Sonntag, 19. Februar 2023

Ukrainischer Braindrain

Eine der erstaunlichsten Zahlen zum Fachkräftemangel, der gerade die deutsche Wirtschaft abwürgt, lautet „2/3“.

Zwei Drittel der Pfleger, die gekündigt haben, mögen den Beruf und würden morgen wieder anfangen, wenn die Träger der Pflegeeinrichtungen – weitüberwiegend Kirchen – nicht so grauenvolle Arbeitsbedingungen böten.

Es ist ein Totalversagen der Arbeitgeber, die ihre Angestellten dazu treiben, in Scharen zu kündigen und damit ihr eigenes Geschäftsmodell abwürgen.

Man nagele mich auf keinen genauen Prozentsatz fest. Die Uni Bremen ermittelte 2021 ein Potential von 170.000 Pflegefachkräften, die wieder einsteigen könnten.  Die gewerkschaftsnahe HBS sieht noch wesentliche größere Zahlen.

[….] Mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte stünden in Deutschland durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung – sofern sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern. Das ergibt die neue Studie „Ich pflege wieder, wenn…“. Die Untersuchung macht auf Basis einer großen bundesweiten Befragung mehrere Modellrechnungen auf und rechnet das Potenzial für alle aufstockungswilligen Teilzeit-Pflegefachkräfte sowie erstmals auch für Beschäftigte in der Pflege hoch, die ihrem Beruf in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben und sich eine Rückkehr vorstellen können. So ergibt sich ein rechnerisches Potenzial von 300.000 Pflegekräften in Vollzeit bei sehr vorsichtiger Kalkulation, in einem optimistischen Szenario sogar von bis zu 660.000 Vollzeitkräften. Mehr als 80 Prozent dieses Potenzials beruht auf der Rückkehr „ausgestiegener“ Fachkräfte. An der Online-Befragung haben im vergangenen Jahr rund 12.700 „ausgestiegene“ sowie in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte teilgenommen. Die Studie baut auf einer Bremer Pilotstudie auf und ist Ergebnis einer Kooperation der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer im Saarland und des Instituts Arbeit und Technik (IAT), Westfälische Hochschule in Gelsenkirchen. […]

(Hans Böckler Stiftung, 22.05.2022)

Wenn Friseure, Restaurantchefs oder Logistiker nur so mickrige Löhne bieten, daß selbst für Doppelverdiener keine Wohnungsmiete in der Stadt zu bezahlen ist, muss man von Ausbeutung sprechen. Insbesondere, wenn der Job auch noch so anstrengend ist, daß die Angestellten in Burnout und Verzweiflung getrieben werden. Man darf das nicht über einen Kamm scheren; sicher gibt es auch Betriebe mit kleinen Gewinnmargen, die sich keine Vervielfachung der Lohnkosten leisten können. Aber wenn man die explodierende Gewinne der Großunternehmen betrachtet und die reichsten 10% der Bevölkerung so schnell noch reicher werden, gibt es offensichtlich durchaus die Möglichkeit, seine Mitarbeiter besser zu behandeln.

Die Robert Lindner GmbH („Butter Lindner“) existiert seit 70 Jahren, beschäftigt 800 Mitarbeiter, betreibt 38 Filialen in Hamburg und Berlin an den exklusivsten Lagen. Angela Merkel ist Stammkundin. Lindner ist irrsinnig teuer, aber auch extrem gut. Zum Glück bin ich Single und muss nicht für mehrere Leute einkaufen; also konnte ich ab und zu dort einkehren. Bis Ende 2021 die für mich nächste Filiale zu meinem größten Bedauern für immer schloss. Aus Personalmangel. Selbstverständlich kenne ich die Geschäftszahlen nicht, aber ich habe 22 Jahre beobachtet, daß immer Kunden im Laden waren und abends alles ausverkauft war. Ich spekuliere also, wenn ich sehr skeptisch bin, daß es so einem Unternehmen nicht möglich sein soll, ihren Verkäufern so ein Gehalt zu zahlen, daß sich jemand für den Job finden lässt.

