles voller Schwaben in Thierses Kiez; das kann er auch nicht ab.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat das alltägliche Zusammenleben mit zugezogenen Schwaben in dem Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg als mitunter "strapaziös" bezeichnet. "Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind – und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche".
[…] Thierse konkretisierte, er ärgere sich, wenn er etwa beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gebe, sondern Wecken. "Da sage ich: In Berlin sagt man Schrippen, daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen."  […] Ebenso störe es ihn, wenn ihm in Geschäften "Pflaumendatschi" angeboten würden. "Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen", sagte Thierse der Zeitung. Angesichts dieser Zustände werde er "wirklich zum Verteidiger des berlinerischen Deutsch."

Es ist an der Zeit, daß Thierse sich als Kreuznet-Autor outet.

Muß er sich mit den Xenophoben gemein machen?

In meiner Partei verursacht er mir inzwischen schwere Magengeschwüre.
Die „Schwaben“ (dazu zählen in Berlin alle nicht Eingeborenen vom Kieler bis zum Rosenheimer) sind wenig amused über den keifenden Katholiken. […..]

Womöglich gibt es eine Erklärung für Thierses Geisteszustand.
Er, der überall in Deutschland die Christlichen Kirchen erblühen sieht, lebt ausgerechnet mitten in einer Stadt, die so offensichtlich nicht vom christlichen Leben dominiert ist.
Thierses Vorgesetzte gruseln sich gar sehr.

Berlin ist nach Worten des Präsidenten des Päpstlichen Kulturrats, Gianfranco Kardinal Ravasi (Foto), in religiösen Dingen «fast so etwas wie eine Wüste». Das Christentum befinde sich in der deutschen Hauptstadt «wirklich in der Defensive», sagte der Kardinal im Interview mit der Tageszeitung «Die Welt». Berlin gehöre «zu den Städten in Europa, in denen die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten ist«, so Ravasi. Dabei sei es »üblich geworden, sich auf die vorletzten Fragen zu konzentrieren«. Er selbst wolle hingegen bei einem Dialogforum dort grundsätzliche Fragen erörtern, etwa »nach Leben und Tod, nach der Wahrheit, nach der Bioethik«.
[….]  Ravasi nannte im Gespräch mit der »Welt« das Christentum die europäische »Muttersprache« auch für diejenigen, die es ablehnten. Ohne Christentum seien auch Nietzsche und Voltaire nicht zu verstehen, sagte er unter Bezug auf den Lyriker T. S. Eliot. »Wenn wir diese Muttersprache verlernen, dann verlieren wir unsere Identität«, sagte Ravasi. »Wir haben heute keine klare kulturelle Identität mehr.«

Doofe Sache mit der Säkularisierung.
Die Menschheit wird immer urbaner und damit verschwindet die Religion.
So denkt sich das jedenfalls resignierend der Europäische Christ.
Wahr ist es allerdings nicht. Außer in Europa werden die Megacities sogar immer religiöser. Dort ist allerdings auch das religiotische Angebot attraktiver. Aber was will man mit einer konservativen Altherrenkirche à la RKK-Berlin?

Aus der Erfahrung der westlichen Industrialisierung heraus hatte sich in der Stadtforschung die Säkularisierung als Moderne-Indikator etabliert. Religiös geprägte Städte wie Rio, Istanbul oder Lagos standen deshalb lange im Ruf, den Schritt in die Gegenwart noch vor sich haben.
Ende des 20. Jahrhunderts legten die wirtschaftlichen Wachstumsraten der jeweiligen Länder jedoch den Verdacht nahe, dass Modernisierung vielleicht doch nicht in jedem Fall ein Säkularisierungsprozess ist, wie auch Georg Simmel angenommen hatte. Der Ausgangswert war falsch: Die frühen Soziologen hatten die säkulare Großstadt Berlin zum Standard der modernen Stadt erhoben, dabei war Berlin immer ein Sonderfall: Bis heute gilt es als am wenigsten religiöse Großstadt des Planeten. In Kairo hingegen hat sich die Bevölkerung in den letzten 40 Jahren verdoppelt, die Zahl der Moscheen jedoch vervierfacht.
Erst als Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu übersehen war, dass die Megacities in den Schwellenländern ihren rasanten Bevölkerungszuwachs entschieden anders organisierten als von den ehemaligen Kolonialherren verordnet, holten die westlichen Urbanisten die Notizhefte heraus und fingen an mitzuschreiben.
Am Wochenende wurde bei einer Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt das Buch 'Global Prayers - Contemporary Manifestations of the Religious in the City' diskutiert, der Abschlussbericht des gleichnamigen Forschungsprojektes, das sich vorgenommen hatte, den blinden Fleck der zeitgenössischen Urbanistik zu beseitigen: die Religion.
 (SZ vom 21.11.2013)

Dann forscht mal schön, liebe Urbanistiker in Berlin.
Dort in der Terra Incognita dürftet ihr allerdings wenig Anschauungsunterricht genießen.
Der Berliner ist mit anderen Dingen beschäftigt, für die es andernorts die Religion bedarf:
ER pflegt sein „wir sind besser als die“-Gefühl, in dem er Zugereisten grundsätzlich den gestreckten Mittelfinger zeigt.

'Haut ab' - so empfängt man Touristen in Berlin. [….]
An einem noch klaren Herbstmorgen, in der Rykestraße mit ihren breiten Bürgersteigen und dem flüchtigen Duft aus einem asiatischen Restaurant in der Luft, beginnt der Kleinkrieg. Völlig unerwartet.
Eine Gruppe von zehn, zwölf Menschen - Journalisten, Politiker, Künstler, einige von ihnen aus Deutschland, die anderen aus Israel - gehen mit einem Stadtplaner das Pflaster hinunter. Sie sind zu einer deutsch-israelischen Konferenz nach Berlin gekommen und lassen sich erklären, wie sich Prenzlauer Berg verändert hat. So wie das so vielen Gruppen aus Spanien, Italien und Griechenland erklärt wird - und nein, um diese Frage gleich zu beantworten, an diesem Morgen hat all das, was nun passiert, nichts damit zu tun, dass es auch ein paar Israelis sind, die sich die Rykestraße zeigen lassen. Sie sind: 'Touristen'. Allein deshalb werden sie verachtet. Sie sollen sich schleichen, wo immer sie auch herkommen, und wenn nur West-Berlin ihre Heimat ist, auch das ist hier ja irgendwie schlimm.
Die Jungs und Mädchen, die ein bisschen betrunken auf einem Boule-Platz an der Rykestraße wie spielende Löwenjunge lauern, sie richten sich auf zum Revierkampf, als die Gruppe der Berlin-Gäste an ihren Parkbänken vorbeizieht. Sie pöbeln gegen die, die sie für Fremde halten, machen sich wichtig, schubsen und wollen die Menschen, die sich für Berlin interessieren, aus Berlin vertreiben. Weil die eben Touristen sind. Was an diesem schönen Morgen in Prenzlauer Berg passiert, ist lächerlich. Und leider abstoßend.
'Haut ab.' Unvorstellbar in New York und London, oder?
Einige Zeit später kann sich Ares Kalandides, der Stadtführer und Stadtplaner, der mit den Gästen an den Pöblern vorbeizog, immer noch nicht beruhigen. Er wohnt hier, gleich um die Ecke der Rykestraße, und er sagt: 'Es war so, als ob ich abends nach Hause komme, und da sitzt einer in meinem Wohnzimmer und beschimpft mich.' So hat es ihn zusammenfahren lassen, und: 'Ich fand es bedrohlich.'
[….] Er sagt: 'Es gibt ein Klima in Berlin, das es erlaubt, Touristen grundsätzlich zu beschimpfen, das ist salonfähig, und die jungen Leute an der Rykestraße, die leicht angetrunkenen Zwanzigjährigen, haben das kollektive Unterbewusstsein ausgedrückt. So einfach ist das.'
Schwierig, Weltstadt zu sein, wenn man die Welt nicht mal zu Besuch haben will.
[….] Zu diesem Spiel gehört auch, dass im Frühjahr Spätzle auf Käthe Kollwitz geworfen wurden, auf das Denkmal auf dem Platz, der ihren Namen trägt. Manche kannten die Künstlerin, die Bildhauerin, ja damals noch, sie wohnte hier mit ihrem Mann, einem Armenarzt. Thierses alter Nachbar zum Beispiel, der den schönen Namen Herr Schätzchen trug, hatte sie noch erlebt, und erzählte Thierse von Kollwitz.
 (Jochen Arntz, SZ vom 22.11.2013)