Arbeitskräfte total auszubeuten, mag aus Sicht einiger Arbeitgeber, ein wunderbares Geschäftsmodell sein, um möglichst viel Reibach zu machen. So kann man Milliardengewinne an die Shareholder ausschütten. Den von den Angestellten erwirtschafteten Mehrwert, bekommen also diejenigen, die nicht arbeiten, sondern einfach nur besitzen. Aber das funktioniert nur, so lange es Arbeitsplatzmangel gibt. Plus ein paar Jahre, die es dauert, bis die unterbezahlten Arbeiter bemerken, wie wertvoll sie geworden sind. Wenn sich dieser Erkenntnisprozess, beispielsweise durch eine Pandemie, beschleunigt, stellen die bisher von ihren Chefs angebrüllten Kellner fest, daß sie auch einen viel ruhigeren Job zu viel zivileren Zeiten mit netterem Umgangston und mehr Gehalt bekommen.

Oder zuvor wie Dreck behandelte Angestellte bleiben in ihrer Branche, lassen sich aber, beispielsweise als Freelancer oder über Zeitarbeit, erheblich besser bezahlen.

Die Krankenhausträger – Kirchen und Multimilliardäre wie Asklepios-Betreiber Bernd Broermann – sind sehr schlechte Unternehmer.

Sie tricksen arglistig, um die gesetzlichen Vorgaben zur Mindestbezahlung zu unterbieten.

(….) Der Konzern drückt seinen Pflegern den Hals sogar noch mehr zu, indem er den ohnehin schon völlig überlasteten Pflegern nun auch noch die Krankentransporte innerhalb der riesigen Kliniken aufbürdet.

[….] Die Pflege-Profis bei Asklepios sind in Sorge: Ab Januar sollen die Patiententransporte von Station zu Station nicht mehr von Hilfskräften aus den Dienstleistungsgesellschaften ausgeführt werden, sondern von qualifizierten Pflegeassistenten oder Pflegehelfern. Examinierte Krankenpfleger befürchten, dass die Transporte angesichts des Personalnotstands am Ende auf sie zurückfallen – zu Lasten der Patienten. „Wir wissen nicht, wie das noch zu schaffen sein soll“, erklärt Claudia Nest, Pflegekraft mit mehrjähriger Erfahrung in Notaufnahmen.. „Wie sollen wir dann die Leute noch auf die Stationen transportieren? Oder zu speziellen Untersuchungen?“ [….]

(Mopo, 01.01.2023)

Wie kann auf seine irre und menschenfeindliche Idee, zu Lasten von Krankenschwestern und Patienten kommen?

Die Antwort ist wenig überraschend und beinhaltet mal wieder die Stichworte „Geldgier“ und „CDU-Politiker“.

Jens Spahns „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ erlaubt es, pflegerische Leistungen in bestimmten Fällen aus der Fallpauschalen-Abrechnung zu nehmen und darüber hinaus von den Krankenkassen, bzw Privatzahlern finanziert zu werden. Aber nur Leistungen der Pfleger. Nicht die der Reinigungskräfte, der Küchenmannschaft oder eben der besonders schlecht von Subunternehmern bezahlten Patiententransporteure. Indem Asklepios all diese Aufgaben nun auch noch den Pflegern aufhalst, kann Broermann mehr abkassieren. Pfleger und Krankenschwestern zahlen die Zeche. (….)

(Gesundheitsgeschäft, 03.01.2023)

Diese Unternehmer behandeln aber nicht nur ihre Mitarbeiter so schlecht, daß sie in Scharen kündigen, sondern drücken sich auch noch um die teure Ausbildung.

[….] 965 der 1.942 Krankenhäuser in Deutschland haben im Jahr 2017 Pflegefach­kräfte ausgebildet. Das sind weniger als 50 Prozent, wie aus der Antwort des Bundes­ge­sundheitsministeriums auf eine schriftliche Anfrage der pflegepolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Bun­destag, Pia Zimmermann, hervorgeht. Die Zahlen stammen aus der Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamts. Dabei wurden an 199 Ausbildungsstätten Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger sowie an 914 Ausbildungsstätten Gesundheits- und Krankenpfleger ausgebildet. Die Gesamtzahl der Ausbildungsplätze für diese beiden Berufsgruppen lag bei 80.285. […]

(Ärzteblatt, 12.08.2019)

Schlechte Arbeitsbedingungen, mieses Gehalt und keinen Nachwuchs ausbilden  - die langfristigen Konsequenzen liegen auf der Hand:

[….] Für Deutschland sehen die Zahlen nicht anders aus: Berufe in der Pflege und im Klinikbereich gelten als extrem unattraktiv, der Fachkräftemangel ist hoch. Vor Ausbruch von Corona prognostizierten Experten des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in einem Gutachten ("Fachkräftebedarf im Gesundheits- und Sozialwesen"), dass im Jahr 2030 die Nachfrage nach Fachkräften im Gesundheits- und Sozialwesen mit 4,9 Millionen Vollkräften um 1,3 Millionen Vollkräfte höher liegen wird als das verfügbare Angebot (Worst-Case-Szenario). Nach einer Analyse von PWC fehlen aktuell im Gesundheitswesen annähernd 56.000 Ärzte und gut 140.000 nichtärztliche Fachkräfte, die Personallücke bis 2030 schätzt das Beratungsunternehmen etwas kleiner ein als das Worst-Case-Szenario des RWI, aber immerhin auch auf eine Million.  [….]

(Haufe, 14.04.21)

Im Moment haben die deutschen Arbeitgeber noch Glück. Sie profitieren vom Braindrain der ärmeren Nachbarländer. Sollen doch Griechenland, Spanien oder Portugal die teuren Ausbildungen finanzieren – die Deutschen nehmen dann die fertigen Fachkräfte. Das ist unmoralisch und nicht nachhaltig. Der Braindrain funktioniert allerdings nicht so gut, wie es sein könnte, da die meisten Unternehmer zu doof sind, adäquat für sich zu werben. Sie hängen immer noch dem Irrglauben an, Deutschland wäre für alle anderen Menschen das gelobte Land, so daß die Arbeitswilligen von ganz allein hineinströmen, wenn man nur kurz die Grenze öffnet.

1,1 Millionen Ukrainer hatten allerdings nicht den Luxus, sich in Ruhe zu überlegen, ob sie ihr Land verlassen und wohin es ihnen am liebsten wäre. Sie fliehen um ihr Leben und boosten damit, wieder einmal, die deutsche Ökonomie. Schon 2015 hatte Deutschland wirtschaftlich von den Flüchtlingen profitiert, weil erst mehr Nachfrage und Arbeitsplätze generiert wurden, dann willige Arbeitnehmer auftauchten.

Das wiederholt sich jetzt.

[….] Ukraine-Flüchtlinge entlasten Arbeitsmarkt

[….] Gut ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben aus dem Land Geflüchtete den deutschen Arbeitsmarkt spürbar entlastet. Dies meldet die Bundesagentur für Arbeit.

Schon jetzt seien seit Beginn des Krieges rund 65.000 Ukrainerinnen und Ukrainer mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt als vor Beginn der Invasion, sagte Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, der Deutschen Presse-Agentur in Nürnberg. Zudem seien rund 21.000 Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit in Minijobs tätig. Auch das diene der Bekämpfung des Personalmangels in der deutschen Wirtschaft. "Der deutsche Arbeitsmarkt ist aufnahmefähig", sagte Terzenbach. [….] Es werde erwartet, dass die Zahl der Beschäftigten aus der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten deutlich steige - nämlich dann, wenn die Frauen und Männer die Integrations- und Berufssprachkurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge absolviert hätten. […]

(Tagesschau, 19.02.2023)

Viele Deutsche, CDU, Merz, Wegner, AfD, BILD, CSU und Maaßen sind entweder zu doof, um zu begreifen, wie sehr wir auf Zuwanderung angewiesen sind – oder noch schlimmer; sie hetzen wider besseres Wissens xenophob daher, um wie die CDU in Berlin bei Wahlen zu reüssieren.

Erschreckend viele Deutschen plädieren immer noch für Abschottung.

Mit der Grenzen-dicht-Einstellung outet man sich natürlich als mieser Charakter. Aber man schadet auch der Wirtschaft, schreckt Migranten ab, macht Deutschland damit als Arbeitsland unattraktiver und schadet damit der Ökonomie noch mehr.